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Unter kultureller Identitat versteht man das Zugehorigkeitsgefuhl eines Individuums oder einer sozialen Gruppe zu einem bestimmten kulturellen Kollektiv Dies kann eine Gesellschaft ein bestimmtes kulturelles Milieu oder auch eine Subkultur sein Identitat stiftend ist dabei die Vorstellung sich von anderen Individuen oder Gruppen kulturell zu unterscheiden das heisst in einer bestimmten Anzahl gesellschaftlich oder geschichtlich erworbener Aspekte wie Sprache Religion Nation Wertvorstellungen Sitten und Gebrauchen oder in sonstigen Aspekten der Lebenswelt Die individuellen Weltanschauungen die eine kulturelle Orientierung pragen sind heterogen und konnen durchaus auch zueinander im Widerspruch stehen Kulturelle Identitat entsteht also aus der diskursiven Konstruktion des Eigenen die durch den Gegensatz zu einem wirklichen oder bloss vorgestellten Anderen hervorgerufen wird Dieser Vorgang ist stark von Gefuhlen gepragt wobei das Eigene ein Sicherheits Geborgenheits und Heimatgefuhl vermittelt Gegenuber dem Anderen oder dem Fremden das oft erst im Prozess der Bildung von Identitat als solches definiert wird Othering kann sich Nichtwahrnehmung Verunsicherung Abneigung und sogar Hass entwickeln Wenn eine Gruppe Unterdruckung Ausbeutung Ausgrenzung oder Diskriminierung erleidet kann ihr die kollektive Identitat ein Potenzial zur Selbstbehauptung verschaffen Dagegen druckt sich vor allem in traditionalen Gesellschaften die kulturelle Identitat in einer unhinterfragten Identifikation mit der bestehenden Ordnung aus Kulturelle Identitat setzt nach George Herbert Mead die Bereitschaft voraus die Haltung der eigenen Gruppe zu verinnerlichen die Normen und Werte der Gemeinschaft auch gegen sich selbst zu richten und eine Verantwortung die das Kollektiv formuliert auf seine eigenen Schultern zu laden und sich gegenuber den anderen Gemeinschaftsmitgliedern zu verpflichten In diese kulturelle Identitat wird das Individuum durch Sozialisation bzw Enkulturation eingebunden Alle Konzepte kultureller Identitat sind zwangslaufig mit Inkoharenzen verbunden je nachdem ob nationale regionale ethnische sprachliche religiose sexuelle oder asthetisch lebenspraktische Komponenten der Lifestyle im Vordergrund stehen Durch das Internet und die sozialen Medien offnen sich kulturelle Identitaten nach aussen und konnen somit auch sekundar erlernt ubernommen oder konstruiert werden 1 Inhaltsverzeichnis 1 Politisierung des Begriffs durch den Cultural Turn 2 Bildung kultureller Identitaten durch Codes 3 Dimensionen und Ebenen kultureller Identitat 4 Theorien zum Kulturkontakt 4 1 Kulturkontakt innerhalb einer Gesellschaft 4 2 Kulturkontakt durch Expansion nach Urs Bitterli 4 3 Kulturbegegnung durch globale Kommunikation 5 Kulturelle Identitat in der Rechtsordnung 6 Kontroverse 7 Siehe auch 8 Literatur 9 FussnotenPolitisierung des Begriffs durch den Cultural Turn BearbeitenVerstarkt in Gebrauch kam der Begriff der kulturellen Identitat seit der kulturellen Wende der anthropologischen Neufassung und Erweiterung des fruher rein geisteswissenschaftlichen Kulturbegriffs in den Sozialwissenschaften in den 1990er Jahren Er wird sowohl von den Vertretern einer Pluralisierung von Identitaten und Lebensformen im Rahmen der Globalisierung als auch von den Befurwortern der Bewahrung nationaler oder religioser Identitaten und Traditionen benutzt was zu seiner Unscharfe beitragt Ein Beispiel dafur ist die deutsche Debatte um eine Leitkultur im Jahr 2000 Wahrnehmbar wird kulturelle Identitat erst wenn sie in Frage gestellt wird also wenn kulturelle Unterschiede relevant werden Dies geschieht vor allem durch Migration also in komplexen Zivilisationen im Kolonialismus in Grossstadten und Industriezentren und ganz allgemein unter Bedingungen sozialen Wandels 2 Daher ist der der Begriff oft mit Konflikten