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Sozialistengesetz ist die Kurzbezeichnung fur das Gesetz gegen die gemeingefahrlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie das von 1878 bis 1890 im Deutschen Reich galt und wahrend dieser Zeit mehrfach verlangert wurde Wegen der verschiedenen Einzelbestimmungen in 30 Paragraphen der viermaligen Verlangerung und wegen kleiner Modifizierungen spricht man oft auch im Plural von den Sozialistengesetzen Reichsgesetzblatt mit dem Gesetz gegen die gemeingefahrlichen Bestrebungen der SozialdemokratieBasisdatenTitel Gesetz gegen die gemeingefahrlichen Bestrebungen der SozialdemokratieKurztitel Sozialistengesetz ugs Art ReichsgesetzGeltungsbereich Deutsches ReichRechtsmaterie Staatsrecht Polizeirecht NebenstrafrechtErlassen am 21 Oktober 1878 RGBl S 351 Inkrafttreten am 22 Oktober 1878Letzte Anderung durch Satz 1 G vom 18 Marz 1888 RGBl S 109 Inkrafttreten derletzten Anderung 9 April 1888 Art 2 Satz 3 RV Ausserkrafttreten 30 September 1890 Satz 1 G vom 18 Marz 1888 RGBl S 109 Bitte den Hinweis zur geltenden Gesetzesfassung beachten Das Gesetz verbot sozialistische sozialdemokratische kommunistische Vereine Versammlungen und Schriften deren Zweck der Umsturz der bestehenden Staats und Gesellschaftsordnung sei Aus dem Sozialistengesetz resultierte die Verlagerung sozialdemokratischer Aktivitaten in den Untergrund bzw ins Ausland sowie Massenverhaftungen und ausweisungen Lediglich die Sozialdemokraten im Reichstag blieben aufgrund ihrer parlamentarischen Immunitat unangetastet Trotz der massiven Repressionspolitik war die Kandidatur und Wahl sozialdemokratischer Politiker als Privatpersonen weiterhin moglich und die einzige legale Moglichkeit zur politisch rechtlichen Interessenvertretung 1 Die neuere Forschung verweist fur eine angemessene Analyse der Sozialistengesetze auf die Bedeutung des internationalen Kontextes wo Sozialisten zum Teil scharferen Repressionen ausgesetzt waren als im Deutschen Reich 2 Huldigung der Freiheit Zur Erinnerung an die Reichstagswahl 1893 Die Sozialisten fuhlten sich nach dem Ende des Sozialistengesetzes als Sieger Zeichnung von Hans Gabriel Jentzsch in Der Wahre Jacob Nr 183 28 Juli 1893 S 1516 f Inhaltsverzeichnis 1 Vorgeschichte 2 Die Attentate auf den Kaiser als Anlass 2 1 Erster Gesetzentwurf 2 2 Zweiter Gesetzentwurf nach der Reichstagswahl und Verabschiedung 3 Auswirkungen 4 Die Aufhebung des Sozialistengesetzes 5 Nachfolgende Entwicklung Die Rolle der SPD bis 1914 6 Internationaler Kontext 7 Literatur 8 Weblinks 9 EinzelnachweiseVorgeschichte BearbeitenSchon vor der Grundung des Deutschen Reiches als konstitutionelle Monarchie 1871 waren zwei zunachst noch konkurrierende sozialdemokratische Parteien aufgebaut worden der reformorientierte Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ADAV gegrundet 1863 auf Initiative von Ferdinand Lassalle und die im marxistischen Sinne revolutionar eingestellte Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP gegrundet 1869 von Wilhelm Liebknecht August Bebel und anderen Kurz nach der Reichsgrundung trat der preussenfreundliche ADAV Prasident Johann Baptist von Schweitzer zuruck nachdem geheime Absprachen mit der konservativ monarchistisch gepragten preussischen Regierung aufgedeckt worden waren In der Folge naherten sich die beiden Parteien einander an Beim gemeinsamen Parteitag 1875 in Gotha vereinigten sie sich zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands SAP die 1890 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD