Der Begriff Erkenntnis ist in der Philosophie umstritten; eine einheitliche Definition hat sich nicht herausgebildet. In einer ersten AnnÀherung kann man Erkenntnis als den Prozess und das Ergebnis eines durch Einsicht oder Erfahrung gewonnenen Wissens bezeichnen.
Zum Begriff der Erkenntnis
Der Begriff der Erkenntnis ist einer der Grundbegriffe der neuzeitlichen Philosophie. Er lĂ€sst sich nicht auf andere bekanntere oder ĂŒbergeordnete Begriffe zurĂŒckfĂŒhren und ist ohne Selbstbezug (Zirkelschluss) nicht definierbar. Sein VerstĂ€ndnis muss deshalb aus einer erlĂ€uternden Begriffsanalyse (Explikation) und durch Bestimmung der gebrĂ€uchlichen Verwendung anhand von Beispielen gewonnen werden.
Der Begriff der Erkenntnis bezeichnet
- das Ergebnis (das Erkannte) und
- den Prozess des Erkennens (den Erkenntnisakt).
Erkenntnis beinhaltet immer die Beziehung zwischen einem erkennenden Subjekt und etwas Erkanntem (Objekt). Erkenntnis kann sich ebenso auf einen Sachverhalt wie auf einen Prozess beziehen. Je nachdem, ob eine Erkenntnis unmittelbar gewonnen wird oder ob sie durch eine indirekte Information entstanden ist, spricht man von der unmittelbaren (intuitiven) oder von der mittelbaren (diskursiven) Erkenntnis.
Die Vorsilbe âEr-â im Wort Er-kenntnis ist Ă€hnlich wie bei Er-fahren oder Er-leben eine Bezeichnung fĂŒr eine ĂŒber das bloĂe Kennen hinausgehende Einsicht in einen Gegenstand, die u. a. durch Verstehen von Wesensmerkmalen und Erinnerung gekennzeichnet ist. Erkenntnis hat im Vergleich zum Kennen den Charakter des Neuen. Wenn man zum ersten Mal feststellt, dass an einem technischen GerĂ€t eine Funktion defekt ist, hat man dieses erkannt. Bei einer spĂ€teren Nutzung des GerĂ€tes kennt man den Defekt, es sei denn, man hat ihn vergessen. Zum Wissen wird die Erkenntnis, wenn die Erkenntnis unabhĂ€ngig vom erkennenden Subjekt gĂŒltig ist.
Die Nachsilbe -nis im Wort Erkennt-nis verweist im Sprachgebrauch meist auf das abstrahierte Ergebnis eines Vorgangs, so wie Erlebnis (Ergebnis eines Erlebens), Erzeugnis (Ergebnis eines Erzeugens); oder auf die abstrakte Ursache eines Vorgangs, so wie Hindernis (Ursache eines Hinderns), Besorgnis (Ursache einer Sorge).
Der Begriff der Erkenntnis ist abzugrenzen von Ă€hnlichen Begriffen wie Erfahrung, Einsicht, Wissen, Ăberzeugung, Meinung, Glauben und entgegenzusetzen zu Begriffen wie Ahnung, Vermutung, Spekulation sowie Vorurteile und Irrtum. Die nachfolgende Tabelle gibt eine grobe Abgrenzung der einschlĂ€gigen Begriffe, die dem Begriff der Erkenntnis inhaltlich verwandt sind. Neben dem Begriffsinhalt wird dargestellt, inwieweit der jeweilige Begriff mit einem Anspruch auf Wahrheit verbunden ist und welcher Grad an BegrĂŒndung bei ihm erwartet wird.