zwischen Tragern verschiedener kultureller Identitaten konnotiert etwa der Abwehr von Versuchen einer Mehrheitskultur eine Minderheit kulturell zu dominieren oder zu assimilieren Bestrebungen traditioneller Gesellschaften zur Starkung der kulturellen Identitat trotz Ubernahme moderner Kulturelemente werden als Indigenisierung bezeichnet Wenn bereits weitgehend assimilierte Ethnien traditionelle Elemente und ihre ethnische Identitat wiederbeleben und in modifizierter Form erneut in ihre Kultur integrieren spricht man von Re Indigenisierung Bildung kultureller Identitaten durch Codes BearbeitenDer israelische Soziologe Shmuel N Eisenstadt und sein deutscher Kollege Bernhard Giesen unterscheiden die Bildung kultureller Gruppen Identitaten durch vier Arten von Codes mit zunehmendem Reflexionsniveau In den ersten den primordialen Codes werde die Gruppenzugehorigkeit als naturgegeben betrachtet In der zweiten Gruppe von Codes werde die kulturelle Identitat durch Traditionen und Ursprungsmythen begrundet Die dritte Gruppe die Delanty kulturelle Codes nennt beziehe sich auf religiose oder transzendentale Bezugsgrossen wie Gott die Vernunft oder die Idee des Fortschritts In der vierten Gruppe wurden die vorher genannten Codes kritisiert und gebrochen statt Mythen Traditionen oder metaphysischen Ideen wurden soziale und kulturelle Inhalte des Alltagslebens wie Geschmack materielle Werte oder Privilegien in den Vordergrund rucken 3 Der britische Soziologe Gerard Delanty erganzt eine funfte und letzte Gruppe von identitatsbildenden Codes die er Diskursivitat nennt Hier wurden die starken Exklusionen die mit den zuvor genannten Codes einhergegangen seien im Sinne eines demokratischen Bewusstseins zuruckgenommen der Prozess der Identitatsschaffung werde transparent und reflektiert 4 Dimensionen und Ebenen kultureller Identitat BearbeitenDer Dortmunder Politologe Thomas Meyer stellte 2002 ein Modell auf wie sich kulturelle Identitaten strukturell voneinander unterscheiden und empirisch untersuchen lassen Er unterscheidet drei basale Zivilisationsstile namlich den Traditionalismus der hierarchisch und patriarchalisch die uberkommenen kulturellen und sozialen Traditionsbestande gegen Veranderungen zu verteidigen trachtet die Modernisierung oder Liberalisierung die sich durch das Bestreben auszeichnet Individualismus Sakularismus Rationalismus und Pluralismus gegen die uberkommenen Traditionsbestande durchzusetzen den Fundamentalismus der die defensive Abwehrhaltung des Traditionalismus zu einem offensiven Kampf gegen die Modernisierung radikalisiert Meyer lasst dabei die Frage offen ob es so etwas wie ein Existenzrecht traditioneller Kulturen mit ihren Clans Familien Ahnen Mythen und Gottern gibt oder nur ein Recht der Individuen auf kulturelle Selbstbestimmung Quer zu diesen Zivilisationsstilen diagnostiziert er drei verschiedene Ebenen von moglichen Werthaltungen und Gewohnheiten die sich zu kulturellen Identitaten zusammenfugen konnen die Ebene der personlichen Glaubenswahrheiten und metaphysischen Sinngebungen ways of believing die Ebene der alltagskulturellen Lebensweisen von Tischsitten uber Wohnformen bis zu Arbeitsethiken ways of life die Ebene der soziopolitischen Gemeinschaftswerte etwa zur Frage wie Gerechtigkeit Freiheit oder Sicherheit in einer Kultur definiert werden und welchen Stellenwert sie haben ways of living together 5 Theorien zum Kulturkontakt BearbeitenDa kulturelle Identitat nur in der Kontrastierung mit anderen kulturellen Identitaten wahrnehmbar wird sind fur sie Kulturkontakte von grosser Bedeutung Diese Kontakte die oft konflikthaft ablaufen lassen sich in drei Gruppen einteilen Kulturkontakt innerhalb einer Gesellschaft Bearbeiten Hier ist haufig eine Dominanz der majoritaren Kultur uber die der Minderheit zu beobachten in der die minoritare Kultur diskriminiert wird Diese Benachteiligung