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Die Geschichte der Juden in Estland begann im Vergleich mit anderen europaischen Landern relativ spat Trotz einzelner judischer Kontakte wahrend des Mittelalters gehorten Estland und Livland im Gegensatz zu Litauen nicht zum traditionellen Siedlungsgebiet der judischen Bevolkerung Europas und erst in der ersten Halfte des 19 Jahrhunderts entwickelte sich hier ein organisiertes judisches Leben Inhaltsverzeichnis 1 Fruhe Jahre 14 bis 19 Jahrhundert 2 Organisierung judischen Lebens 1830 bis 1918 3 Zwischenkriegszeit 1918 bis 1940 4 Zweiter Weltkrieg und Holocaust 1940 bis 1944 5 Sowjetische Besatzungszeit 1944 bis 1991 6 Republik Estland 1991 bis heute 7 Literatur 8 Weblinks 9 AnmerkungenFruhe Jahre 14 bis 19 Jahrhundert BearbeitenDie Eroberung und katholische Christianisierung der heidnischen Esten durch Danemark und den Deutschen Orden war im 13 Jahrhundert abgeschlossen Seit dem 14 Jahrhundert gibt es Berichte wonach einzelne Juden in Estland lebten 1 Die Kontakte mit dem Judentum blieben jedoch sporadisch Der Schwertbruderorden verbot ausdrucklich die Ansiedlung judischer Gemeinden in seinem Herrschaftsbereich Eine dauerhafte Prasenz von Juden ist erst seit dem 19 Jahrhundert nachweisbar Ein Erlass des russischen Zaren Alexander II von 1865 erlaubte es offiziell Juden sich in Estland anzusiedeln Es handelte sich vornehmlich um unter Zar Nikolaus I zwangs rekrutierte Kantonisten und ihre Abkommlinge Handler Handwerker und Juden mit hoherer Bildung die in der Folgezeit nach Estland kamen Organisierung judischen Lebens 1830 bis 1918 Bearbeiten nbsp Synagoge von Tartu Anfang des 20 Jahrhunderts Vor allem ehemalige zaristische Soldaten und judische Handwerker grundeten die ersten judischen Gemeinde auf dem Gebiet des heutigen Estland Die Gemeinde in Tallinn wurde 1830 mit etwa 40 Juden ins Leben gerufen 2 Die Gemeinde im livlandischen Tartu wurde 1866 gegrundet als sich funfzig judische Familien dort ansiedelten In der Folge wurden auch judische Gebetshauser errichtet Die Tallinner Synagoge wurde 1883 eingeweiht Die Synagoge von Tartu stammt von 1901 Beide fielen wahrend des Zweiten Weltkriegs Branden zum Opfer Mit der wachsenden judischen Bevolkerung in anderen Stadten Valga Parnu Viljandi wurden dort judische Gebetshauser errichtet und Friedhofe angelegt Judische Gemeindemitglieder versuchten seit dem zweiten Drittel des 19 Jahrhunderts ein judisches Bildungsnetzwerk zu schaffen In den 1880er Jahren wurden judische Grundschulen sowie eine Knabenschule in Tallinn zur Unterrichtung des Talmud gegrundet Wahrend in der Mitte des 19 Jahrhunderts die Mehrzahl der estnischen Juden noch Kleinhandler und Handwerker waren stiessen sie spater auch in akademische Zirkel vor Ab dem Ende des 19 Jahrhunderts wurden Juden zum Studium an der Universitat Tartu zugelassen Besonders der 1884 gegrundete Akademische Verein fur judische Geschichte und Literatur versuchte das judische Kultur und Bildungsleben in Estlands Universitatsstadt zu entwickeln 1917 wurde in Tartu der erste judische Theaterverein gegrundet Zwischenkriegszeit 1918 bis 1940 BearbeitenMit der staatlichen Unabhangigkeit Estlands vom Zarenreich 1918 anderten sich die Rahmenbedingungen fur die judische Gemeinde in Estland Etwa 200 Juden kampften im Estnischen Freiheitskrieg 1918 1920 auf estnischer Seite gegen Sowjetrussland darunter knapp 70 Freiwillige Im Mai 1919 tagte der erste Kongress der judischen Gemeinden in Estland der wichtige Weichen fur das kunftige judische Leben im Land stellte Der junge estnische Staat und seine Bevolkerung waren von Toleranz gegenuber den kulturellen religiosen und nationalen Minderheiten gepragt Die liberale Minderheitengesetzgebung Estlands begunstigte die kulturelle Entwicklung des Judentums Im Jahre 1919 wurde erstmals eine judische Schule in Tallinn gegrundet Im Februar 1924 wurde das neue Gebaude des judischen Gymnasiums in Tallinn in Anwesenheit des estnischen Staatsoberhaupts Konstantin Pats feierlich eingeweiht Verschiedene judische Vereine Klubs und Gesellschaften trugen zum offentlichen Leben in Estland bei Eine wichtige Rolle spielte die 1918 gegrundete und nach dem zionistischen Lyriker Chaim Nachman Bialik benannte Literatur und Theatergesellschaft in Tallinn Weitere Zirkel in Viljandi Narva Parnu und in anderen estnischen Stadten