www.wikidata.de-de.nina.az
Der Materialismusstreit war eine in der Mitte des 19 Jahrhunderts gefuhrte Kontroverse um die weltanschaulichen Konsequenzen der Naturwissenschaften Beeinflusst durch die methodologische Erneuerung der Biologie und den Niedergang der idealistischen Philosophie wurde in den 1840er Jahren ein Materialismus formuliert der den Menschen naturwissenschaftlich zu erklaren beanspruchte Im Zentrum der Kontroversen stand die Frage ob die Ergebnisse der Naturwissenschaften mit dem Konzept einer immateriellen Seele eines personalen Gottes und eines freien Willens vereinbar sind Zudem konzentrierte sich die Debatte auf die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen einer materialistischen Weltanschauung In den Physiologischen Briefen aus dem Jahre 1846 erklarte der Zoologe Carl Vogt dass die Gedanken in demselben Verhaltnis etwa zu dem Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren 1 Vogts polemisches Bekenntnis zum Materialismus griff 1854 der Physiologe Rudolf Wagner in einer Rede vor der Gottinger Naturforscherversammlung kritisch auf Wagner argumentierte dass der christliche Glaube und die Naturforschung zwei voneinander weitgehend unabhangige Spharen bildeten Die Naturwissenschaften konnten daher nichts zu den Fragen nach der Existenz Gottes der immateriellen Seele oder des freien Willens beitragen Man darf es nicht immer hingehen lassen wenn dies frivole Gesindel die Nation um die theuersten von unseren Vatern ererbten Guter betrugen will und schamlos aus dem gahrenden Inhalte seiner Eingeweide den stinkenden Athem dem Volke entgegenblast und diesem weiss machen will es sei eitel Wohlgeruch 2 Wagners Attacken riefen ebenso scharfe Reaktionen Vogts hervor wobei der materialistische Standpunkt in den folgenden Jahren ebenfalls von dem Physiologen Jakob Moleschott und dem Arzt Ludwig Buchner einem Bruder des bekannten Schriftstellers Georg Buchner verteidigt wurde Die Materialisten prasentierten sich als Vorkampfer gegen die philosophische religiose und politische Reaktion obwohl sie durchaus unterschiedliche Akzente setzten 3 und konnten auf eine breite Unterstutzung im Burgertum zahlen Das Versprechen einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung entwickelte sich zu einem pragenden Element der kulturellen Konflikte des spaten 19 und fruhen 20 Jahrhunderts Inhaltsverzeichnis 1 Entwicklung des naturwissenschaftlichen Materialismus 1 1 Emanzipation der Biologie 1 2 Abwendung von der idealistischen Philosophie 1 3 Carl Vogt und die politische Opposition 2 Verlauf 2 1 Materialismusstreit bis 1854 2 2 Gottinger Naturforscherversammlung 2 3 Kohlerglaube und Wissenschaft 2 4 Nahrungsmittel Kraft und Stoff 3 Reaktionen im 19 Jahrhundert 3 1 Philosophie des Neukantianismus 3 2 Ignoramus et ignorabimus 3 3 Politische und weltanschauliche Wirkung 4 Rezeption im 20 Jahrhundert 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseEntwicklung des naturwissenschaftlichen Materialismus BearbeitenEmanzipation der Biologie Bearbeiten nbsp Illustration der Zelltheorie in der ersten Ausgabe von Virchows Archiv fur Pathologische Anatomie und Physiologie 1847Die Entstehung eines popularen Materialismus wurde durch eine nach 1830 zum Gemeinplatz werdende Polemik gegen die romantisch idealistische Naturphilosophie 4 begunstigt die sich gleichermassen auf Naturwissenschaft Philosophie und Politik auswirkte Aus wissenschaftshistorischer Perspektive erwies sich insbesondere die durch Matthias Jacob Schleiden begrundete Zelltheorie als folgenreich In den 1838 erschienenen Beitragen zur Phytogenesis erklarte Schleiden die Zelle zum Grundbaustein aller Pflanzen und identifizierte zudem den 1831 entdeckten Zellkern als wesentlichen Faktor des Pflanzenwachstums 5 Die zellulare Theorie des Aufbaus pflanzlicher Organismen bedeutete eine inhaltliche Neuausrichtung der Botanik die sich bis dahin wesentlich durch die makroskopische Beschreibung von Formen ausgezeichnet hatte Zugleich verknupfte Schleiden seine Theorie uber den Aufbau der Pflanzen mit einer methodologischen Attacke auf die idealistische Naturphilosophie Die Zelltheorie basiere auf der empirisch uberprufbaren Beobachtung denn uber die Gegenstande der korperlichen Naturwissenschaften beherrscht Einer gerade nur so viel Thatsachen als er selbst beobachtet hat Die Spekulationen der Naturphilosophen seien demgegenuber nicht in der strengen Beobachtung gegrundet und folglich musse alles Systeme und Theorieschmieden bei Seite geworfen werden 6 Schleidens Programm einer methodisch erneuerten Botanik wurde in den folgenden Jahren auf andere biologische Disziplinen ubertragen Bereits 1839 publizierte Theodor Schwann seine Mikroskopischen Untersuchungen uber die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen Schwann erklarte dass die Zelltheorie das allgemeine Prinzip des Lebens aufdecke Alle Lebewesen seien vollstandig aus Zellen aufgebaut zudem konne die Bildung von Organen durch Wachstum und Vermehrung der Zellen erklart werden Rudolf Virchow proklamierte in diesem Zusammenhang Leben ist seinem Wesen nach Zellentatigkeit 7 Die Zelltheorie eroffnete somit die Perspektive einer naturwissenschaftlichen Theorie des Lebens auf der die Materialisten wenige Jahre spater aufbauen konnten Abwendung von der idealistischen Philosophie Bearbeiten nbsp Ludwig Feuerbach Stich von August WegerParallel zur methodologischen Neuausrichtung der biologischen Disziplinen entwickelte sich im intellektuellen Klima des Vormarz eine allgemeine Kritik am konservativen Erbe des deutschen Idealismus 8 In den Naturwissenschaften selbst blieb die Kritik an der naturphilosophischen Methodologie moderat viele Biologen blieben entschiedene Antimaterialisten Demgegenuber entstanden nur wenige Jahre nach Hegels Tod 1831 philosophische Bewegungen die auch weltanschaulich radikal mit dem deutschen Idealismus brachen Von besonderer Bedeutung und gesellschaftlicher Brisanz war die Religionskritik wie sie Ludwig Feuerbach in der Schrift Das Wesen des Christentums formulierte 9 