kann zum einen in Ausgrenzung oder Marginalisierung bestehen wie z B in der Ghettoisierung von Juden im Mittelalter oder im Apartheidregime in Sudafrika 6 Die minoritare Kultur reagiert auf ihre Ausgrenzung typischerweise mit der Ausbildung einer trotzig stolzen kulturellen Widerstandsidentitat 7 Der Zionismus oder die sudafrikanische Black Consciousness Bewegung sind Beispiele dafur Es kann auch zu einem Selbstausschluss der Minderheitskultur in einer Parallelgesellschaft kommen wie sie etwa zum Teil in Deutschland lebenden Turken vorgeworfen wird 8 Andererseits kann die Diskriminierung auch darin bestehen dass die Mehrheitskultur den kulturellen Unterschied der Minderheit aufheben will und Druck auf eine Assimilierung macht Gegen eine solche Aufgabe der eigenen kulturellen Identitat wehrt sich die betroffene Minderheit zumeist mit allen Mitteln siehe zum Beispiel den Schulstreik in Wreschen mit dem sich die Polen von 1901 bis 1904 gegen das von Preussen verhangte Verbot ihrer Sprache im Religionsunterricht wehrten 9 Positive Beispiele fur eine gelungene Integration von Minderheiten ohne Aufgabe der eigenen kulturellen Identitat oder fur friedliche gegenseitige Befruchtung zweier Kulturen sind in Geschichte und Gegenwart selten Hier wird oft das Kalifat von Cordoba genannt wo grosse Toleranz gegenuber Juden und Christen herrschte die als Dhimmas aber dennoch eine Sondersteuer zahlen mussten 10 Ahnlich verhalt es sich mit dem Sizilien unter der Herrschaft der Normannen und unter Kaiser Friedrich II wo die Toleranz gegenuber Juden und Muslimen vor allem im Verhaltnis zur sonstigen mittelalterlichen Unterdruckungspraxis bemerkenswert erscheint 11 Auch das haufig genannte Beispiel des US amerikanischen Melting Pot in dem die zahlreichen Immigranten im 19 Jahrhundert mit den zum Teil schon seit Generationen in den USA lebenden Burgern kulturell zu einem Ganzen verschmolzen waren lasst sich mit Blick auf die Diskriminierung von Nicht Protestanten der zweiten Einwanderungswelle seit den 1880er Jahren vor allem Italiener Iren Polen und Juden nicht mehr uneingeschrankt aufrechterhalten 12 In Landern Europas erhoben Angehorige der zweiten Generation von Immigranten wie die Beurs seit den 1980er Jahren zum Teil gewaltsam Anspruche auf Anerkennung ihrer kulturellen Identitat und protestierten gegen rassistische Ausgrenzung Dies erfolgt dem Ethnologen Werner Schiffauer zufolge in einem Balanceakt zwischen der Notwendigkeit sich selbst treu zu bleiben also eine Kontinuitat herzustellen und dem Bedurfnis sich selbst zu verwirklichen also sich gerade nicht auf seinen Hintergrund festzulegen 13 Fur die verschiedenen Formen des Kulturkontaktes innerhalb einer Gesellschaft und der damit einhergehenden Akkulturation entwickelte der amerikanische Psychologe John W Berry ein Schema definiert uber die Fragen ob die Minderheitengruppe die eigene Kultur beibehalten will soll oder nicht und ob irgendeine Form des Kontakts zwischen Mehrheit und Minderheit bestehen soll oder nicht Werden beide Fragen mit ja beantwortet spricht Berry von Integration Ist Kontakt erwunscht aber keine Beibehaltung der kulturellen Identitat von Assimilierung Wenn Kontakt nicht erwunscht ist die minoritare Gruppe ihre Kultur aber beibehalten darf von Segregation Ist weder das eine noch das andere gestattet von Marginalisierung oder Exklusion 14 Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller Identitaten wird gegenwartig unter dem Schlagwort der multikulturellen Gesellschaft diskutiert Dabei wird von Wissenschaftlern wie Bassam Tibi 15 und Politikern wie Norbert Lammert 16 die Wunschbarkeit einer solchen Gesellschaft bezweifelt da eine Gleichwertigkeit aller kulturellen Identitaten als Werterelativismus und Abwertung der eigenen Mehrheits oder Leitkultur angesehen wird Auch wird kritisiert dass in einer multikulturellen Gesellschaft die verschiedenen