umbenannt werden sollte nbsp Wilhelm Liebknecht in der Mitte im Zeugenstand stehend August Bebel rechter Bildrand im Profil und Adolf Hepner hinter Bebel als Angeklagte beim Leipziger Hochverratsprozess 11 26 Marz 1872 Die Begriffe Sozialismus und Sozialdemokratie wurden im damaligen Sprachverstandnis in der Regel als Synonyme verstanden und waren stark beeinflusst von den philosophischen politischen und okonomischen Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels die zu dieser Zeit im Londoner Exil lebten Entsprechend der revolutionaren Theorie beanspruchte die Sozialdemokratie bzw ihre Partei im Deutschen Reich die SAP die parteipolitische Interessenvertretung der Arbeiterbewegung zu sein Sie strebte eine Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterklasse und letztlich eine Uberwindung der gegebenen sozialen und politisch undemokratischen Herrschaftsstrukturen an Wegen ihrer Opposition gegen den Deutsch Franzosischen Krieg von 1870 71 und ihrer Solidaritat mit der revolutionaren Pariser Kommune 1871 wurden August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1872 beim Leipziger Hochverratsprozess zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt Reichskanzler Otto von Bismarck im Grunde ein am monarchischen Prinzip ausgerichteter und demokratischen Ideen gegenuber reserviert bis ablehnend eingestellter Konservativer betrachtete die SAP von Anfang an als Reichsfeinde und agierte schon vor dem Sozialistengesetz mit repressiven Massnahmen gegen die Sozialdemokratie und die noch junge Gewerkschaftsbewegung Die Attentate auf den Kaiser als Anlass Bearbeiten nbsp Reichskanzler Otto von Bismarck initiierte das Sozialistengesetz Fotografie von 1886 nbsp Karikatur der Berliner Wespen 1878 Bismarck zwangt die Freiheit ins Prokrustesbett1878 wurden zwei erfolglose Attentate auf Kaiser Wilhelm I verubt am 11 Mai von Max Hodel und am 2 Juni von Karl Eduard Nobiling Bismarck nahm diese Anschlage zum Anlass mit dem Sozialistengesetz rigoroser und wirkungsvoller gegen die in der Arbeiterschaft zunehmend einflussreicher werdende Sozialdemokratie durchzugreifen Obwohl Hodel kurz vor seinem Anschlag aus der SAP ausgeschlossen worden war und Nobilings Attentat von personlichen Wahnvorstellungen geleitet war liess Bismarck verbreiten dass die Attentate auf die Sozialdemokratie zuruckzufuhren seien Eine uber die beiden Einzeltater hinausgehende Verbindung der Attentate mit der Sozialdemokratie war aber und ist bis heute nicht nachweisbar Erster Gesetzentwurf Bearbeiten Bereits im Mai 1878 nach dem ersten Attentat legte Bismarck einen Entwurf des Sozialistengesetzes vor der jedoch mit grosser Mehrheit abgelehnt wurde 3 Eugen Richter begrundete die Ablehnung der Deutschen Fortschrittspartei unter anderem damit dass Verbote und Polizeimassnahmen die geistige Bekampfung der Sozialdemokratie unmoglich machen wurden 4 5 Der Herr Minister mag sagen ja die Mittel reichen nicht es muss ausserdem noch etwas geschehen zur Bekampfung der Agitation aber meine Herren in dem Augenblick wo Sie die eine Partei mundtodt machen da machen Sie es doch ganz unmoglich diese Partei zu bekampfen wenigstens wirksam zu bekampfen in ihrer Agitation Es wird ja diese ganze Kraft gelahmt und doch mussen wir der Meinung sein dass schliesslich allein auf diesem Weg der Ueberzeugung diese Bewegung eingeschrankt werden kann Es hilft nun einmal nichts diese Bewegung muss auf demselben Wege wieder hinaus aus dem deutschen Volke wo sie hineingekommen ist ein anderer Weg fuhrt