Begriff | ErlĂ€uterung | Wahrheit | BegrĂŒndung |
---|---|---|---|
Glauben / Gewissheit (Pistis) | Innere Sicherheit in Bezug auf einen Sachverhalt | GefĂŒhlsmĂ€Ăiges Vertrauen; Evidenz; subjektives FĂŒrwahrhalten | kein Interesse an Rechtfertigung; Offenbarung (Religion) |
Ahnung | nicht klar umrissener Sachverhalt | hohe Unsicherheit | unbewusstes, intuitives GefĂŒhl ohne klare verstandesmĂ€Ăige Abgrenzung |
Vermutung (Eikasia) | Hypothese ĂŒber einen Sachverhalt | Wahrscheinlichkeit, nicht unbedingt quantifizierbar | argumentativ, methodisch je nach Kenntnisstand |
Information | Akt oder Inhalt einer Mitteilung oder Nachricht | kann wahr oder falsch sein; ggf. Wahrscheinlichkeit | Urteil ĂŒber die QualitĂ€t der Quelle |
Meinung / Ăberzeugung (Doxa) | nicht vollstĂ€ndige Kenntnis zum Sachverhalt bzw. auch im Bereich Werte (Ethik/Politik) | vom Umfang der Kenntnis abhĂ€ngige Unsicherheit (Irrtumsverdacht) bzw. bei Werten nicht möglich | argumentativ, aber nicht methodisch abgeschlossen |
Einsicht (Nus) | spontanes Erfassen eines Sachverhalts | meist geringe Unsicherheit durch Evidenz | rational und argumentativ, jedoch oft nicht methodisch abgeschlossen |
Erfahrung (Empeiria) | unmittelbares Erleben von Handlungs- und SachzusammenhÀngen; in der Wissenschaft experimentelle Ergebnisse | hohe Sicherheit im Vertrauen auf korrekte Wahrnehmung bzw. Messtechnik bei der Beobachtung | durch erlebte Beispiele entstandene Gewohnheit bzw. methodische Theorie in der Wissenschaft |
Wissen (Episteme) | a) intersubjektiv ĂŒberprĂŒfbare Kenntnis von Tatsachen b) Handlungswissen | a) sehr hohe Sicherheit in AbhĂ€ngigkeit vom Wahrheitsbegriff b) das Gelingen bzw. indirekt der Erfolg einer Handlung | a) methodisch und begrifflich rational b) Ăbung und Gewohnheit |
Erkenntnis (Gnosis) | Akt und Ergebnis der durch Einsicht und/oder Erfahrung gewonnenen Kenntnis, nicht notwendig intersubjektiv | sehr hohe Sicherheit in AbhÀngigkeit vom Wahrheitsbegriff | methodisch und begrifflich rational, auch vorwissenschaftlich |
Das Ergebnis des Prozesses der Erkenntnis, wenn es zur Gewohnheit geworden und intersubjektiv nachprĂŒfbar ist, bezeichnet man auch als Wissen. Wissen wird allerdings unabhĂ€ngig von der Entstehung betrachtet. WĂ€hrend man von einem Erkenntnisvermögen spricht, gibt es daher den analogen Begriff des Wissensvermögens nicht. Erkenntnistheorie befasst sich mit der Entstehung von und dem Bestand an Wissen. Dabei ist der Begriff des Wissens allerdings nicht ausreichend, um den Begriff der Erkenntnis zu erklĂ€ren. Erkenntnis beinhaltet auch die Einsicht in die Bedeutung eines Sachverhalts, ob z. B. eine Information wichtig ist fĂŒr eine Problemlösung. Einsicht bedarf hingegen nicht zwingend einer BegrĂŒndung, z. B. wenn man einsieht, dass etwas GewĂŒnschtes sich nicht realisieren lĂ€sst, aber den Hinderungsgrund dafĂŒr nicht erkennt. Ăhnlich wie Wissen ist Erkenntnis mit dem Anspruch der Richtigkeit verbunden. Erkenntnisse sind immer wahre Erkenntnisse. Dabei ist aber der Grad der BegrĂŒndung nicht zwingend wie beim Wissen an logische Wahrheit und an einen intersubjektiven Nachweis gebunden. Im Erkannten hat man noch den subjektiven Entstehungsprozess des Wissens vor Augen, auch wenn dieser abgeschlossen ist. Erkenntnis muss nicht intersubjektiv nachprĂŒfbar sein. Sie beschrĂ€nkt sich nicht auf nachprĂŒfbare Fakten, sondern beinhaltet das Verstehen von ZusammenhĂ€ngen. Erkenntnisse können sich auch auf einen vorwissenschaftlichen Bereich der Alltagserfahrung beziehen. In einem weiten VerstĂ€ndnis des Erkenntnisbegriffs werden sogar GefĂŒhle wie z. B. die Liebe sowie die Kunst als mögliche Erkenntnisquellen gesehen.