Feuerbach hatte ab 1824 bei Hegel in Berlin studiert uber zwei Jahre jede seiner Vorlesungen besucht und bis in die 1830er Jahre traditionell idealistische Texte geschrieben Dennoch entwickelten sich bei Feuerbach und vielen anderen jungen Hegelschulern Zweifel Den Junghegelianern war nicht nur der politische Konservatismus des deutschen Idealismus suspekt zugleich schien ihnen die von empirischen Beobachtungen losgeloste Systemphilosophie zunehmend verfehlt 1839 war Feuerbach schliesslich zu einer Grundsatzkritik an seinem Lehrer bereit Hegels idealistisches System moge koharent und schlussig sein es habe sich jedoch von der sinnlichen Natur auf unzulassige Weise entfernt Die Philosophie musse im sinnlich Gegebenen grunden nur so konne sie zu einer Erkenntnis von Natur und Wirklichkeit gelangen Eitelkeit ist daher alle Spekulation die uber die Natur und den Menschen hinaus will 10 Die Idee einer von der Spekulation emanzipierten Naturbetrachtung wurde von Feuerbach und den neuen biologischen Bewegungen geteilt Doch Feuerbachs Ziel war eine anthropologische und keine naturwissenschaftliche Theorie des Menschen Welchen Zundstoff Feuerbachs Anthropologie enthielt wurde in seiner Religionsphilosophie deutlich Die idealistische Philosophie habe den Fehler gemacht die Wahrheit der theologischen Lehren in abstrakten Argumentationen zu beweisen In Wirklichkeit sei Religion jedoch keine metaphysische Wahrheit sondern Ausdruck menschlicher Bedurfnisse Theologen und Philosophen konnten die Existenz Gottes nicht beweisen da Gott eine Erfindung sei die sich aus der Natur des Menschen ergebe Feuerbachs Argumentation war nicht gegen Religionen im Allgemeinen gewendet fur den religiosen Glauben gebe es durchaus gute Grunde Diese Grunde seien jedoch psychologischer Art Religionen befriedigten reale menschliche Bedurfnisse Philosophisch theologische Beweise der Existenz Gottes seien demgegenuber spekulative Phantasien Feuerbachs Religionskritik wurde als radikaler Angriff auf das kulturelle Establishment aufgenommen Mitte der 1840er Jahre war er zum Zentrum der philosophischen Erneuerungsbewegungen geworden Carl Vogt und die politische Opposition Bearbeiten nbsp Carl VogtDie ab 1847 publizierten materialistischen Thesen des Physiologen Carl Vogt boten den ausseren Anlass des Materialismusstreits Vogts Wendung zum Materialismus war wesentlich durch die naturwissenschaftlichen und kulturellen Erneuerungsbewegungen gepragt eine mindestens genauso grosse Rolle spielte jedoch seine politische Entwicklung 11 1817 in Giessen geboren wuchs Vogt in einer Familie auf die naturwissenschaftliche und sozialrevolutionare Tendenzen miteinander verband Carls Vater Philipp Friedrich Wilhelm Vogt war Medizinprofessor in Giessen bis er 1834 aufgrund drohender politischer Verfolgung eine Professur in Bern annahm Die politischen Verwicklungen standen in der Tradition der Familie mutterlicherseits die drei Bruder Louise Follens wurden allesamt aufgrund ihrer nationalistischen und demokratischen Aktivitaten in die Emigration gedrangt 12 Adolf Follen verfasste 1817 die Grundzuge fur eine kunftige Reichsverfassung und wurde zwei Jahre spater wegen deutscher Umtriebe verhaftet Das Schweizer Exil bewahrte ihn vor einer 10 jahrigen Festungshaft Karl Follen verteidigte in einem Flugblatt den Tyrannenmord und galt daher als geistiger Urheber des Attentats auf den Schriftsteller August von Kotzebue Ihm gelang die Flucht in die Vereinigten Staaten wo er sich ab 1825 als Professor fur deutsche Sprache an der Harvard University etablierte Paul Follen der jungste der Bruder grundete 1833 mit Friedrich Munch die Giessener Auswanderungsgesellschaft Das Ziel einer deutschen Republik in den Vereinigten Staaten scheiterte Paul Follen liess sich als Farmer in Missouri nieder Carl Vogt begann 1833 in Giessen Medizin zu studieren wandte sich jedoch bald der Chemie bei Justus Liebig zu Liebigs experimentelle Methoden standen in explizitem Kontrast zur idealistischen Naturphilosophie Als Mitbegrunder der organischen Chemie lehnte Liebig eine Trennung zwischen lebenden Prozessen und toter Materie ab und bot Vogt somit eine gedankliche Voraussetzung des spater entwickelten Materialismus 13 1835 machten jedoch politische Umstande eine Fortsetzung des Studiums in Giessen unmoglich Nachrichten dass er einem politisch verfolgten Studenten zur Flucht verholfen habe liessen ihn selbst zum Ziel der Polizei werden Vogt wanderte daraufhin in die Schweiz aus wo er 1839 sein Studium an der medizinischen Fakultat abschloss In den fruhen 1840er Jahren war Vogt mit der politischen Opposition und den neuen naturwissenschaftlichen Bewegungen in Kontakt gekommen hatte jedoch noch nicht seinen weltanschaulichen Materialismus entwickelt Dies anderte sich wahrend seines dreijahrigen Aufenthalts in Paris der wesentlich zu Vogts politischer und weltanschaulicher Radikalisierung beitrug Die Bekanntschaft mit den Anarchisten Michail Bakunin und Pierre Joseph Proudhon pragte Vogts politisches Denken nachhaltig Ab 1845 begann er zudem seine Physiologischen Briefe zu veroffentlichen mit denen er in Anlehnung an Liebigs Chemische Briefe eine allgemeinverstandliche Darstellung der Physiologie veroffentlichte Die ersten Briefe enthielten noch keine Hinweise auf Vogts Materialismus erst in dem 1846 erschienenen Brief uber Nervenkraft und Seelenthatigkeit erklarte Vogt dass der Sitz des Bewusstseins des Willens des Denkens endlich einzig und allein in dem Gehirne gesucht werden muss 14 nbsp Sitzung der Nationalversammlung 1848 zeitgenossisches Gemalde von Ludwig von ElliottZunachst hatte jedoch die politische Praxis Vorrang gegenuber der materialistischen Theorie Vogt war gerade durch Einflussnahme Liebigs und Alexander von Humboldts zum Professor fur Zoologie in Giessen berufen worden als im Marz 1848 die Deutsche Revolution begann und sich in verschiedenen Teilen Deutschlands demokratische Krafte gegen die sogenannte Reaktion erhoben Als diese Marzrevolution auch die kleine Universitatsstadt Giessen erreichte liess sich