wirkten weit uber judische Kreise hinaus Im Jahre 1920 wurde der Maccabi Sportverein gegrundet Die estnische Judin Sara Teitelbaum 1910 1941 war 17 Mal estnische Leichtathletikmeisterin und stellte 28 nationale Rekorde auf Ihr Bruder Rubin Teitelbaum war zwischen 1927 und 1933 siebenmaliger estnischer Meister im Gewichtheben In den 1930er Jahren studierten etwa 100 Juden an der Universitat Tartu davon 44 Rechtswissenschaft und 18 Medizin Seit 1934 gab es an der Universitat auch einen Lehrstuhl fur Judische Studien Insgesamt funf judische Studentenvereine wurden in Tartu registriert Die zionistischen Jugendbewegungen Haschomer Hazair und Betar waren auch in Estland aktiv Einige estnische Juden reisten nach Palastina wo sie unter anderem am Ausbau der Kibbuzim von Kfar Blum und Geva mitwirkten Am 12 Februar 1925 verabschiedete die estnische Regierung das estnische Minderheitengesetz eines der liberalsten seiner Zeit in Europa Estland zahlte damals 3045 Juden womit das Quorum von 3000 Angehorigen zur Anerkennung als nationale Minderheit in Estland erreicht war Mit den Juden erhielten 1926 auch die Deutschbalten Estlandschweden und Russen diesen Status Im Jahre 1926 wurde der Judische Kulturrat Juudi Kultuurivalitsus als offizielle Vertretung der Juden in Estland gewahlt Von 1926 bis zur sowjetischen Besetzung Estlands 1940 stand ihm Hirsch Aisenstadt vor Rabbiner der judischen Gemeinde Tallinns war Dr Aba Gomer 1879 1941 der spater von den deutschen Nationalsozialisten ermordet wurde Im Jahre 1934 lebten in Estland 4381 Personen judischen Glaubens 0 4 der Bevolkerung 2203 Juden wohnten in Tallinn andere in Tartu 920 Valga 262 Parnu 248 Narva 188 und Viljandi 121 Mehr als die Halfte von ihnen war im Bereich von Handel und Dienstleistungen tatig Elf Prozent der judischen Bevolkerung verfugten uber eine hohere Bildung In Estland existierten sowohl ein judischer Arzteverband als auch judische Interessenvertretungen fur Handel und Industrie In Tallinn und Tartu gab es judische Genossenschaftsbanken Daneben unterhielten die judischen Gemeinden Wohlfahrtsverbande in Tallinn Tartu Narva Valga und Parnu Zweiter Weltkrieg und Holocaust 1940 bis 1944 Bearbeiten nbsp Der nationalsozialistische Bericht von Walter Stahlecker uber die 1941 erfolgten Hinrichtungen der Einsatzgruppe A bezeichnet Estland als judenfrei nbsp Denkmal auf dem Gebiet des ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslagers KloogaMit der sowjetischen Besetzung Estlands im Sommer 1940 endete die kulturelle und religiose Freiheit des Judentums in Estland Bereits im Juli 1940 wurde die Kulturautonomie abgeschafft Bis August 1940 wurden alle Vereine und Gesellschaften von den sowjetischen Besatzungsbehorden verboten Die judischen Betriebe wurden verstaatlicht Etwa zehn Prozent der judischen Bevolkerung Estlands 350 450 Personen wurden gemeinsam mit grossen Teilen der estnischen Elite am 14 Juni 1941 nach Sibirien deportiert Am 22 Juni 1941 begann der deutsche Uberfall auf die Sowjetunion Bereits zwei Wochen spater besetzte die Wehrmacht Estland Am 28 August 1941 fiel Tallinn in die Hande der Deutschen Vor der heranruckenden deutschen Armee gelang etwa 75 der judischen Bevolkerung Estlands die Flucht in die Sowjetunion oder nach Finnland Fast alle Juden die in Estland blieben wurden bis Ende 1941 von den Nationalsozialisten ermordet Darunter waren der einzige Rabbiner Estlands der Lehrstuhlinhaber fur Judische Studien an der Universitat Tartu zum Christentum ubergetretene Juden Alte und Kranke Die summarischen Totungsaktionen wurden bereits kurz nach der deutschen Besetzung Estlands durch das Sonderkommando 1a unter Martin Sandberger als Teil der von Walter Stahlecker gefuhrten Einsatzgruppe A begonnen Sie wurden von estnischen Kollaborateuren unterstutzt die den Juden kommunistische Umtriebe oder Sympathien fur die Sowjetunion unterstellten Zwischen 921 und 963 estnische Juden wurden nach nationalsozialistischen Angaben bis Ende 1941 von den Nazis ermordet Auf der Wannseekonferenz vom 20 Januar 1942 wurde Estland von den Nationalsozialisten als judenfrei bezeichnet Die Deutschen errichteten auf dem Gebiet Estlands uber zwanzig Konzentrations und Arbeitslager die vor allem fur auslandische Juden vorgesehen waren Die grossten waren das KZ Vaivara und dessen KZ Aussenlager Klooga In Kalevi Liiva in Nord Estland wurden