nicht zum Ziel Eugen Richter Rede im Deutschen Reichstag vom 23 Mai 1878 Zweiter Gesetzentwurf nach der Reichstagswahl und Verabschiedung Bearbeiten Beim zweiten Attentat am 2 Juni 1878 wurde der Kaiser erheblich verletzt Bismarck nutzte die darauf einsetzende offentliche Hysterie dazu den Reichstag aufzulosen und einen Vernichtungskrieg gegen die Sozialdemokraten zu inszenieren denen man geistige Mittaterschaft vorwarf 6 Im Juli passten sich die meisten Nationalliberalen im Wahlkampf dem konservativen Rechtsruck an Im neu gewahlten Reichstag wurde ein verscharfter Entwurf des Sozialistengesetzes vorgelegt es kam zu Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Fraktionen Die Zentrumspartei die im Kulturkampf Diskriminierungserfahrungen hatte machen mussen lehnte das Gesetz ab weil sein Gegenstand zu vage definiert war Der Abgeordnete Peter Reichensperger befurchtete dass sich nach Annahme niemand sicher sein konnte nicht als Reichsfeind ausgegrenzt zu werden 7 Am 19 Oktober 1878 setzte sich der verscharfte Gesetzentwurf mit 221 zu 149 Stimmen durch Fur das Gesetz stimmten neben den Nationalliberalen hauptsachlich die Abgeordneten der Freikonservativen und der Deutschkonservativen Partei dagegen die vom Zentrum von der linksliberalen Deutschen Fortschrittspartei und die acht SAP Abgeordneten 8 9 Nach der Zustimmung des Bundesrates am 21 Oktober und der Unterzeichnung durch Kaiser Wilhelm I erhielt das Gesetz am 22 Oktober 1878 mit seiner Verkundung 10 Rechtskraft Es galt durch insgesamt vier Verlangerungen bis zum 30 September 1890 Auswirkungen Bearbeiten nbsp Illustration zum Artikel Uberfuhrte Sozialdemokraten in der Zeitschrift Daheim Nr 30 1881 Originaler Text zum Bild Im Namen des Gesetzes Auflosung einer Sozialistenversammlung zu Leipzig Unter anderem abgebildete Personen Wilhelm Hasenclever am Tisch sitzend 2 von rechts Wilhelm Liebknecht stehend vor dem Fenster August Bebel vor Liebknecht sitzend 11 Aufgrund des zunachst auf zweieinhalb Jahre befristeten und danach regelmassig verlangerten Sozialistengesetzes wurden Unterverbande Druckschriften und Versammlungen der Sozialdemokraten namentlich der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP und ihr nahestehender Organisationen vor allem Gewerkschaften verboten Verstosse gegen das Gesetz wurden oft mit Geldstrafen oder auch mit Gefangnishaft geahndet Viele Sozialisten setzten sich unter dem politischen Druck des Gesetzes ins auslandische Exil ab vor allem nach Frankreich der Schweiz oder England Unter ihnen war mit der damals Mitte 20 jahrigen Clara Zetkin auch eine spater prominente Wegbereiterin der sozialistischen Frauenbewegung Allerdings konnten weiterhin Einzelpersonen bei Wahlen fur die Sozialdemokratie kandidieren so dass deren Fraktionen sich im Rahmen der parlamentarischen Arbeit des Reichstages bzw der Landtage legal betatigen konnten Unter den neun Reichstagsabgeordneten der SAP sassen bereits seit 1874 teils schon als Vertreter ihrer Vorgangerorganisationen beispielsweise Wilhelm Liebknecht August Bebel Wilhelm Hasenclever und Wilhelm Hasselmann im Parlament des Kaiserreichs Ausserhalb des Reichstags war ein offentliches Auftreten fur die Ziele der SAP allerdings mit erheblichem juristischem Risiko verbunden Nach 28 des Sozialistengesetzes wurden 797 Sozialdemokraten als Agitatoren aus Orten ausgewiesen in denen der kleine Belagerungszustand verhangt wurde darunter als Hochburgen der Sozialisten bekannte Stadte wie Berlin Leipzig Hamburg und Frankfurt am Main Das Sozialistengesetz