Wenn von gesicherter Erkenntnis gesprochen wird, steht dahinter die Vorstellung, dass die Erkenntnis durch wissenschaftliche Nachweise belegt werden kann. Doch haben gerade die neuesten naturwissenschaftlichen Forschungen (z. B. Quantenphysik) gezeigt, dass zumindest in gewisser Hinsicht Aussagen nur mit unterschiedlichen Graden von Wahrscheinlichkeit getroffen werden können. Ăberdies gilt in der Mathematik der Gödelsche UnvollstĂ€ndigkeitssatz, nach dem es in jedem System Aussagen gibt, die nicht innerhalb des Systems als wahr oder falsch bewiesen werden können. Dies fĂŒhrt zu der Frage, ob es ĂŒberhaupt eine gesicherte Erkenntnis geben kann. Angesichts der evolutionĂ€r entstandenen Funktionsweise und der TĂ€uschbarkeit der menschlichen Wahrnehmung entstehen darĂŒber hinaus Fragen nach der Beschaffenheit der tatsĂ€chlichen RealitĂ€t, ob und inwieweit die Art der Erkenntnisgewinnung bereits die Erkenntnisinhalte beeinflusst. Da bereits die Wahrnehmung eine (verĂ€ndernde) Interpretation von Sinnesdaten darstellt, muss jede Erkenntnis hypothetisch bleiben.
Forschungsrichtungen
Die Erforschung der Wege zur Erkenntnis sind Sache der Kognitionswissenschaften (von lateinisch cognitio Erkenntnis) und der Erkenntnistheorie (auch Epistemologie genannt, áŒÏÎčÏÏÎźÎŒÎ· epistážmÄ Verstehen, (theoretisches) Wissen, Erkenntnis, Einsicht).
Als eine Teildisziplin der Philosophie befasst sich Erkenntnistheorie mit der Frage, was das Wesen, das Zustandekommen, die Bedingungen, Grenzen und Prinzipien von Erkenntnis sind. Eine Kernfrage ist dabei die Frage nach der Sicherheit von Erkenntnis bzw. ob es ĂŒberhaupt sichere Erkenntnis gibt.
Die Abgrenzung der philosophischen Erkenntnistheorie zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen kann wie folgt vorgenommen werden:
- Die Logik ist die Lehre vom folgerichtigen Denken und setzt dabei Erkenntnis schon voraus. Insbesondere die Epistemische Logik befasst sich mit den logischen Beziehungen der in der Erkenntnistheorie wichtigen Begriffe wie Glauben, FĂŒr-möglich-halten, Ăberzeugt-sein oder Wissen.
- Die Wissenschaftstheorie konzentriert sich auf einen Teilbereich der Erkenntnis und fragt nach dem methodisch richtigen Vorgehen bei der Erkenntnisgewinnung im Bereich der wissenschaftlichen Forschung.
- In der Psychologie werden die Mechanismen und VerhÀltnisse des Bewusstseins in ihrer Auswirkung auf die Psyche untersucht. Der Inhalt des Erkannten hat keine primÀre Bedeutung.
- Zu den Kognitionswissenschaften zÀhlt man neben Philosophie und Psychologie auch die Neurowissenschaften sowie Teilbereiche der Linguistik und der Informatik.
Zu den Methoden der Erkenntnisgewinnung und ĂberprĂŒfung von Erkenntnissen sind Beobachtungen sowie die DurchfĂŒhrung von Experimenten, gegebenenfalls mit Versuch und Irrtum, zu zĂ€hlen. Diese beinhalten als Instrumente Aufzeichnung, Dokumentation, Messung, Vergleich, Befragung, Interview und Schlussverfahren wie Abduktion, Deduktion und Induktion. Auch kann die DurchfĂŒhrung von Computersimulationsexperimenten bei der Erkenntnisgewinnung und -ĂŒberprĂŒfung behilflich sein, vorausgesetzt, das zu untersuchende Problem ist modellierbar und der aus der RealitĂ€t stammende Sachverhalt kann hinreichend exakt nachgebildet werden, und Daten sind dazu hinreichend verfĂŒgbar.