Gruppen nebeneinanderher leben wurden es also zur Ausbildung von Parallelgesellschaften komme Der Philosoph Wolfgang Welsch schlug 1992 den Begriff der Transkulturellen Gesellschaft vor deren Mitglieder durch vielfaltige Kontakte ihre kulturellen Identitaten weiterentwickeln sich der fremden Anteile in ihrem Identitatskonzept aber bewusst bleiben 17 In diesem Zusammenhang ist aktuell umstritten ob kulturelle Aneignung statthaft ist das heisst wenn kulturelle Produkte die von einer Gruppe als identitatsstiftend angesehen werden Mode Musik Haartracht von Menschen verwendet werden die dieser Gruppe nicht angehoren 18 Die Kritik richtet sich gegen Weisse bzw Angehorige einer Dominanzkultur die sie sich aus einem Repertoire kultureller Praktiken bedienen ohne dazu etwas beigetragen und ohne die mit der Entwicklung des jeweiligen Produkts verbundenen Diskriminierungserfahrung durchlitten zu haben Damit eignen sie sich laut dem Kulturwissenschaftler Greg Tate everything but the burden an alles ausser der Last Diese unreflektierte Aneignungspraxis bestarke somit ihre Privilegien 19 Gegen diese Argumentation wird eingewendet dass dadurch kulturelle Identitat essenzialisiert werde Man erklare die Zuschreibung zu einer kulturell definierten Gruppe rigide fur unabanderlich eskamotiere die Unterschiede innerhalb dieser Gruppe und lasse die zu anderen Kulturgruppen kunstlich grosser erscheinen wodurch der Ideenfluss zwischen kulturellen Gruppen behindert werde 20 Kulturkontakt durch Expansion nach Urs Bitterli Bearbeiten Hier unterscheidet der Schweizer Historiker Urs Bitterli am Beispiel der europaischen Expansion der Fruhen Neuzeit Kulturberuhrung Kulturzusammenstoss und Kulturbeziehung 21 Unter Kulturberuhrung versteht er die meist oberflachlichen Erst Kontakte zwischen den Kolonisatoren und der indigenen Bevolkerung Sie verliefen oft friedlich etwa mit dem Austausch von Geschenken oder kleineren Handelsgeschaften und hatten auf die kulturelle Identitat beider Seiten zunachst wenig Einfluss Die Europaer brachten namlich feste Vorstellung mit sowohl von sich selbst als kulturell uberlegen als auch von den Menschen die sie antrafen Diese wurden entweder als edle Wilde idealisiert oder aber als Kannibalen verteufelt 22 Als Kulturzusammenstoss bezeichnet Bitterli die gewalttatige Unterdruckung der indigenen Kulturen die uberall dort auftrat wo die Europaer auf technisch nicht gleich starke Zivilisationen trafen Die Kulturberuhrung schlug regelmassig dann in Gewalt um wenn die Vertreter der indigenen Kultur sich durch die Missionsversuche und das Erwerbsstreben der Europaer in ihrer Lebensweise und ihrem Besitzstand bedroht fuhlten Regelmassig unterwarfen die Europaer die Indigenen der Sklaverei oder anderen Formen des Arbeitszwangs Auch kulturelle Missverstandnisse trugen dazu bei dass das anfangliche Vertrauen und der Respekt gegenuber den Europaern rasch verloren ging Kulturbeziehungen also ein wechselseitiges Verhaltnis des Gebens und Nehmens waren nach Bitterli nur dann moglich wenn die Europaer auf gleich starke Zivilisationen trafen In einer solchen machtpolitischen Pattsituation wie sie lange Zeit gegenuber dem islamischen Kulturkreis gegenuber Indien und China herrschte bestanden die Beziehungen zwischen beiden Seiten in einem beide bereichernden Austausch und zeigten sich im Handel aber auch in kultureller Beeinflussung in beide Richtungen wie etwa in der jesuitischen Mission in China der in Europa eine starke Bewunderung fur chinesische Kunst und chinesisches Handwerk gegenuberstand Hier kann man wenigstens im Ansatz von einer gegenseitigen Akkulturation sprechen das heisst einer wechselseitigen kulturellen Befruchtung Bereicherung und Durchdringung 23 Kulturbegegnung durch globale Kommunikation Bearbeiten Im Zeitalter der Globalisierung nehmen die Moglichkeiten fur Kulturkontakte sehr stark zu ob sie