bekampfte die Sozialdemokraten als Reichsfeinde und erschwerte nachhaltig die Integration von Arbeitern und Sozialdemokratie in Staat und Gesellschaft Die faktische politische Ausburgerung der sozialdemokratischen Opposition ging mit einer sozialen Ausburgerung einher der zufolge Sozialdemokraten materiell entrechtet und am Arbeitsplatz verfolgt wurden Die Verfolgung weckte die Solidaritat grosser Teile der Arbeiterschaft und fuhrte seit 1881 zunehmend zu Wahlerfolgen fur die formell als Einzelpersonen auftretenden Kandidaten der SAP Regional wurden verschiedene Arbeitersportvereine oder Naturfreundegruppen als Tarnorganisationen an Stelle der verbotenen Partei oder Gewerkschaftsgruppen gebildet in denen die politische Arbeit wenngleich mit hohem Risiko behaftet fortgesetzt wurde Einige bedeutende Reichstagsabgeordnete der Sozialdemokratie wahrend der Zeit der Sozialistengesetze nbsp Wilhelm Liebknecht 1826 1900 nbsp August Bebel 1840 1913 nbsp Wilhelm Hasenclever 1837 1889 legte 1888 sein Mandat krankheitsbedingt nieder nbsp Wilhelm Hasselmann 1844 1916 wurde 1880 aus der SAP ausgeschlossenInnerhalb der Sozialdemokratie riefen insbesondere sozialrevolutionare Politiker des linken Flugels ihnen voran der sich bereits im britischen Exil aufhaltende Johann Most und der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Hasselmann zu auch gewaltsamem Widerstand gegen die Unterdruckungspraxis der Behorden auf wobei sie sich beispielsweise positiv auf die Attentate russischer Sozialrevolutionare gegen Zar Alexander II bezogen Derartige Aufrufe wurden jedoch von der Fuhrung der SAP als anarchistisch motiviert und den Zielen der Sozialdemokratie entgegenstehend abgelehnt Most und Hasselmann wurden 1880 auf dem ersten Exilparteitag der SAP auf Schloss Wyden im Schweizer Kanton Zurich insbesondere auf Betreiben von Ignaz Auer und August Bebel aus der Partei ausgeschlossen Darauf gab Hasselmann sein formell bis 1881 gultiges Reichstagsmandat auf und wanderte in die USA aus Mit dem Ausschluss der beiden bekanntesten Protagonisten des Anarchismus in der deutschen Sozialdemokratie hofften deren fuhrende Vertreter sich des radikal sozialrevolutionaren Flugels der Partei zu entledigen und damit der antisozialistischen Propaganda der regierungsfreundlichen Parteien und deren Presse die Grundlage zu entziehen nbsp Erstausgabe der Zeitung Der Sozialdemokrat vom 5 Oktober 1879In der Folgezeit konnten sozialistische Reichstagskandidaten wieder Stimmenzuwachse verbuchen Zusatzlich zu den schon vertretenen Mandatstragern wurden beispielsweise Karl Frohme 1881 oder Paul Singer 1884 fur die Partei in den Reichstag gewahlt Nachdem die von Johann Most aus dem Londoner Exil verbreitete Zeitschrift Freiheit mit dem Parteiausschluss Mosts ihren Status als Organ der deutschen Sozialdemokratie verloren und sich inhaltlich in eine auch offen anarchistisch agitierende Publikation verandert hatte wurde sie zunehmend abgelost durch die Zeitung Der Sozialdemokrat die sich zum Hauptorgan der deutschen und der internationalen Sozialdemokratie wahrend des Sozialistengesetzes entwickelte Der Sozialdemokrat erschien seit 1879 von Paul Singer redigiert in Zurich und wurde illegal im Reich verbreitet Ab 1887 wurde die Zeitung in London gedruckt Bismarck der durchaus die Brisanz der Sozialen Frage erkannte und aus seiner Niederlage im Kulturkampf lernen wollte wusste um die relative Begrenztheit repressiver Massnahmen Daher setzte er mit den Reformkraften im Reich die fur ihre Zeit fortschrittliche