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Akkulturation von lateinisch ad und cultura Hinzufuhrung zu einer Kultur 1 bezieht sich als weit gefasster Oberbegriff auf alle Anpassungsprozesse von Personen oder sozialen Gruppen an eine Kultur in Hinsicht auf Wertvorstellungen Sitten Brauchtum Sprache Religion Technologie und anderes Der Begriff wird je nach Fachgebiet unterschiedlich definiert eine verbindliche Definition gibt es nicht Im Wesentlichen werden zwei unterschiedliche Begriffsbestimmungen in den Sozialwissenschaften und demgegenuber in Psychologie und Padagogik verwendet Indigene Kayapos aus Brasilien 1988 Sichtbare Akkulturation Eine Familie der Schitsu umsh Indianer in ihrem Automobil 1916 Bildhafter Ausdruck von Akkulturation Partielle Akkulturation gab und gibt es unter indigenen Volkern in mannigfacher Form bei sozialen Gruppen und Individuen Inhaltsverzeichnis 1 Sozialwissenschaften 1 1 Formen der Akkulturation Migrationsforschung 1 2 Sozialpsychologie 1 3 Psychologische Folgen 2 Psychologie und Padagogik 2 1 Erziehung und Akkulturation 2 2 Akkulturation und Alkoholkonsum von Jugendlichen 3 Siehe auch 4 Literatur 5 Weblink 6 EinzelnachweiseSozialwissenschaften BearbeitenInsbesondere in Anthropologie und Ethnologie werden die wechselseitigen Anpassungsprozesse bei der Begegnung zweier unterschiedlicher Kulturen als Akkulturation bezeichnet 2 Dabei werden fremde geistige oder materielle Kulturguter ubernommen Dieser Kulturwandel kann sowohl Einzelpersonen als auch ganze Gruppen betreffen Der Ethnologe Richard Thurnwald beschrieb die Akkulturation als eine Form des sozialen Lernens Er betonte dabei die Veranderung von Einstellungen und Verhalten sowie die Pragung der Personlichkeit 3 Akkulturation entsteht einerseits durch ungeregelte defensive Kontakte bei denen die Beteiligten vollkommen frei entscheiden ob sie sich von einem Wandel wirtschaftliche Vorteile oder eine anderweitige Bereicherung versprechen Es ist eine bewusste Auseinandersetzung mit den Eigenarten des Fremden im Vergleich mit der eigenen Kultur und der Bereitschaft zur Veranderung der eigenen Verhaltensweisen 4 Der zweite Weg zur Akkulturation entsteht durch gezielte offensive Massnahmen der dominanteren Kultur haufig mit der Absicht der Integration in das eigene Gesellschafts und Wirtschaftssystem oder auch der vollstandigen Assimilation der dominierten Kultur Solche Massnahmen werden mit mehr oder weniger Druck ausgefuhrt entweder direkt durch Gewaltandrohung Zwangserziehung Erpressung u a oder indirekt durch freiwillige Bildungsangebote wirtschaftliche Anreize u a Dabei sind die Vorbehalte oder Widerstande der Dominierten naturgemass grosser als bei der vollkommen freiwilligen Annaherung Intensitat Richtung und Tempo des Akkulturationsprozesses hangen in erster Linie von der Motivation der dominierten Menschen ab Je aktiver bewusster und engagierter sie sich eigene Entwicklungsziele stecken desto schneller selbstbestimmter und damit zumeist vorteilhafter geht der Wandel vonstatten Je passiver unbewusster und gleichgultiger sie den Veranderungen gegenuber sind desto langsamer und fremdbestimmter der Wandel Politische Entwicklungsprogramme mit dem Ziel einer gelenkten Akkulturation lokaler Gemeinschaften scheitern haufig sowohl an der vorgenannten Eigendynamik der Dominierten die entweder zu selbststandig oder zu ablehnend reagieren als auch an den unkalkulierbaren Einflussen anderer Akteure mit jeweils eigenen Interessen Wirtschaftsunternehmen Missionare andere Staaten supranationale Organisationen Nichtregierungsorganisationen Ethnologen Touristen u v a die den Menschen fast immer diverse Alternativen bieten In der offentlichen Debatte wird die Akkulturation von Stammesvolkern uberwiegend mit negativen Begleiterscheinungen in Verbindung gebracht kulturelle Entwurzelung und Zerfall der Gemeinschaften mit Apathie und Resignation Werteverfall Kriminalitat Generationenkonflikte Alkoholismus Drogenkonsum Diskriminierung wirtschaftliche Abhangigkeit uvm Je grosser die kulturellen Unterschiede und je aggressiver der Druck der dominanten Kultur desto grosser ist das Risiko fur solch negative Entwicklungen 2 Entscheidend fur das Ausmass der Akkulturation ist schlussendlich