Vogt zum Befehlshaber der Burgerwehr ernennen und vertrat schliesslich den 6 Wahlkreis Hessen Darmstadt in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 bis 1849 Nachdem der preussische Konig Friedrich Wilhelm IV die ihm angetragene Kaiserwurde abgelehnt hatte und politische Niederlagen zum Auseinanderbrechen der Nationalversammlung fuhrten zog Vogt mit den verbliebenen 158 Abgeordneten nach Stuttgart um dort Anfang Juni 1849 das schon nach wenigen Wochen zwangsweise aufgeloste sogenannte Rumpfparlament zu bilden Von diesem Restparlament zu einem der funf Reichsregenten ernannt fand sich Vogt im Zentrum der politischen Opposition wieder Bereits am 18 Juni des Jahres besetzten wurttembergische Truppen den Tagungsort Vogt emigrierte in die Schweiz und nahm im Haus seiner Eltern Zuflucht In den politischen Ambitionen gescheitert und seiner akademischen Karriere beraubt konzentrierte er sich wieder auf biologische Studien die er nun radikal weltanschaulich deutete Verlauf BearbeitenMaterialismusstreit bis 1854 Bearbeiten Ohne klare akademische Perspektiven begab sich Vogt 1850 nach Nizza um sich dort zoologischen Studien zu widmen Seine im folgenden Jahr publizierten Untersuchungen uber Thierstaaten verknupften die Zoologie mit einer bitteren Abrechnung mit den deutschen Verhaltnissen Politisch war das Buch ein Pladoyer fur den Anarchismus jede Staatsform jedes Gesetz ist ein Zeichen der mangelnden Vollendung unseres Naturzustandes 15 Vogts biologistische Argumentation fur den Anarchismus beruhte auf der Uberzeugung dass Tier und Menschenstaaten in Kontinuitat zueinander stunden da auch Menschen naturliche und vollstandig materielle Organismen seien Nach Ansicht Vogts implizierte die Biologie gleichermassen den Materialismus und die Subversion der herrschenden Ordnung In seinem Buch bezog er sich unmissverstandlich auf die deutschen Verhaltnisse So gehe denn hin du kleines Buchlein als alte Wahrheit in neuem Gewande Pilgre umher in jenem unseligen Lande dessen Sprache Du redest dessen Sinn Dir aber schwerlich entgegenkommen wird 16 Tatsachlich gelang es Vogt mit seinen popularen und polemischen Attacken das Interesse der deutschen Offentlichkeit zu wecken 1852 erschienen die Bilder aus dem Thierleben in denen Vogt nicht nur eine ausfuhrliche Darstellung des Materialismus bot sondern zugleich die deutschen Universitatsgelehrten scharf angriff Jeder klar denkende Biologe musse die Wahrheit des Materialismus erkennen da die Abhangigkeit der Seelenfunktionen von den Gehirnfunktionen offensichtlich sei Diese Abhangigkeit zeige sich am deutlichsten in Tierversuchen so konnen wir der Taube Stuck fur Stuck die geistigen Funktionen abschneiden indem wir Stuck fur Stuck das Gehirn abtragen 17 Doch wenn die Seelenfunktionen auf diese Weise vom Gehirn abhingen so konne die Seele auch nicht den Tod des Korpers uberstehen Und wenn die Gehirnfunktionen durch die Naturgesetze determiniert seien so musse das Gleiche auch auf die Seele zutreffen So ware dem einfachen Materialismus Thur und Tor geoffnet der Mensch so gut wie das Thier nur eine Maschine sein Denken das Resultat einer bestimmten Organisation der freie Wille demnach aufgehoben Wahrlich so ist s Es ist wirklich so 18 Wer diesen Ausfuhrungen nicht zustimmen wollte hatte nach Ansicht Vogts nicht die notwendigen Konsequenzen der physiologischen Forschung verstanden Dies betraf besonders den Anatomen und Physiologen Rudolf Wagner aus Gottingen der 1851 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung Vogt dafur kritisiert hatte Gott durch eine blinde unbewusste Notwendigkeit zu ersetzen 19 Zugleich hatte er Uberlegungen angestellt nach denen die Seele eines Kindes sich zu gleichen Teilen aus der Seele der Mutter und des Vaters zusammensetze Dieser Gedanke bot Vogt eine willkommene Vorlage Eine zusammengesetzte Kinderseele widerspreche nicht nur der theologischen Auffassung der Unteilbarkeit der Seele sondern sei zugleich physiologischer Unsinn Korperliche Merkmale wie Gesichtszuge werden von den Eltern auf naturlichem Wege an die Kinder vererbt Das Gleiche gelte fur das Gehirn weswegen die Vererbung von Charaktermerkmalen leicht materialistisch erklart werden konne 20 Gottinger Naturforscherversammlung Bearbeiten nbsp Rudolf WagnerIm Sommer 1854 bot die vom Kampf um die gottgeschaffene Seele 21 bestimmte 31 Naturforscherversammlung in Gottingen Wagner die Gelegenheit zu einer offentlichkeitswirksamen Replik In seinem Vortrag uber Menschenschopfung und Seelensubstanz warf Wagner den Materialisten vor durch die Leugnung der Willensfreiheit die sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung zu untergraben Wir die wir hier versammelt sind wie verschieden sich auch in jedem Einzelnen von uns unsere Weltanschauung gestaltet haben mag wir die wir das Ringen unserer Nation in seinen letzten Kampfen mitgesehen mitgefuhlt zum grossen Theile selbsttheilnehmend mit durchgemacht haben wir haben uns auch die Frage nahezulegen welches werden die Resultate unserer Forschung fur die Bildung und die Zukunft unsres grossen Volkes sein 22 Der Materialismus Vogts stehe der moralischen Verantwortung des Forschers entgegen da er aus dem Menschen blinde und unverantwortliche Maschinen mache Noch im selben Jahr erschien eine zweite Schrift Wagners in der er die moralischen Vorwurfe um eine allgemeine Argumentation zum Verhaltnis von Wissen und Glauben erganzte Nach Wagner bilden diese zwei weitgehend unabhangige Bereiche kein naturwissenschaftliches Wissen konne den religiosen Glauben folglich beweisen oder widerlegen Physiologen wurden den inneren Aufbau und die Funktion der korperlichen Organe beschreiben Materialisten diese Beschreibungen interpretieren indem sie die korperlichen und seelischen Funktionen miteinander identifizierten Dualisten gingen demgegenuber davon aus dass die korperlichen Funktionen auf eine immaterielle Seele wirkten Keine der beiden Interpretationen ergebe sich aus der physiologischen Beschreibung weswegen die Naturwissenschaften die Seelenfrage nicht entscheiden