mehrere tausend Juden ermordet Historiker schatzen dass insgesamt 10 000 Juden aus allen Teilen Mittel und Osteuropas auf estnischem Boden von den Nationalsozialisten getotet wurden Weniger als ein Dutzend estnische Juden uberlebten versteckt den Holocaust Mit dem Theologen Uku Masing und seiner Frau Eha sind zwei Esten fur die Rettung von Juden als Gerechte unter den Volkern geehrt worden Sowjetische Besatzungszeit 1944 bis 1991 BearbeitenNach der Befreiung der Uberlebenden Juden in Estland durch die Rote Armee 1944 schloss sich bis 1991 die zweite sowjetische Besetzung Estlands an Der Holocaust hatte die ursprungliche Gemeinde in Estland unwiederbringlich zerstort Wahrend einige wenige Juden aus Estland wieder in ihre Heimat zuruckkehrten zogen im Zuge der von den sowjetischen Behorden forcierten Russifizierung Estlands russische Juden in die Estnische Sozialistische Sowjetrepublik Allerdings kam in der atheistisch gepragten sowjetischen Gesellschaft judisches Leben nur am Rande oder im Untergrund zur Geltung Bis Ende der 1980er Jahre gab es keine judischen Gemeinden oder Vereine in Estland Erst im Marz 1988 mit der Offnung der sowjetischen Gesellschaft unter dem Generalsekretar der KPdSU Michail Gorbatschow wurde die Judische Kulturgesellschaft in Tallinn gegrundet Es war die erste ihrer Art in der gesamten Sowjetunion 1989 errichtete sie in Tallinn eine judische Sonntagsschule 1990 eine judische Mittelschule Andere judische Kulturgesellschaften in Tartu Narva und Kohtla Jarve sowie Sport und Sozialvereine folgten Republik Estland 1991 bis heute BearbeitenMit der Wiedererlangung der estnischen Unabhangigkeit im August 1991 und der Errichtung eines demokratischen Rechtsstaats nach dem Ende der Sowjetherrschaft stehen den judischen Organisationen wieder alle Freiheiten zu 1992 wurde die Judische Gemeinde Estlands Eesti Juudi Kogukond offiziell gegrundet Ein neues estnisches Minderheitengesetz vom Oktober 1993 sichert die Bewahrung der judischen Identitat 2002 richtete die Judische Gemeinde einen judischen Kindergarten in Tallinn ein Am 16 Mai 2007 wurde in Anwesenheit des estnischen Staatsprasidenten Arnold Ruutel feierlich die moderne Synagoge von Tallinn eingeweiht Der Komplex umfasst das Judische Gemeindezentrum eine Mikwe und ein koscheres Restaurant Leiter der Synagoge ist Rabbiner Shmuel Kot von der chassidischen Chabad Bewegung Die judische Gemeinde in Estland hat derzeit etwa 1000 Mitglieder in der Mehrzahl Rentner Grosste Gemeinde ist mit Abstand Tallinn Daneben gibt es kleinere judische Gemeinden in Tartu Narva Kohtla Jarve und Parnu Durch Zuwanderung in der Zeit der Sowjetunion ist die Mehrheit der Gemeindemitglieder russischsprachig Die Judische Gemeinde Estlands ist Mitglied im Judischen Weltkongress im Europaischen Judischen Kongress und im Europaischen Rat der Judischen Gemeinden Literatur BearbeitenAnton Weiss Wendt On the Margins About the History of Jews in Estonia Central European University Press 2017 ISBN 978 963 386 165 3 Anton Weiss Wendt Murder Without Hatred Estonians and the Holocaust Syracuse University Press 2009 ISBN 978 0 8156 3228 3 Eiki Berg The peculiarities of Jewish settlement in Estonia PDF Datei 589 kB In GeoJournal 33 4 August 1994 S 465 470 Nosson Genss Zur Geschichte der Juden in Eesti Tartu 1933Weblinks BearbeitenArchiv des estnischen Judentums estnisch russisch englisch Estonian Jewish Center Geschichte der Juden in Estland Eesti Instituut The Jewish Community of Estonia Eugenia Gurin Loov PDF Datei 2 12 MB Jews in Estonia Eugenia Gurin Loov PDF Datei 39 kB ncsj Estonia pageAnmerkungen Bearbeiten Der moglicherweise judische Backer Johannes Jode wird 1333 im Aeltesten Denkelbuch genannt ein Jude namens Pawel findet 1411 und 1413 Erwahnung in zwei Urkunden Eine nur kurzlebige judische Gemeinde in Tallinn wird bereits fur das Jahr 1795 erwahntGeschichte der Juden in Europa Judentum in Albanien Geschichte der Juden in Andorra Geschichte der Juden in Belarus Geschichte der Juden in Belgien Juden in Bosnien und Herzegowina Geschichte der Juden in Bulgarien Geschichte der Juden in Danemark Geschichte der Juden in Deutschland Geschichte der Juden in Estland Judentum in Finnland Geschichte der Juden in Frankreich Geschichte der Juden in Griechenland Geschichte der Juden in Irland Geschichte 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