Sozialgesetzgebung durch nbsp Die sozialistische Reichstagsfraktion im Jahr 1889 Sitzend von links Georg Schumacher Friedrich Harm August Bebel Heinrich Meister Karl Frohme Stehend Johann Heinrich Wilhelm Dietz August Kuhn Wilhelm Liebknecht Karl Grillenberger Paul Singer Ein wesentliches Ziel des Sozialistengesetzes die Reduzierung der Stimmen fur die Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen wurde jedoch nicht erreicht im Gegenteil Hatten die Sozialdemokraten 1881 nur 311 961 Stimmen erhalten waren es 1884 bereits 549 990 1887 763 128 Stimmen 1890 sogar 1 427 000 Stimmen Mit letzterem Ergebnis wurde die SAP noch vor ihrer Umbenennung in SPD zum ersten Mal die wahlerstarkste Partei des Reiches Auch international war die deutsche Sozialdemokratie zur weltweit einflussreichsten sozialistischen Partei ihrer Zeit geworden ein weiterer wichtiger Hinweis auf die relative Schwache der Sozialistengesetze Nach der Spaltung der Internationalen Arbeiterassoziation im Jahr 1872 und deren bis 1876 erfolgten Auflosung aufgrund des Konflikts zwischen dem anarchistischen Flugel um Michail Bakunin und dem marxistischen Flugel um Karl Marx war es nach Marx Tod 1883 vor allem Liebknechts Bestreben zu einer neuen Einheit der internationalen Arbeiterbewegung zu kommen Darin war er sich mit Friedrich Engels der Marx ideelles Erbe ubernommen hatte einig Bei der Grundung der Sozialistischen Internationale 1889 in Paris war die sozialistische Bewegung aus dem Deutschen Reich mit 85 der 400 Delegierten aus 20 Staaten am Grundungskongress dieser Zweiten Internationale vom 14 bis 20 Juli 1889 beteiligt unter ihnen neben August Bebel und Eduard Bernstein auch Carl Legien als ein Vertreter der deutschen Gewerkschaftsbewegung und mit Clara Zetkin eine Vertreterin der sozialistischen Frauenbewegung zu jener Zeit Exilantin in Paris Liebknecht leitete die deutsche Delegation und war zusammen mit dem franzosischen Sozialisten Edouard Vaillant Vorsitzender des Kongresses Die Aufhebung des Sozialistengesetzes Bearbeiten nbsp Plakat aus dem Jahr 1890 zum Fall des SozialistengesetzesDas Sozialistengesetz war ein befristetes Ausnahmegesetz das durch Reichsgesetze mehrfach verlangert wurde 31 Mai 1880 28 Mai 1884 20 April 1886 und 18 Marz 1888 12 Angesichts des gewachsenen Einflusses der SAP war das Sozialistengesetz im Deutschen Reich langfristig nicht mehr aufrechtzuerhalten Am 25 Januar 1890 scheiterte die weitere Verlangerung im Reichstag Fur die Verlangerung des Sozialistengesetzes stimmten die Abgeordneten der Deutschen Reichspartei und die Nationalliberalen Gegen die Verlangerung des Sozialistengesetzes stimmten die Abgeordneten des Zentrums der Deutsch Hannoverschen Partei der Freisinnigen Partei der Deutschkonservativen und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands sowie Minderheitenabgeordnete die die Polen Danen und Elsass Lothringer vertraten siehe Liste der Reichstagsabgeordneten der 7 Wahlperiode 13 Die Deutsche Volkspartei die das Sozialistengesetz bekampft hatte war in der 7 Wahlperiode nicht im Reichstag vertreten Das Scheitern einer auf dauerhafte Gultigkeit angelegten und auch sonst verscharften Sozialistengesetzvorlage durch Bismarck sowie das Erstarken der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen am 20 Februar 1890 spielten eine ausschlaggebende Rolle beim Sturz Bismarcks bzw seiner Entlassung durch den 1888 inthronisierten Kaiser Wilhelm II Bereits 1888 war Bismarck mit einer Gesetzesvorlage gescheitert der zufolge Sozialdemokraten formlich als