konnten Es findet sich in der biblischen Seelenlehre kein einziger Punkt welcher mit irgend einem Lehrsatze der modernen Physiologie und Naturwissenschaft im Widerspruch ware 23 Kohlerglaube und Wissenschaft Bearbeiten Wagners offentlichkeitswirksame Streitschriften hatten die seit einigen Jahren schwelende Materialismusdebatte endgultig ins Zentrum des offentlichen Interesses geruckt Vogt reagierte prompt mit dem Pamphlet Kohlerglaube und Wissenschaft Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Gottingen Der Text ist in der ersten Halfte wesentlich durch drastische ad hominem Attacken gegen Wagner gepragt Dieser sei kein serioser und produktiver Wissenschaftler sondern schmucke sich als Herausgeber zahlloser Werke lediglich mit der Forschungsarbeit anderer Zudem habe er versucht seine materialistischen Kritiker mit Hilfe der Staatsgewalt zu unterdrucken Den besonderen Zorn Vogts erregte Wagners Behauptung dass die materialistische Leugnung der Willensfreiheit angesichts der politischen Ereignisse von 1848 Marzrevolution gesellschaftlich unverantwortlich sei Erbarmlicher Wicht Wo hast Du denn mitgerungen mitgefuhlt mit Theil genommen auf der einen oder anderen Seite Wir haben Dich nicht gesehen weder in den Reihen unserer Feinde noch in denjeningen unser Freunde und wir konnen Dir mit dem Dichter zurufen Pfui uber Dich Buben hinter dem Ofen 24 Im zweiten Teil der Arbeit argumentierte Vogt systematischer gegen Wagners These der Vereinbarkeit von naivem Kohlerglauben und naturwissenschaftlicher Erkenntnis Wer die Seele in einen Bereich jenseits jeder empirischen Uberprufbarkeit setze konne zwar nicht mehr direkt durch die Physiologie widerlegt werden mache jedoch eine vollkommen unnutze und letztlich sogar unverstandliche Annahme Die Abhangigkeit der Seelenfunktionen von den Gehirnfunktionen spreche eindeutig fur eine Identitat von Korper und Seele und konne nicht durch das Axiom einer immateriellen Seele ignoriert werden Dies werde bei allen Organen bis auf das Gehirn auch von Wagner akzeptiert Auch Wagner behaupte nicht dass zusatzlich zu den biologischen Prozessen in den Muskeln noch eine Muskelseele komme die erst die Muskelkontraktion verursache Ebenso wenig wurde er behaupten zusatzlich zu den biologischen Prozessen in der Niere komme noch eine Nierenseele die erst die Ausscheidung der Stoffwechselprodukte verursache Nur bei dem Gehirne will man dies nicht anerkennen nur bei diesem will man eine specielle fur die anderen Organe nicht gultige unlogische Schlussfolgerung eintreten lassen 25 Nahrungsmittel Kraft und Stoff Bearbeiten nbsp Jakob Moleschott nbsp Ludwig BuchnerVogts polemisch vorgetragene Thesen mochten im akademischen und politischen Umfeld auf starke Widerstande stossen dennoch hatte sich das Bekenntnis zum Materialismus 1855 langst zu einer einflussreichen Bewegung entwickelt Unterstutzung erhielt Vogt von zwei jungeren Wissenschaftlern Jakob Moleschott und Ludwig Buchner die ihre materialistischen Thesen ebenfalls in popularwissenschaftlichen Publikationen in die Offentlichkeit trugen Diese stilisierte diese drei Autoren rhetorisch zu den Vorkampfern eines scheinbar schlussigen Materialismus und in dieser Zuspitzung wurde der Materialismusstreit selbst zu einem Katalysator einer kontrovers diskutierten Intensivierung von Popularisierungsbemuhungen und von weltanschaulichen Debatten um das Verhaltnis von Naturforschung und Gesellschaft die seit Ende der 1850er Jahre in die Diskussion uber die darwinistische Entwicklungslehre uberging 26 Jakob Moleschott 1822 im niederlandischen s Hertogenbosch geboren war fruh mit der Philosophie Hegels in Kontakt gekommen entschloss sich jedoch schliesslich zu einem Studium der Medizin in Heidelberg 27 Stark durch die Philosophie Feuerbachs beeinflusst beschaftigte er sich mit Fragen des Stoffwechsels und der Diatik Nahrungsmittel erschienen entsprechend Moleschotts materialistischer Uberzeugungen gleichermassen als Grundbausteine der korperlichen und geistigen Funktionen In seiner Schrift Die Lehre der Nahrungsmittel Fur das Volk bemuhte sich Moleschott um eine populare Anwendung seiner Studien und legte detaillierte Ernahrungsplane fur die verarmten Bevolkerungsschichten vor Der Materialismus sollte nicht nur negativ die Existenz einer immateriellen Seele und Gottes leugnen er sollte positiv die Menschen zu einem besseren Leben fuhren Moleschott schickte 1850 ein Exemplar seines Werkes an Feuerbach der noch im gleichen Jahr eine einflussreiche Rezension unter dem Titel Die Naturwissenschaft und die Revolution veroffentlichte In den 1840er Jahren hatte Feuerbach seine Philosophie noch jenseits von Idealismus und Materialismus definiert nun bezog er explizit fur die Materialisten Stellung Wahrend die Philosophen weiter auf unfruchtbare Weise uber das Verhaltnis von Korper und Seele stritten hatten die Naturwissenschaften bereits langst die Antwort gefunden Die Speisen werden zu Blut das Blut zu Herz und Hirn zu Gedanken und Gesinnungsstoff Menschliche Kost ist die Grundlage menschlicher Bildung und Gesinnung Wollt ihr das Volk bessern so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sunde bessere Speisen Der Mensch ist was er isst 28 Noch einflussreicher als Moleschotts Bundnis mit Feuerbach erwies sich Buchners Bundnis mit der Offentlichkeit 29 Buchner 1824 in Darmstadt geboren war bereits als Student mit Vogt in Kontakt gekommen und 1848 Mitglied der von Vogt geleiteten Burgerwehr geworden Nach einigen unglucklichen Jahren als Assistent an der medizinischen Fakultat Tubingens entschloss sich Buchner zur Publikation einer eingangigen Zusammenfassung der materialistischen Weltanschauung Kraft und Stoff entwickelte sich zu einem Bestseller in den ersten 17 Jahren erschienen 12 Auflagen das Buch wurde in 16 Sprachen ubersetzt Im Gegensatz zu Vogt und Moleschott prasentierte Buchner den Materialismus nicht im Kontext eigener Forschungen sondern bot eine Zusammenfassung der Erkenntnisse die auch ohne philosophische oder naturwissenschaftliche Vorkenntnisse