nun uber Migration die Medien den Welthandel oder uber den Tourismus erfolgen Immer weniger Weltgegenden bleiben somit von Kulturkontakten unberuhrt Im Wettstreit der Kulturen der dadurch ermoglicht wird sind die modernen wirtschaftlich erfolgreichen und am individuellen Konsum ausgerichteten Kulturen des Westens vor allem der USA anderen traditionelleren Kulturen anscheinend uberlegen Die dadurch bedingte Gefahrdung der eigenen kulturellen Identitat wird von moslemischen aber auch von europaischen Rechten als Kulturimperialismus kritisiert 24 In den Kultur und den Sozialwissenschaften wird andererseits verbreitet angenommen dass die Globalisierung gerade nicht zu einer weltweiten kulturellen Homogenisierung fuhrt sondern eher zu einer Hybridisierung also zu vielfaltigen auch widerspruchlichen Mischformen kultureller Identitat wie sie etwa fur Migranten typisch sei Dabei wurden die verschiedenen Traditionen nicht im Sinne einer Kreolisierung miteinander verschmelzen Vielmehr bedeute Hybriditat das Entstehen eines dritten Raums in dem die Anspruche der Mehrheits und der Herkunftskultur ausgehandelt und neue Positionen konstruiert wurden die aber in keine neue Essenz munden 25 Der Soziologe Stuart Hall pladiert in diesem Zusammenhang dafur sowohl die verschiedenen Identitatspolitiken zu untersuchen also die inkludierenden und exkludierenden Fremd und Selbstzuschreibungen kultureller Gruppen als auch die oft nur temporaren individuellen Identifikationen In diesem Sinne seien Identitaten nur Punkte vorubergehender Bindung an die Subjektpositionen die diskursive Praktiken fur uns konstruieren 26 Kulturelle Identitat in der Rechtsordnung BearbeitenDie Rechtsordnung ist vor die Aufgabe gestellt bei Auslandern die im Gast oder Einwanderungsland leben die Spannung zwischen dem Erfordernis der Integration fur ein geordnetes Zusammenleben und der Wahrung ihrer kulturellen Identitat angemessen zu losen Dabei kann die Interessenlage der einzelnen sehr unterschiedlich sein Ein Fluchtling oder Asylbewerber fuhlt sich unter Umstanden dem Gastland starker als seinem Heimatland verbunden Anderseits werden wohl Mitarbeiter multinationaler Unternehmen auslandische Studenten Diplomaten oder andere Ruckkehrwillige so weit wie moglich in der Beurteilung ihrer hochstpersonlichen Angelegenheiten die Wahrung ihrer kulturellen Identitat wunschen Viele wandern erst im Erwachsenenalter aus so dass sie insbesondere im familiarer Hinsicht stark von ihrem Heimatrecht gepragt sind Bei der Beurteilung solcher personlichen Rechtsverhaltnisse die eine naturliche Person betreffen Personalstatut insbesondere der Rechtsfahigkeit des Namensrechts der Geschaftsfahigkeit Mundigkeit der Entmundigung einer Todeserklarung der Eheschliessungsvoraussetzungen der allgemeinen Ehewirkung des ehelichen Guterstandes des Rechts der Scheidung des Unterhaltsrechts des Rechts der Abstammung des Sorgerechts der Adoption oder der Rechtsnachfolge von Todes wegen stellt sich die Frage ob das Recht des standigen Aufenthaltsortes wo sich der Auslander integrieren soll oder das Recht desjenigen Staates welchem der Auslander angehort vorzugswurdig sei Diese Entscheidung liegt dem Internationalen Privatrecht ob Viele klassische Einwanderungslander wie die USA oder Australien knupfen am Recht des standigen Aufenthaltsorts Domizil an was den Integrationsdruck auf Auslander erheblich erhoht 27 Dies zwingt insbesondere dazu Wert und Gesetzesvorstellungen des Einwanderungslandes auch in Familienangelegenheiten zu ubernehmen Deutschland hat sich dafur entschieden das Personalstatut grundsatzlich dem Recht desjenigen Staates zu unterstellen dem der Auslander angehort Das gilt auch dann wenn der Heimatstaat weiter auf religioses Recht verweist Dadurch wird eine wesentlich weiterreichende Wahrung der kulturellen Identitat erzielt Nur wenn die Regelungen des Heimatstaates mit