Deutsche hatten ausgeburgert werden konnen Ursache des Scheiterns war nicht zuletzt dass die Abgeordneten der SAP die skrupellosen Praktiken der politischen Polizei im Reichstag enthullten Insgesamt ging die Sozialdemokratie gestarkt aus den Auseinandersetzungen hervor In den ersten Reichstagswahlen nach dem Ende des Sozialistengesetzes am 15 Juni 1893 erhielt die Sozialdemokratische Partei so viele Stimmen wie nie zuvor 23 4 Sozialisten feierten daher diese Reichstagswahlen als grossen Sieg der Freiheit und des Friedens s Abbildung Huldigung der Freiheit Durch die Exporterfolge der deutschen Industrie in den Jahren nach 1895 der Beginn einer langen Aufschwungsbewegung mit steigendem Arbeitskraftebedarf verlor die sozialpolitische Konfliktsituation zudem ihre explosive Spannung Nachfolgende Entwicklung Die Rolle der SPD bis 1914 BearbeitenNach der Aufhebung des Sozialistengesetzes blieb die Sozialdemokratie die sich seit dem Erfurter Programmparteitag von 1891 SPD nannte ein ernstzunehmender Machtfaktor Aus der Reichstagswahl 1912 ging sie schliesslich mit 34 8 Wahlerstimmen bzw 110 Reichstagsmandaten als klarer Wahlsieger hervor Nach dem Tod August Bebels 1913 wurde der gemassigt reformorientierte Friedrich Ebert Parteivorsitzender neben Hugo Haase Der Geist des Sozialistengesetzes wirkte indessen auch nach 1890 in Politik und Gesellschaft des Deutschen Reiches fort So versuchten die Regierungen im Reich und in Preussen nach dem Auslaufen des Sozialistengesetzes neue antisozialistische Gesetze durchzusetzen Dazu gehorten vor allem die Umsturzvorlage 1894 das sogenannte kleine Sozialistengesetz in Preussen 1897 und insbesondere die Zuchthausvorlage 1899 mit der ein Sonderstrafrecht fur Arbeiter geschaffen werden sollte um die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften und damit auch die Sozialdemokratie zu schwachen Alle diese Gesetzesvorlagen scheiterten Dennoch wurden die Sozialdemokraten noch lange Zeit als vaterlandslose Gesellen diffamiert unter anderem 1907 bei der sogenannten Hottentottenwahl 14 Erst bei Beginn des Ersten Weltkrieges im August 1914 als es darum ging die Volksmassen fur den Krieg zu mobilisieren uberdachte Kaiser Wilhelm II als oberster Kriegsherr Deutschlands die auch von ihm bis zuletzt vertretene Strategie der politischen Isolierung der Sozialdemokratie Er verkundete mit Blick auf die Sozialdemokraten er kenne keine Parteien mehr sondern nur noch Deutsche Daraufhin stimmte die SPD Reichstagsfraktion geschlossen fur die ersten Kriegskredite und leitete die Burgfriedenspolitik ein Internationaler Kontext BearbeitenDer Historiker Ulrich Herbert verweist darauf dass in Frankreich die Unterdruckung der Sozialdemokratie brutaler war So forderten die Sozialistengesetze keine Todesopfer auch wenn sie bei etwa 900 Aktivisten zu einer Verbannung und bei 1500 Personen zu teilweise langen Haftstrafen fuhrten In Frankreich hingegen kam es allein bei der Niederschlagung des Kommuneaufstands 1871 zu mehr als 1000 Toten 15 Thomas Nipperdey schreibt Verglichen freilich mit den Blutorgien die in Frankreich die Niederschlagung der Kommune begleitet haben und dem anschliessenden Rachefeldzug ist man muss das Ungewohnliche sagen das Sozialistengesetz ein Kinderspiel gewesen 16 In den USA starben im Eisenbahnstreik von 1877 uber 100 Menschen in Folge des Haymarket Riot von 1886 wurden vier Arbeiterfuhrer gehangt die Niederschlagung des Pullman Streiks von 1894 forderte wie Dutzende anderer Streiks durch Hinzuziehung von Bundestruppen und