verstandlich waren Den Ausgangspunkt bot die bereits von Moleschott betonte Einheit von Kraft und Stoff Kein Stoff konne ohne innewohnende Krafte keine Kraft ohne Stoff als Trager existieren Aus dieser Einheit folge unmittelbar die Unmoglichkeit immaterieller Seelen da diese ohne einen stofflichen Trager existieren mussten Reaktionen im 19 Jahrhundert BearbeitenPhilosophie des Neukantianismus Bearbeiten Der Materialismus wurde von Naturwissenschaftlern wie Vogt Moleschott und Buchner getragen die ihre Thesen als Konsequenzen der empirischen Forschung prasentierten Die Universitatsphilosophie schien mit dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus als haltlose Spekulation diskreditiert Selbst der Philosoph Feuerbach traute den Naturwissenschaften nun die Auflosung der philosophischen Frage nach dem Verhaltnis von Seele und Korper zu Erst in den 1860er Jahren entwickelte sich mit dem Neukantianismus eine einflussreiche philosophische Kritik des Materialismus 1865 hatte Otto Liebmann in seiner Schrift Kant und die Epigonen die philosophischen Ansatze vom deutschen Idealismus bis zu Schopenhauer scharf kritisiert und jedes Kapitel mit der Feststellung Also muss auf Kant zuruckgegangen werden geschlossen 30 Dieser Position entsprechend veroffentlichte der Philosoph Friedrich Albert Lange im folgenden Jahr seine Geschichte des Materialismus Unter Bezug auf Kant warf Lange den Materialisten philosophischen Dilettantismus vor der wesentliche Erkenntnisse der kantischen Philosophie ignoriere 31 Das zentrale Thema der Kritik der reinen Vernunft war die Frage nach den Bedingungen jeder moglichen also auch der naturwissenschaftlichen Erkenntnis Kant hatte argumentiert dass die menschliche Erkenntnis die Welt nicht abbildet wie sie wirklich ist Jede Erkenntnis sei bereits durch Kategorien wie Ursache und Wirkung oder Einheit und Vielheit gepragt Dabei seien diese Kategorien nicht Eigenschaften der Dinge an sich sondern von dem Menschen an die Dinge herangetragen Auf gleiche Weise hatten auch Raum und Zeit keine absolute Realitat sondern seien Anschauungsformen des Menschen Da jede Erkenntnis bereits durch die Kategorien und die Anschauungsformen gepragt sei konne der Mensch niemals die Dinge an sich erkennen Daher seien Antworten auf die Fragen nach einer immateriellen Seele einem personalen Gott und einem freien Willen nicht wissenschaftlich beweisbar Der zentrale Fehler der Materialisten war nach Ansicht Langes ihre Ignoranz gegenuber Kant Der Materialismus behaupte dass es in Wirklichkeit nur Materie gebe und ubersehe dabei dass auch die naturwissenschaftliche Beschreibung der Materie keinesfalls eine Beschreibung der absoluten Realitat sei Die naturwissenschaftliche Beschreibung setze bereits die Kategorien und Anschauungsformen voraus und konne daher keinesfalls als eine Beschreibung der Dinge an sich gelten 32 Unterstutzung erhielt Lange in dieser Argumentation ausgerechnet von dem Naturwissenschaftler Hermann von Helmholtz der seine sinnesphysiologischen Arbeiten in den 1850er Jahren als eine empirische Bestatigung der Arbeiten Kants prasentiert hatte In dem 1855 gehaltenen Vortrag Ueber das Sehen des Menschen beschrieb Helmholtz zunachst die physiologischen Grundlagen der visuellen Wahrnehmung und erklarte im Folgenden dass das Sehen keine naturgetreue Abbildung der Aussenwelt darstelle Ganz im Sinne Kants sei jede Wahrnehmung der Aussenwelt bereits durch menschliche Interpretationsleistungen gepragt ein Zugang zu den Dingen an sich folglich unmoglich Wie es aber mit dem Auge ist so ist es auch mit den anderen Sinnen wir nehmen nie die Gegenstande der Aussenwelt unmittelbar wahr sondern wir nehmen nur Wirkungen dieser Gegenstande auf unseren Nervenapparat wahr 33 Ignoramus et ignorabimus Bearbeiten nbsp Emil Heinrich du Bois ReymondDie naturwissenschaftlichen Materialisten sahen im Verweis auf Kant lediglich eine weitere spekulative Attacke auf die Ergebnisse der Naturwissenschaften und setzten sich daher nicht systematisch mit den Argumenten der Neukantianer auseinander Gefahrlicher erschien die Kritik des Physiologen Emil Heinrich Du Bois Reymond der 1872 in seinem Vortrag Ueber die Grenzen des Naturerkennens das Bewusstsein zu einer grundsatzlichen Grenze der Naturwissenschaften erklarte Mit seinem Diktum Ignoramus et ignorabimus lat Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen loste er eine lang anhaltende Kontroverse um die Idee einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung aus Der sogenannte Ignorabimusstreit wurde mit einer ahnlichen Heftigkeit ausgefochten wie 20 Jahre zuvor die Debatte zwischen Vogt und Wagner sogar mehr noch in den politischen Raum getragen Diesmal waren jedoch die Materialisten in der Defensive 34 Das wesentliche Problem der Materialisten war nach Ansicht du Bois Reymonds ihre unzureichende Argumentation fur die Einheit von Gehirn und Seele Vogt Moleschott und Buchner hatten sich darauf beschrankt die Abhangigkeit der Seelenfunktionen von den Gehirnfunktionen zu betonen Eine Schadigung des Gehirns fuhre zu einer Beeintrachtigung der seelischen Funktionen wie man experimentell in Tierversuchen nachweisen konne Diese Abhangigkeit mache jedoch die Idee einer immateriellen Seele unplausibel und folglich sei der Materialismus die einzig akzeptable Konsequenz Es sei daher auch gar nicht notwendig zu erklaren wie das Gehirn letztlich Bewusstsein erzeuge Uebrigens kann es fur den Zweck dieser Untersuchung ziemlich gleichgultig erscheinen ob und auf welche Weise eine Vorstellung daruber moglich ist wie die seelischen Erscheinungen aus materiellen Verknupfungen oder Thatigkeiten der Gehirnsubstanz hervorgehen oder wie stoffliche Bewegung in geistige umschlagt Es genugt zu wissen dass materielle Bewegungen durch Vermittlung der Sinnesorgane auf den Geist wirken 35 Du Bois Reymond argumentierte hingegen dass der Nachweis von Abhangigkeitsbeziehungen keinesfalls ausreichend fur den Materialismus sei Wer das Bewusstsein auf das Gehirn reduzieren wolle musse das Bewusstsein auch