die Dauer und Intensitat des Kontaktes Eroberung und Kolonialismus sind dabei die extremsten Formen 5 Formen der Akkulturation Migrationsforschung Bearbeiten nbsp Die vier Formen der Akkulturation nach Berry Siehe auch John W Berry Berrys Modell der Akkulturationsstrategien John W Berry betrachtet als Akkulturation den Anpassungsprozess von Migranten auf individueller oder auf Gruppenebene die sich in einer anderen Kultur niederlassen als derjenigen in der sie geboren wurden 6 Er unterscheidet vier Strategien bzw Formen der Akkulturation je nachdem ob die Zuwanderer bzw ihre Gruppe die eigene Kultur beibehalten will soll oder nicht und ob irgendeine Form des Kontaktes zwischen Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft bestehen soll oder nicht 7 Die Akkulturationsstrategien werden nicht immer frei gewahlt sondern sind auch ein Resultat von Umstanden der Migration der Zuwanderergruppe und der Aufnahmegesellschaft 8 Segregation oder Separation Beibehaltung der eigenen Kultur ohne Kontakt zur Aufnahmegesellschaft Die Minderheit strebt eine weitgehende kulturelle Isolation an und lehnt die dominante Kultur ab oder wird von dieser abgelehnt Integration Beibehaltung von Elementen der eigenen Kultur mit Kontakt zur Aufnahmegesellschaft Beide Gruppen streben nach Multikulturalitat Gegebenenfalls findet ebenfalls eine Beeinflussung der Aufnahmegesellschaft statt Assimilation Aufgabe der eigenen Kultur mit Kontakt zur Mehrheit Der Prozess fuhrt zur Verschmelzung mit der dominanten Kultur Marginalisierung auch Exklusion Aufgabe der eigenen Kultur ohne Kontakt zur Mehrheit Diese Form folgt haufig auf eine kulturelle oder ethnische Entwurzelung Sozialpsychologie Bearbeiten Ein ausgefeiltes Modell von Akkulturation hat der deutsch amerikanische Sozialpsychologe Erik Erikson 1950 in seinem Buch Childhood and Society Kindheit und Gesellschaft New York 1957 vorgelegt Auch anhand eigener Feldforschung bei zwei US Indianerstammen entwickelte er ein aus acht Phasen bestehendes Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung das die gesamte Lebensspanne umfasst Schlusselbegriffe dieses Konzeptes sind Ich Identitat bzw bei misslungener Identitatsbildung Identitatsdiffusion Psychologische Folgen Bearbeiten Die Phase der Akkulturation kann fur die Psyche belastend sein Kalervo Oberg spricht von Kulturschock John W Berry von Akkulturationsstress accultrative stress 9 Der Psychiater Wielant Machleidt halt den Stress nach erfolgter Migration fur seelisch extrem belastend und massiv unterschatzt Es komme durch die Migration zu einer Identitatskrise die desto tiefgreifender sei je fremder der Kulturraum ist Zugleich fallen der Freundeskreis die Arbeit und teils auch die Familie fort Fur ihn ist die Migration nach der Geburt Geburt als Individuum und der Adoleszenz Geburt als Erwachsener eine weitere Phase der Individuation kulturelle Adoleszenz oder Geburt als Weltburger Die eigene Identitat und das eigene Wertegefuge stehen dabei in Frage es musse neu ausgelotet werden was das Eigene und was das Fremde ist 10 11 Die Personlichkeitsentwicklung die dabei in Gang gesetzt wird konne als eine Art Pubertat veranschaulicht werden Ahnlich wie in der Pubertat komme es zu grossen Gefuhlen und Affekten und Omnipotenzphantasien ebenso wie zu Schmerzen bei der Trennung von den psychischen und sozialen Raumen der Kindheit bzw der Heimat und zu existenziellen Angsten vor dem Scheitern Dabei entstehe auch eine Verletzlichkeit vor allem dann wenn Diskriminierung soziale Ausschliessung und Isolation erlebt werden konne sich eine chronisch erhohte Stress belastung ergeben Die Phase der Akkulturation mundet ggf in einen breiten Erfahrungshorizont bzw in eine Weltlaufigkeit im Sinne einer mehrkulturellen Orientierung 11 Siehe auch Migrationssoziologie Migration und IdentitatPsychologie und Padagogik BearbeitenIn Psychologie und Padagogik versteht man unter Akkulturation das Hineinwachsen einer Person in ihr eigenes kulturelles Umfeld durch Erziehung In der Regel bezieht sich der Begriff auf Heranwachsende in der Phase der Adoleszenz Enkulturation bezeichnet hingegen die unbewusste ungesteuerte Sozialisation besonders vor der Phase der Adoleszenz bei Heranwachsenden z B bei