paramilitarischer Polizeidienste zahlreiche Tote und Verletzte 17 Weder in Europa noch in Nordamerika ubernahm eine Arbeiterpartei vor dem Ersten Weltkrieg die Macht Literatur BearbeitenEduard Bernstein Hrsg Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung Ein Kapitel zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie 3 Bande Buchhandlung Vorwarts Berlin 1907 Joseph Belli Die rote Feldpost unterm Sozialistengesetz Mit einer Einleitung Erinnerungen aus meinen Kinder Lehr und Wandertagen J H W Dietz Nachfolger Stuttgart 1912 online August Bebel Aus meinem Leben Band 3 Herausgegeben von Karl Kautsky J H W Dietz Nachfolger Stuttgart 1914 Bruno Altmann Paul Kampffmeyer Vor dem Sozialistengesetz Krisenjahre des Obrigkeitsstaates Der Bucherkreis Berlin 1928 fes de Paul Kampffmeyer Unter dem Sozialistengesetz J H W Dietz Nachfolger Berlin 1928 online Richard Lipinski Dokumente zum Sozialistengesetz Materialien nach amtlichen Akten bearbeitet Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Berlin 1928 fes de PDF 1 6 MB Ernst Engelberg Politik und Rote Feldpost 1878 1890 Akademie Verlag Berlin 1959 Wolfgang Pack Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878 1890 Beitrage zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Band 20 ISSN 0522 6643 Droste Dusseldorf 1961 100 Jahre Gesetz gegen die Sozialdemokratie Vorwarts Sonderausg September 1978 Vorwarts Bonn 1978 Helga Berndt Biographische Skizzen von Leipziger Arbeiterfunktionaren Eine Dokumentation zum 100 Jahrestag des Sozialistengesetzes 1878 1890 Akademie Verlag Berlin 1978 Lizenzausgabe Topos Verlag Vaduz 1979 ISBN 3 289 00205 5 Horst Bartel Wolfgang Schroder Gustav Seeber Das Sozialistengesetz 1878 1890 Illustrierte Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse gegen das Ausnahmegesetz Dietz Berlin 1980 Christof Rieber Das Sozialistengesetz und die Sozialdemokratie in Wurttemberg 1878 1890 Schriften zur sudwestdeutschen Landeskunde Band 19 Muller amp Graff Stuttgart 1984 ISBN 3 87532 078 6 Zugleich Tubingen Universitat Dissertation 1982 Rainald Maass Die Generalklausel des Sozialistengesetzes und die Aktualitat des praventiven Verfassungsschutzes Heidelberger Forum 69 Decker u Muller Heidelberg 1990 ISBN 3 8226 2390 3 Presse und Publizistik unterm Sozialistengesetz 1878 1890 Teil I Die Arbeiterpresse Teil II Presse Publizistik Verlage Pankower Vortrage 59 und 60 Helle Panke Berlin 2004 Heidi Beutin Wolfgang Beutin Holger Malterer Friedrich Mulder Hrsg 125 Jahre Sozialistengesetz Beitrage der offentlichen wissenschaftlichen Konferenz vom 28 30 November 2003 in Kiel Bremer Beitrage zur Literatur und Ideengeschichte Band 45 Peter Lang Frankfurt am Main u a 2004 ISBN 3 631 52341 6 Wolfgang Beutin Nicht zahlen wir den Feind nicht die Gefahren all Die unter dem Sozialistengesetz verbotene und verfolgte Literatur In Jahrbuch fur Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung Heft 2 2004 ISSN 1610 093X S 51 61 Juristische Aufsatze Rainald Maass Entstehung Hintergrund und Wirkung des Sozialistengesetzes In Juristische Schulung JuS Band 30 Nr 9 1990 S 702 706 Hans Ernst Bottcher Das Recht als Waffe im politischen Kampf das Sozialistengesetz unter juristischem Aspekt In Heidi Beutin Wolfgang Beutin Holger Malterer Friedrich Mulder Hrsg 125 Jahre Sozialistengesetz Bremer Beitrage zur Literatur und Ideengeschichte 45 Beitrage der offentlichen wissenschaftlichen Konferenz vom 28 30 November 2003 in Kiel Lang Frankfurt am Main u a 2004 ISBN 3 631 52341 6 S 75 85 Weblinks Bearbeiten nbsp Wikisource