durch Gehirnfunktionen erklaren Eine solche Erklarung konnten die Materialisten aber nicht anbieten Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits andererseits den fur mich ursprunglichen nicht weiter definierbaren nicht wegzuleugnenden Tatsachen Ich fuhle Schmerz fuhle Lust ich schmecke Susses rieche Rosenduft hore Orgelton sehe Roth 36 Nach Ansicht du Bois Reymonds gibt es keine denkbare Verbindung zwischen den objektiv beschriebenen Fakten der Korperwelt und den subjektiv bestimmten Fakten des bewussten Erlebens Das Bewusstsein beschreibe daher eine grundsatzliche Schranke des Naturerkennens Du Bois Reymonds Ignorabimus Rede schien auf eine grundlegende Schwache des wissenschaftlichen Materialismus hinzuweisen Wahrend Vogt Moleschott und Buchner die Materialitat des Bewusstseins behaupteten gaben sie offen zu das Bewusstsein nicht durch Gehirnfunktionen erklaren zu konnen Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieses Problems entwickelte sich das Konzept einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung gegen Ende des 19 Jahrhunderts vom Materialismus zum Monismus Ernst Haeckel der bekannteste Vertreter einer monistischen Weltanschauung stimmte mit den Materialisten in der Ablehnung von Dualismus Idealismus und der Idee einer unsterblichen Seele uberein Der Monismus hingegen erkennt im Universum nur eine einzige Substanz die Gott und Natur zugleich ist Korper und Geist oder Materie und Energie sind fur sie untrennbar verbunden 37 Haeckels Monismus unterscheidet sich jedoch vom Materialismus da er der Materie keine Vorrangstellung zuerkennt Korper und Geist sind untrennbare und gleichermassen grundlegende Aspekte einer Substanz Ein derartiger Monismus schien du Bois Reymonds Problem zu umgehen Wenn Materie und Geist gleichermassen grundlegende Aspekte einer Substanz sind dann muss der Geist auch nicht mehr durch die Materie erklart werden Auch Buchner sah in einem solchen Monismus die richtige Reaktion auf die philosophische Kritik am Materialismus In einem Brief an Haeckel aus dem Jahre 1875 schreibt er Ich habe daher die Bezeichnung Materialismus welche eine ganz einseitige Vorstellung weckt nie fur meine Richtung gebraucht und sie nur nothgedrungen spater hier und da acceptiert weil das grosse Publikum kein anderes Wort fur die ganze Richtung kannte Die von Ihnen vorgeschlagene Bezeichnung Monismus ist zwar an sich sehr gut es fragt sich aber sehr ob sie bei dem grossen Publikum dauern Eingang gewinnen wird 38 Politische und weltanschauliche Wirkung Bearbeiten Die Materialisten mochten zu grosser Popularitat in der Bevolkerung gelangen politisch waren sie weit weniger erfolgreich Das Eintreten fur den Materialismus kostete Vogt Moleschott und Buchner ihre berufliche Laufbahn an den deutschen Universitaten Der von Vogt propagierte revolutionare Gehalt des Materialismus konnte sich in der Reaktionsara nach 1848 nicht durchsetzen In den politischen Bewegungen der zweiten Halfte des 19 Jahrhunderts blieb der naturwissenschaftliche Materialismus ebenfalls ohne wesentlichen Einfluss auch aufgrund von Differenzen mit Karl Marx und Friedrich Engels Vogt wurde von Marx als kleinuniversitatischer Bierpolterer und verfehlter Reichsbarrot bezeichnet 39 und die Konflikte eskalierten zunehmend in personlichen Denunziationen So wurde etwa Vogt aus dem Umfeld von Marx mit dem Vorwurf konfrontiert als franzosischer Spion gearbeitet zu haben 40 Die veranderte politische Lage wird auch in dem Werk Ernst Haeckels deutlich der von den Materialisten die Idee einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung ubernahm ihr jedoch eine neue politische Richtung gab Haeckel 17 Jahre junger als Vogt etablierte sich in den 1860er Jahren als Reprasentant des Darwinismus in Deutschland In seiner polemischen Ablehnung von Kirchen Weisheit und After Philosophie 41 ahnelte Haeckel den naturwissenschaftlichen Materialisten durchaus Vogt hatte in der Physiologie den Beginn einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung gesehen Haeckel beanspruchte mit Bezug auf Charles Darwin das Gleiche In diesem Geistes Kampfe der jetzt die ganze denkende Menschheit bewegt und der ein menschenwurdiges Dasein in der Zukunft vorbereitet stehen auf der einen Seite unter dem lichten Banner der Wissenschaft Geistesfreiheit und Wahrheit Vernunft und Cultur Entwickelung und Fortschritt auf der anderen Seite unter der schwarzen Fahne der Hierarchie Geistesknechtschaft und Luge Unvernunft und Rohheit Aberglauben und Ruckschritt 42 Doch Fortschritt war bei Haeckel wesentlich antiklerikal in Opposition zur Kirche und nicht politisch in Opposition zum Staat gedacht Bismarcks 1871 beginnender Kulturkampf gegen die katholische Kirche bot Haeckel sogar die Gelegenheit den antiklerikalen Monismus mit der Politik Preussens zu verknupfen Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs wurden Haeckels Ausserungen zunehmend nationalistisch Rassentheorien und Eugenik boten eine scheinbar naturwissenschaftlich begrundete Rechtfertigung chauvinistischer Politik Vogts Ideal einer politisch revolutionaren Naturwissenschaft war damit endgultig gescheitert Rezeption im 20 Jahrhundert BearbeitenDer wissenschaftliche Materialismus hatte die weltanschaulichen Kontroversen im 19 Jahrhundert wesentlich gepragt In den 1860er Jahren drangten sich die Debatten um Darwins Evolutionstheorie und Haeckels Monismus zunehmend in den Vordergrund Die Frage nach einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung wurde jedoch weiter kontrovers diskutiert Buchners Kraft und Stoff blieb ein Bestseller Einen Einschnitt bedeuteten der Erste Weltkrieg und der Tod Haeckels 1919 In der Weimarer Republik schienen die Debatten der 1850er Jahre nicht mehr zeitgemass die philosophischen Stromungen der Zwischenkriegszeit waren bei allen inhaltlichen Unterschieden durchweg materialismuskritisch Dies trifft auch auf den Logischen Positivismus zu der zwar an der Idee einer wissenschaftlichen Weltanschauung festhielt sie jedoch konsequent antimetaphysisch deutete 