Der Erkenntnisbegriff der Wissenschaftstheorie
In vielen systematischen Darstellungen zur Erkenntnistheorie, vor allem aber in der Wissenschaftstheorie wird Erkenntnis eingeschrĂ€nkt gegenĂŒber dem allgemeinen Begriffsinhalt verstanden als Ergebnis der empirischen Forschung. Diese Forschungsergebnisse gehen in den Wissensbestand der jeweiligen Wissenschaften ein. Als Bestimmung des Wissens in diesem vor allem durch die Naturwissenschaften geprĂ€gten Sinne wird ĂŒblicherweise die auf Platons Dialog Theaitetos zurĂŒckgehende Begriffsbestimmung verwendet: Wissen ist wahre, begrĂŒndete Meinung.
Schon in der Philosophie der Antike wurden die in dieser Begriffsbestimmung enthaltenen Begriffe wiederum kritisch hinterfragt. Gibt es ĂŒberhaupt eine absolute, eindeutige Wahrheit? DarĂŒber gibt es ein ganzes BĂŒndel so genannter Wahrheitstheorien. Wie muss die BegrĂŒndung aussehen, damit man sie als korrekte Rechtfertigung ansehen kann? Gibt es ein Sinnkriterium, so dass man eine Meinung ĂŒberhaupt als eine wissenschaftliche Theorie anerkennen kann?
Eine Meinung ist eine Ansicht, Einstellung oder Ăberzeugung, die ein Mensch zu einem Sachverhalt gewonnen hat. Dabei setzt man Erfahrungen oder bestehende Kenntnisse ein, um den Sachverhalt beurteilen zu können. Meinung entsteht also in einem Prozess geistiger Arbeit. Wenn jemand ohne jede Sachkenntnis zu einem Pferderennen geht, auf das nach seinem Empfinden schönste Pferd setzt und dieses gewinnt, so hat er sich eine Meinung ĂŒber den möglichen Sieger gebildet und auch recht gehabt. Diese Art von Meinung hat jedoch sicherlich nicht die gleiche QualitĂ€t wie die Diagnose eines erfahrenen Arztes, der die Röteln feststellt, oder die statische Berechnung eines Bauingenieurs. Eine Meinung unterscheidet sich vom Glauben dadurch, dass sie begrĂŒndbar ist. In den genannten Beispielen zeigt sich aber, dass der Grad der Ăberzeugung höchst unterschiedlich sein kann.
Eine allgemeine Ăberzeugung ist es, dass man Menschen nicht foltern soll. Solche moralischen Urteile sind jedoch nicht Gegenstand der Erkenntnistheorie, weil nach allgemeiner Auffassung sich Werte nicht aus Erkenntnissen ableiten lassen (siehe Naturalistischer Fehlschluss).
WĂ€hrend vor allem im Positivismus davon ausgegangen wurde, dass man in den empirischen Wissenschaften gesichertes Wissen durch Verifikation erlangen kann, wird im Fallibilismus unterstellt, dass der Mensch grundsĂ€tzlich keine endgĂŒltig gesicherte Erkenntnis erlangen kann. Die fallibilistische Position, die zum Beispiel schon von Arkesilaos oder Karneades in der Antike vertreten wurde, hat sich im Verlaufe der Philosophiegeschichte immer stĂ€rker durchgesetzt. Einen wesentlichen Beitrag leistete Hume mit der Widerlegung der Induktion. FĂŒr Hume wurde die Annahme von KausalitĂ€t in der Welt zu einer nicht beweisbaren Gewohnheit. Theoretisch ausgearbeitet wurde diese Position im Kritischen Rationalismus von Popper, der alle Erkenntnis als vorlĂ€ufig betrachtete. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind demnach Theorien, die sich durch empirische Beobachtungen bewĂ€hrt haben. In der Möglichkeit, eine Theorie anhand von BeobachtungssĂ€tzen (BasissĂ€tzen) zu ĂŒberprĂŒfen, sah Popper auch das entscheidende Abgrenzungskriterium zur Metaphysik und zu Pseudowissenschaften. Nur eine Theorie, die falsifizierbar ist, erfĂŒllt das Kriterium der Wissenschaftlichkeit. Erkenntnisfortschritt entsteht nach Popper, wenn die Wissenschaft durch Beobachtungen oder logische PrĂŒfungen WidersprĂŒche in bestehenden Theorien feststellt. Forscher mĂŒssen sich daher bemĂŒhen, bestehende Theorien durch Experimente zu widerlegen oder durch neue, bessere Theorien zu ersetzen. Die QualitĂ€t einer Theorie wĂ€chst dabei, je besser sie falsifizierbar ist und je höher der Grad ihrer BewĂ€hrung ist. Eine BestĂ€tigung seiner Auffassung sah Popper in der RelativitĂ€tstheorie, die als bessere Theorie die lange als unumstöĂliches Naturgesetz geltende Gravitationstheorie Newtons ablöste.