deutschen Wertvorstellungen unvereinbar sind greifen deutsche Behorden und Gerichte korrigierend ein Ordre public Vorbehalt Kontroverse BearbeitenDer Begriff der kulturellen Identitat ist Mitte der 1990er Jahre im Zusammenhang mit der Kontroverse um das 1996 erschienene Buch Kampf der Kulturen The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order des US amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P Huntington in die Kritik geraten Huntington vertrat darin die These dass die Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr von politischen ideologischen oder okonomischen Auseinandersetzungen bestimmt sei sondern von Konflikten zwischen Angehorigen unterschiedlicher Kulturkreise Gerade in Zeiten der Globalisierung werde das Bedurfnis sich von anderen zu unterscheiden also die eigene kulturelle Identitat zu betonen immer starker Huntington identifizierte sechs Kulturkreise mit ihren jeweiligen Kernstaaten namlich China Japan den slawisch orthodoxen Raum mit Russland Indien die islamischen Staaten und die Westliche Welt Das Zentrum einer jeden dieser Kulturen bestehe in einer Reihe von Grundwerten die prinzipiell miteinander unvertraglich seien Dadurch wurden Konflikte zwischen ihnen ja ein eigentlicher Kampf der Kulturen unumganglich 28 Die Ereignisse des 11 September 2001 mit den anschliessenden Kriegen gegen den Terror in Afghanistan und im Irak und die zweite Intifada seit 2000 wurden verschiedentlich als Beleg fur Huntingtons These gewertet indem sie wie ein globaler Kampf der westlichen gegen die islamische Kultur interpretiert wurden Gegen Huntingtons These wird indes eingewandt dass sie im Sinne einer Selbsterfullenden Prophezeiung den Kampf erst herbeifuhre da Versuche ein friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen zu erreichen von vornherein als aussichtslos hingestellt wurden Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer zeigt zudem auf dass die Unterschiede in der Bewertung verschiedener Grundprobleme wie Unsicherheitsvermeidung Ungleichheit oder Individualismus zwischen verschiedenen islamischen Landern grosser sind als zu einzelnen Landern anderer Kulturkreise Das Konzept einer einheitlichen kulturellen Identitat von Staaten und Staatengruppen das Huntingtons These zugrunde liegt gehe also an der Realitat vorbei Die Ideologie vom Kampf der Kulturen aufgrund unversohnlicher Differenzen ihrer sozialen Grundwerte findet in den empirischen Daten keine Bestatigung Im Gegenteil Kulturubergreifende Ahnlichkeiten und Uberlappungen lassen sich zwischen allen Kulturen erkennen Die Konfliktlinien die in der Sache begrundet sind verlaufen vielmehr in den Kulturen 29 Ahnlich argumentiert auch der indische Nobelpreistrager Amartya Sen gegen Huntingtons Vorstellungen von Konflikten die sich aus Unterschieden in der kulturellen Identitat ergeben wurden Eine Person kann ganzlich widerspruchsfrei amerikanische Burgerin von karibischer Herkunft mit afrikanischen Vorfahren Christin Liberale Frau Vegetarierin Langstreckenlauferin Heterosexuelle Tennisfan etc sein Die Menschen seien eben auf unterschiedliche Weise verschieden Der Begriff der kulturellen Identitat tauge daher nicht dazu Prognosen uber das Verhalten kulturell definierter Kollektive zu machen 30 Der deutsche Volkskundler Konrad Kostlin kritisiert Huntingtons These weil sie Kultur als Pragestempel missverstehe der die Menschen unausweichlich voneinander trenne Sie erscheine somit als ein statisches Bundel verbindlicher Regeln statt als individueller Identitatsbildungsprozess der von dem einen Mitglied eines Kulturkreises so von einem anderen anders durchlaufen werde 31 Der Ethnologe Andre Gingrich ruckt Huntingtons Konzept in die Nahe eines Rassismus ohne Rassen der nicht die Uberlegenheit der Europaer behauptet sondern die Unmoglichkeit fur Menschen unterschiedlicher kultureller Pragung miteinander zu leben 