Neugeborenen Kleinkindern und Kindern Erziehung und Akkulturation Bearbeiten Die Akkulturation aus psychologischer Sicht vollzieht sich uberwiegend durch Erziehung und teilweise auch durch ungeplantes Lernen Die Erziehung in Familie oder Schule dient mitunter dazu Heranwachsende mit den Regeln und Traditionen der eigenen Kultur vertraut zu machen aber auch die Art der Erziehung wird unter diesem Kulturprozess gefasst Jedes Kind und jeder Jugendliche macht immer auch Erfahrungen z B in Gruppen Gleichaltriger die sich den von Erwachsenen geplanten Erziehungsprozessen entziehen Am Ende einer gelungenen Akkulturation ist der junge Mensch mit der eigenen Kultur vertraut kennt ihre ungeschriebenen Gesetze und ist gesellschaftsfahig sprich erwachsen Akkulturation und Alkoholkonsum von Jugendlichen Bearbeiten In einer 2016 erschienenen reprasentativen Studie bei 15 jahrigen Jugendlichen mit familiarer Migrationsgeschichte in Deutschland zeigte sich dass diejenigen die die Wertvorstellungen ihrer Herkunftskultur beibehielten mit einer geringeren Haufigkeit Rauschtrinken betrieben Demgegenuber war die Wahrscheinlichkeit fur regelmassige Erfahrungen mit ubermassigem Alkoholkonsum bei den Jugendlichen hoher die stark zu einer Assimilation mit der deutschen Kultur tendierten Auch bei Jugendlichen deren Eltern eine starke Bindung zu den Traditionen des Herkunftslandes aufwiesen war das Risiko fur Rauschtrinken geringer 12 Siehe auch BearbeitenAkkommodation Religion Assimilationspolitik Soziale InklusionLiteratur BearbeitenJohn W Berry Acculturation A Personal Journey across Cultures Cambridge University Press 2019 Johannes Kopp Bernhard Schafers Hrsg Grundbegriffe der Soziologie Lehrbuch 10 Auflage VS Verlag fur Sozialwissenschaften Wiesbaden 2010 S 9ff ISBN 978 3 531 16985 9 Doris Weidemann Akkulturation und Interkulturelles Lernen In Jurgen Straub Arne Weidemann Doris Weidemann Hrsg Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz Metzler Stuttgart 2007 S 488 497 Weblink Bearbeiten nbsp Wiktionary Akkulturation Bedeutungserklarungen Wortherkunft Synonyme UbersetzungenEinzelnachweise Bearbeiten Ulrich Ammon Akkulturation In Helmut Gluck Michael Rodel Hrsg Metzler Lexikon Sprache Metzler Verlag Stuttgart 2016 ISBN 978 3 476 02641 5 S 21 a b Heiko Feser Die Huaorani auf den Wegen ins neue Jahrtausend Ethnologische Studien Bd 35 Institut fur Volkerkunde der Albert Ludwigs Universitat Freiburg LIT Verlag Munster 2000 ISBN 3 8258 5215 6 S 7 14 495 496 Marc Andresen Studien zur Geschichte und Methodik der archaologischen Migrationsforschung Waxmann Verlag 2004 ISBN 978 3 8309 6064 5 S 342 Debora Maehler Ulrich Schmidt Denter Migrationsforschung in Deutschland Leitfaden und Messinstrumente zur Erfassung psychologischer Konstrukte Springer Wiesbaden 2013 ISBN 978 3 531 19244 4 S 18 19 Fernand Kreff Eva Maria Knoll Andre Gingrich Hrsg Lexikon der Globalisierung transcript Verlag Bielefeld 2011 ISBN 978 3 8376 1822 8 Schlagwort Kulturwandel S 220 223 David Sam John Berry Acculturation When Individuals and Groups of Different Cultural Backgrounds Meet In Perspectives on Psychological Science Nr 5 2010 S 472 Institut fur Interkulturelle Didaktik e V Stichwort Begriffserklarung Definition Akkulturation im Glossar von www ikud de John Berry David Sam Acculturation and Adaption In John Berry Marshall Segall Cigdem Kagitcibasi Hrsg Handbook of Cross Cultural Psychology 2 Auflage Band 3 Allyn Bacon Boston 1997 S 297 f John W Berry Acculturation A Personal Journey across Cultures Cambridge University Press Cambridge 2019 S 16 Susanne Donner Entwurzelt Die Last der Migration In dasgehirn info 25 November 2015 abgerufen am 3 Juni 2018 a b Wielant Machleidt Migration Kultur und seelische Gesundheit In E2 Vorlesung 23 27 April 2007 im Rahmen der 57 Lindauer Psychotherapiewochen 2007 abgerufen am 3 Juni 2018 Donath C Baier D Graessel E amp Hillemacher T Substance consumption in adolescents with and without an immigration background a representative study What part of an immigration background is protective against binge drinking BMC Public Health 2016 16 1157 doi 10 1186 s12889 016 3796 0 freier Volltext Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Akkulturation amp oldid 236292355