43 Dem Sinnkriterium der logischen Positivisten zufolge war eine Aussage nur dann verstandlich wenn sie sich empirisch uberprufen liess Materialismus und Monismus scheiterten an diesem Kriterium genauso wie der Idealismus und Dualismus All diese Positionen erschienen somit als verfehlte Phantasien einer vergangenen spekulativen Epoche der Philosophie Materialistische Theorien des Bewusstseins wurden erst in den 1950er Jahren in der angelsachsischen Philosophie wieder aufgegriffen In dieser Zeit waren die naturwissenschaftlichen Materialisten des 19 Jahrhunderts jedoch endgultig in Vergessenheit geraten In keinem dieser Texte wird auf Vogt Moleschott oder Buchner verwiesen die Materialisten der Nachkriegszeit konzentrierten sich vielmehr auf die zeitgenossischen Neurowissenschaften 44 Auch wissenschafts und philosophiehistorisch wurde der naturwissenschaftliche Materialismus bis in die 1970er weitgehend ignoriert 45 Relativ fruh begann die Rezeption in der DDR unter dem Einfluss Dieter Wittichs der 1960 mit einer Arbeit uber die wissenschaftlichen Materialisten promoviert wurde 46 und 1971 im Akademie Verlag eine Textsammlung unter dem Titel Vogt Moleschott Buchner Schriften zum kleinburgerlichen Materialismus in Deutschland herausgab Wittich Inhaber des einzigen Lehrstuhls fur Erkenntnistheorie in der DDR wurdigte in seiner ausfuhrlichen Einleitung das politische wissenschaftliche und religionskritische Wirken der Materialisten Zugleich betonte er jedoch ihre philosophischen Mangel die kleinburgerlichen Materialisten seien Vulgarmaterialisten weil sie zu einer Zeit auf dem metaphysischen Materialismus beharrten als der dialektische Materialismus nicht nur Moglichkeit sondern auch Wirklichkeit geworden war 47 1977 erschien die Monographie Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Frederick Gregory die bis heute als Standardwerk gilt Nach Gregory ist die Bedeutung Vogts Moleschotts und Buchners weniger in ihrer spezifischen Ausarbeitung des Materialismus zu suchen Entscheidender sei die gesellschaftliche Wirkung ihrer naturwissenschaftlich motivierten Kritik an Religion Philosophie und Politik gewesen Das herausragende Merkmal des wissenschaftlichen Materialisten war aus historischer Perspektive nicht ihr Materialismus sondern ihr Atheismus oder angemessener ihre humanistische Religion 48 Gregorys Urteil entsprechend wird in der gegenwartigen Forschungsliteratur die Bedeutung der Materialisten im Sakularisierungsprozess des 19 Jahrhunderts allgemein anerkannt wahrend ihre philosophischen Positionen zum Teil weiter heftiger Kritik ausgesetzt sind So erklart etwa Renate Wahsner Es kann der in der Literatur vertretenen Auffassung nicht widersprochen werden die allen dreien Scharfe und Tiefe im Denken abspricht 49 Nicht alle Autoren teilen diese negative Einschatzung so verteidigt etwa Kurt Bayertz die Aktualitat der naturwissenschaftlichen Materialisten da diese die erste voll ausgepragte Form des modernen Materialismus erarbeitet hatten Wir haben es bei der von Vogt Moleschott und Buchner erarbeiteten Form des Materialismus zwar nur mit einer Form des Materialismus zu tun aber mit der fur die Moderne typischen und in der Gegenwart einflussreichsten und wirksamsten Form 50 Eine Auseinandersetzung mit aktuellen Materialismuskontroversen musse daher im 19 Jahrhundert ansetzen Literatur BearbeitenPrimarliteraturLudwig Buchner Kraft und Stoff Kroners Taschenausgabe 102 Kroner Verlag Leipzig 1932 Nachdr d Erstausg Darmstadt 1855 Friedrich Albert Lange Die Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart Suhrkamp Frankfurt M 1974 ISBN 3 518 07670 1 2 Bde Nachdr d Erstausg Berlin 1866 Jakob Moleschott Der Kreislauf des Lebens 5 Aufl Zabern Mainz 1877 Carl Vogt Physiologische Briefe 14 Aufl Rickersche Buchhandlung Giessen 1874 Carl Vogt Kohlerglaube und Wissenschaft Eine Streitschrift gegen Hofrasth Rudolph Wagner in Gottingen 4 Aufl Rickersche Buchhandlung Giessen 1856 Rudolf Wagner Ueber Wissen und Glauben Mit besonderer Beziehung zur Zukunft der Seelen Fortsetzung der Betrachtung uber Menschenschopfung und Seelensubstanz G H Wigand Gottingen 1854 Rudolf Wagner Menschenschopfung und Seelensubstanz Ein anthropologischer Vortrag G H Wigand Gottingen 1854 Dieter Wittich Vogt Moleschott Buchner Schriften zum kleinburgerlichen Materialismus in Deutschland Akademie Verlag Berlin 1971 Einzig verfugbare Textsammlung zum Materialismus des 19 Jahrhunderts Karl Vogt Physiologische Briefe fur Gebildete aller Stande Jakob Moleschott Der Kreislauf des Lebens 1971 LXXXII 344 S Ludwig Buchner Kraft und Stoff Karl Vogt Kohlerglaube und Wissenschaft 1971 S 348 657 SekundarliteraturAndreas Arndt Walter Jaeschke Hrsg Materialismus und Spiritualismus Philosophie und Wissenschaften nach 1848 Meiner Hamburg 2000 ISBN 3 7873 1548 9 Kurt Bayertz Walter Jaeschke Myriam Gerhard Hrsg Weltanschauung Philosophie und Naturwissenschaft im 19 Jahrhundert Der Materialismusstreit Bd 1 Meiner Hamburg 2007 ISBN 3 7873 1777 5 Annette Wittkau Horgby Materialismus Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19 Jahrhunderts Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1998 ISBN 3 525 01375 2 zugl Habilitationsschrift Universitat Hannover 1997 Andreas W Daum Wissenschaftspopularisierung im 19 Jahrhundert Burgerliche Kultur naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Offentlichkeit 1848 1914 2 erg Aufl Oldenbourg Munchen 2002 ISBN 978 3 486 56551 5 Frederick Gregory Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany Reidel Dordrecht 1977 ISBN 90 277 0760 X Frederick Gregory Scientific versus Dialectical Materialism A Clash of Ideologies in Nineteenth Century German Radicalism In Isis Bd 68 1977 Heft 2 S 206 223 Theobald Ziegler Die geistigen und sozialen Stromungen des neunzehnten Jahrhunderts Neuaufl Bondi Berlin 1911 Kapitel 11 Steffen Hasslauer Polemik und Argumentation in der Wissenschaft des 19 Jahrhunderts Eine pragmalinguistische Untersuchung der Auseinandersetzung zwischen Carl Vogt und Rudolph Wagner um die Seele Walter