32 Siehe auch Bearbeiten Portal Migration und Integration Artikel Kategorien und mehr zu Migration und Flucht Interkulturellem Dialog und Integration Theorie der sozialen Identitat Kulturokologie Ethnizitat Kollektive IdentitatLiteratur BearbeitenUrs Bitterli Alte Welt neue Welt Formen des europaisch uberseeischen Kulturkontaktes vom 15 bis zum 18 Jahrhundert Beck Munchen 1986 ISBN 3 406 31271 3 Stuart Hall Rassismus und kulturelle Identitat Argument Hamburg 1994 ISBN 3 88619 226 1 Gerard Delanty Inventing Europe Idea Identity Reality MacMillan London 1995 ISBN 0 333 62202 2 aber auch ISBN 0 333 62203 0 Samuel P Huntington Kampf der Kulturen Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21 Jahrhundert Europa Munchen 1996 ISBN 3 203 78001 1 Thomas Meyer Identitatspolitik Vom Missbrauch des kulturellen Unterschieds Suhrkamp Frankfurt am Main 2002 ISBN 3 518 12272 X Amartya Sen Die Identitatsfalle Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt Beck Munchen 2007 ISBN 978 3 406 55812 2 Gunther Distelrath Zur Konstruktion kollektiver Identitaten in Asien Bonner Asienstudien 5 EB Verlag Schenefeld 2007 ISBN 978 3 936912 62 3 Aurel Croissant Uwe Wagschal Nicolas Schwank Christoph Trinn Kulturelle Konflikte seit 1945 Die kulturellen Dimensionen des globalen Konfliktgeschehens Nomos Baden Baden 2009 ISBN 978 3 8329 4296 0 Francois Jullien Es gibt keine kulturelle Identitat Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur edition suhrkamp 2718 Suhrkamp Frankfurt am Main 2017 ISBN 978 3 518 12718 6 Yves Bizeul Dennis Rudolf Hrsg Gibt es eine kulturelle Identitat Nomos Baden Baden 2020 ISBN 978 3 8487 5618 6 Fussnoten Bearbeiten S Ganguin U Sander Identitatskonstruktionen in digitalen Welten In U Sander F von Gross K U Hugger Hrsg Handbuch Medienpadagogik VS Verlag fur Sozialwissenschaften 2012 ISBN 978 3 531 91158 8 John L Comaroff Jean Comaroff Ethnizitat In Andre Gingrich Fernand Kreff Eva Maria Knoll Hrsg Lexikon der Globalisierung transcript Bielefeld 2011 ISBN 978 3 8376 1822 8 S 68 71 hier S 69 Shmuel N Eisenstadt Bernd Giesen The Construction of Collective Identity In Archives europeennes de sociologie 36 1995 S 72 102 Gerard Delanty Inventing Europe Idea Identity Reality MacMillan London 1995 Thomas Meyer Parallelgesellschaft und Demokratie In derselbe und Reinhard Weil Hrsg Die Burgergesellschaft Perspektiven fur Burgerbeteiligung und Burgerkommunikation Dietz Bonn 2002 S 343 372 zitiert nach Politische Kultur und kultureller Pluralismus auf der Webseite der Friedrich Ebert Stiftung Zugriff am 19 Juli 2020 Friedrich Heckmann Ethnische Minderheiten Volk und Nation Soziologie inter ethnischer Beziehungen Ferdinand Enke Verlag Stuttgart 1992 ISBN 3 432 99971 2 S 49 f abgerufen uber De Gruyter Online S 200 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084215 9 S 435 441 Hubert Houben Kaiser Friedrich II 1194 1250 Herrscher Mensch Mythos Kohlhammer Stuttgart 2008 S 156 Susan J Dicker Languages in America A Pluralist View 2 Auflage Multilingual Matters Clevedon Buffalo Toronto Sydney 2003 ISBN 1 85359 651 5 S 38 45 Zitiert nach Alexa Farber Identitat In Brigitta Schmidt Lauber Manuel Liebig Hrsg Begriffe der Gegenwart Ein kulturwissenschaftliches Glossar Bohlau Wien 2022 ISBN 978 3 205 21272 0 S 143 152 hier S 146 f John Berry David Sam Acculturation and Adaptation In dieselben Marshall Segall und Cigdem Kagitcibasi Handbook of Cross Cultural Psychology Bd Social Behavior and Applications Allyn amp Bacon Needham Heights 1997 S 291 326 Bassam Tibi Europa ohne Identitat Leitkultur oder Wertebeliebigkeit Die Krise der multikulturellen Gesellschaft btb Munchen 2000 Interview Das Parlament hat kein Diskussionsmonopol Der neue Bundestagsprasident Norbert Lammert uber die Konkurrenz durch Talkshows und den Ansehensverlust der Politik In Die 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