Gesetz gegen die gemeingefahrlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie Quellen und Volltexte nbsp Wikisource Themenseite Sozialdemokratie Quellen und Volltexte Informationen in der Preussen Chronik des rbb Originaltext des Sozialistengesetzes auf documentArchiv de Thema Sozialistengesetz mit Unterseiten in der Bibliothek der Friedrich Ebert Stiftung Bonn vor 100 Jahren Gesetz gegen die gemeingefahrlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie aus dem Archiv der sozialen Demokratie AdsD der Friedrich Ebert Stiftung zum Sozialistengesetz Sozialistengesetz Deutsches Historisches MuseumEinzelnachweise Bearbeiten Ulrich Herbert Geschichte Deutschlands im 20 Jahrhundert Beck Munchen 2014 S 76 Willy Albrecht Ende der Illegalitat Das Auslaufen des Sozialistengesetzes und die deutsche Sozialdemokratie im Jahre 1890 S 8 ff Vortrag zum 100 Jahrestag des Auslaufens des Sozialistengesetzes am 30 September 1990 in der Reichsprasident Friedrich Ebert Gedenkstatte publiziert November 1990 Digitalisat PDF 590 kB auf der Webprasenz der Friedrich Ebert Stiftung Ulrich Herbert Geschichte Deutschlands im 20 Jahrhundert Beck Munchen 2014 S 76 vgl auch Haymarket Riot Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen Anlage Nr 274 im Reichstagsprotokoll sowie die Beratungen dazu bis zum Scheitern des Gesetzentwurfs am 24 Mai 1878 in digitalisierter Form beim Munchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek Eugen Richter gegen das Sozialistengesetz 1 Version Stenographische Berichte uber der Verhandlungen des Deutschen Reichstags 3 Legislaturperiode 1878 2 54 Sitzung S 1522 Hans Ulrich Wehler Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd 3 Von der Deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 1914 C H Beck Munchen 1995 ISBN 3 406 32263 8 S 902 f Ulrich von Hehl Peter Reichensperger 1810 1892 Schoningh Paderborn 2000 ISBN 3 506 70877 5 S 139 Vgl Reichstagsprotokoll der namentlichen Gesamtabstimmung uber den Gesetzesentwurf am 19 Oktober 1878 S 387 bis Seite 389 die Protokolle der 3 Lesung des Gesetzes finden sich ab Seite 333 in digitalisierter Form beim Munchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek Jurgen Schmidt Das Sozialistengesetz Demokratiegeschichtlicher Sundenfall des deutschen Kaiserreichs Webseite der AG Orte der Demokratiegeschichte 2020 im Deutschen Reichs Anzeiger und Koniglich Preussischen Staats Anzeiger sowie im Reichs Gesetzblatt Nr 34 Stadtgeschichtliches Museum Leipzig Ernst Rudolf Huber Hrsg Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Band 2 Stuttgart 1964 S 368 Anm 4 Deutscher Reichstag Verhandlungen des Deutschen Reichstages 7 Wahlperiode In S 1253 1255 25 Januar 1890 abgerufen am 14 Juni 2019 Zur Reichstagswahl 1907 und dem Verhaltnis Sozialdemokratie Kolonialismus vgl Ralf Hoffrogge Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland von den Anfangen bis 1914 S 162 ff Stefan Berger Marxismusrezeption als Generationserfahrung im Kaiserreich In Klaus Schonhoven Bernd Braun Hrsg Generationen in der Arbeiterbewegung Oldenbourg Munchen 2005 S 193 209 hier S 197 f Ulrich Herbert Geschichte Deutschlands im 20 Jahrhundert Beck Munchen 2014 S 76 Thomas Nipperdey Deutsche Geschichte 1866 1918 Band II Machtstaat vor der Demokratie Munchen 1992 S 356 Tindall George Brown David Emory Shi America A narrative history 12 Auflage Norton amp Company New York 2010 S 606 615 Normdaten Werk GND 1186996196 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sozialistengesetz amp oldid 236558587