de Gruyter Berlin New York 2010 ISBN 978 3 11 022994 3 Weblinks BearbeitenDigitalisierte Werke der naturwissenschaftlichen Materialisten im Internet Archive Kurt Bayertz und Walter Jaeschke Der Materialismus Streit PDF 29 kB Rudolf Eisler Artikel Materialismus in Worterbuch der philosophischen Begriffe 1904 Ernst Krause Vogt Carl In Allgemeine Deutsche Biographie ADB Band 40 Duncker amp Humblot Leipzig 1896 S 181 189 Artikel zum Materialismusstreit im deutschen Arzteblatt 2006Einzelnachweise Bearbeiten Physiologische Briefe S 323 Ueber Wissen und Glauben S IV Andreas W Daum Wissenschaftspopularisierung im 19 Jahrhundert Burgerliche Kultur naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Offentlichkeit 1848 1914 Oldenbourg Munchen 2002 S 293 299 Herbert Schnadelbach Philosophie in Deutschland 1831 1933 Suhrkamp Frankfurt a M 1883 S 100 Matthias Jacob Schleiden Beitrage zur Phytogenesis in Archiv fur Anatomie 1838 S 137 176 Schleiden zitiert nach Annette Wittkau Horgby Materialismus Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19 Jahrhunderts Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1996 S 54f Rudolf Virchow Uber das Bedurfnis und die Richtigkeit einer Medizin vom mechanischen Standpunkt in Virchows Archiv fur pathologische Anatomie und Physiologie und fur klinische Medizin Heft 1 1907 1845 S 8 Walter Jaeschke Philosophie und Literatur im Vormarz Der Streit um die Romantik 1820 1854 Meiner Hamburg 1998 Vgl Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany S 13 28 Ludwig Feuerbach Zur Kritik der Hegelschen Philosophie in Gesammelte Werke Band III Akademie Verlag Berlin 1967 2007 S 52 Vgl hierzu Hermann Misteli Carl Vogt seine Entwicklung vom angehenden naturwissenschaftlichen Materialisten zum idealen Politiker der Paulskirche 1817 1849 Gebr Leemann Zurich 1938 Wolfgang Hardtwig Deutsche Geschichte der neuesten Zeit Vormarz Der monarchische Staat und das Burgertum dtv Munchen 1997 S 13ff Liebig lehnte den Materialismus jedoch vehement ab Wilhelm Brock Justus von Liebig Vieweg Wiesbaden 1999 S 250 Physiologische Briefe S 322 Carl Vogt Untersuchungen uber Thierstaaten Literarische Anstalt Frankfurt a M 1851 S 23 Vogt 1851 S IX Carl Vogt Bilder aus dem Thierleben Literarische Anstalt Frankfurt a M 1852 S 443 Vogt 1852 S 445 Wagner zitiert nach Andreas Daum Wissenschaftspopularisierung im 19 Jahrhundert Burgerliche Kultur naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Offentlichkeit 1848 1914 Oldenbourg Wissenschaftsverlag Munchen 1998 S 295 Physiologische Briefe S 452f Paul Diepgen Heinz Goerke Aschoff Diepgen Goerke Kurze Ubersichtstabelle zur Geschichte der Medizin 7 neubearbeitete Auflage Springer Berlin Gottingen Heidelberg 1960 S 35 Menschenschopfung und Seelensubstanz S 25 Ueber Wissen und Glauben S 30 Kohlerglaube und Wissenschaft S 10 Kohlerglaube und Wissenschaft S 111 Daum Wissenschaftspopularisierung S 294 307 Vgl Jacob Moleschotts autobiographische Schrift Fur meine Freunde Lebenserinnerungen Emil Roth Giessen 1895 Ludwig Feuerbach Die Naturwissenschaft und die Revolution in Gesammelte Werke Band X Akademie Verlag Berlin 1967 2007 S 22 Zu Buchner vgl Michael Heidelberger Buchner Friedrich Karl Christian Ludwig Louis 1824 99 in Edward Craig Hrsg Routledge Encyclopedia of Philosophy Routledge London New York 1998 S 48 51 Otto Liebmann Kant und die Epigonen Eine kritische Abhandlung C Schobe Stuttgart 1865 Friedrich Albert Lange Die Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart Deutsche Bibliothek Berlin 1920 S 31 Friedrich Albert Lange Die Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart Deutsche Bibliothek Berlin 1920 S 56 Hermann Helmholtz Ueber das Sehen des Menschen In Hermann Helmholtz Gesammelte Schriften Band I Olms Hildesheim 2003 S 115 Daum Wissenschaftspopularisierung S 65 83 Kraft und Stoff S 181 Emil du Bois Reymond Uber die Grenzen des Naturerkennens 1872 Nachdruck u a in Emil du Bois Reymond Vortrage uber Philosophie und Gesellschaft Hamburg Meiner 1974 S 464 Ernst Haeckel Die Weltrathsel Kroner Leipzig 1908 S 13 Buchner an Haeckel 30 Marz 1875 in Christoph Knockerbeck Hrsg Carl Vogt Jacob Moleschott Ludwig Buchner Erst Haeckel Briefwechsel Basiliken Presse Marburg 1999 S 145 Karl Marx Herr Vogt in Marx Engels Werke Band 14 Dietz Berlin 1961 S 463 Vgl hierzu Frederick Gregory Scientific versus Dialectical Materialism A Clash of Ideologies in Nineteenth Century German Radicalism in ISIS 68 2 1977 S 206 223 Ernst Haeckel Anthropogenie Wilhelm Engelmann Leipzig 1874 S IX Ernst Haeckel Anthropogenie Wilhelm Engelmann Leipzig 1874 S XII Einen Uberblick bietet Michael Heidelberger Wie das Leib Seele Problem in den logischen Empirismus kam in Michael Pauen und Achim Stephan Hrsg Phanomenales Bewusstsein Ruckkehr zur Identitatstheorie Mentis Paderborn 2002 S 43 70 Ullin Place Is Consciousness a Brain Process in British Journal of Psychology 47 1956 S 44 50 und John J C Smart Sensations and Brain Processes in The Philosophical Review 68 1959 S 141 156 Eine Ausnahme bietet Hermann Lubbe Politische Philosophie in Deutschland Studien zu ihrer Geschichte Schwabe Basel 1963 Dieter Wittich Der deutsche kleinburgerliche Materialismus der Reaktionsjahre nach 1848 49 Dissertation unveroffentlicht Berlin 1960 Vogt Moleschott Buchner Schriften zum kleinburgerlichen Materialismus in Deutschland S LXIV Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany S 213 Renate Wahsner Der Materialismusbegriff in der Mitte des 19 Jahrhunderts in Kurt Bayertz Walter Jaeschke Myriam Gerhard Hrsg Weltanschauung Philosophie und Naturwissenschaft im 19 Jahrhundert Der Materialismusstreit Band 1 Meiner Hamburg 2007 S 73 Kurt Bayertz Was ist moderner Materialismus in Kurt Bayertz Walter Jaeschke Myriam Gerhard Hrsg Weltanschauung Philosophie und Naturwissenschaft im 19 Jahrhundert Der Materialismusstreit Band 1 Meiner Hamburg 2007 S 55 nbsp Dieser Artikel wurde am 3 Dezember 2009 in dieser Version in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Materialismusstreit amp oldid 230228526