Die hermeneutische Komponente der Erkenntnis
Auf Wilhelm Dilthey geht eine wichtige Abgrenzung zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Methodik zurĂŒck. Wilhelm Windelband machte hieraus die Unterscheidung von ErklĂ€ren und Verstehen. In den Naturwissenschaften werden Gesetze (nomothetisch) erklĂ€rt. In den Kulturwissenschaften werden hingegen Einmaliges, Individuelles und Besonderes (idiographisch) untersucht, fĂŒr die es methodisch des Konzeptes des hermeneutischen Verstehens bedarf. Fruchtbare hermeneutische AnsĂ€tze finden sich insbesondere in den Geschichtswissenschaften, der Psychoanalyse oder der nicht-empirischen Soziologie. Hermeneutische Ausgangspunkte haben auch die Diskurstheorien von Karl-Otto Apel und JĂŒrgen Habermas.
Die aus dieser Entgegensetzung resultierende scharfe Trennung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert hat sich zur Jahrtausendwende eher verwischt. Die Geisteswissenschaften benötigen zum einen systematisch-analytische Verfahren, wie sie in der Lehre zu den Methoden der empirischen Sozialforschung behandelt werden. Zum anderen bedarf es mit steigender KomplexitĂ€t auch in den Naturwissenschaften eines intuitiven, verstehenden Erkennens der ZusammenhĂ€nge, insbesondere seit zum Beispiel in der Physik Theorien ĂŒber GegenstĂ€nde behandelt werden, die unterhalb der Grenze der Beobachtbarkeit liegen.
Erkenntnis und Interesse
Von JĂŒrgen Habermas wurde die schon von Karl Mannheim in Ideologie und Utopie (1929) formulierte These aufgenommen und ausgearbeitet, dass herrschende Gruppen mit ihren Interessen so intensiv an eine Situation gebunden sind, dass sie die FĂ€higkeit verlieren, bestimmte Tatsachen zu reflektieren. Habermas wandte sich in seinem Werk Erkenntnis und Interesse insbesondere gegen die in den Einzelwissenschaften oftmals vorzufindende naive Auffassung einer objektiven Wissenschaft. Unbestritten ist die wissenschaftstheoretische Einsicht, dass jedes Experiment und jede Beobachtung in den empirischen Wissenschaften von der Fragestellung und von der Versuchsanordnung abhĂ€ngt. Jede Beobachtung ist damit theoriebeladen. Die unterschiedlichen Auffassungen ĂŒber die Begriffsbestimmung und die Möglichkeit objektiver Erkenntnis zwischen Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus wurden in den 1960er Jahren im Positivismusstreit ausgetragen.
Die Kritik des Pragmatismus
Mit Schopenhauer, Nietzsche, aber auch Eucken und Dilthey entwickelte sich eine Kritik an dem rein kognitiv gefassten Begriff der Erkenntnis in der Philosophie der Neuzeit. In einer ganzheitlichen Betrachtung beinhaltet Erfahrung nicht nur kognitive, sondern stets zugleich auch affektive Elemente. Vernunft, GefĂŒhl und Wollen sind nicht isolierbar. Diese oft unter dem Sammelbegriff der Lebensphilosophie subsumierten Auffassungen wurden im Pragmatismus und in der Existenzphilosophie aufgegriffen sowie Ende des 20. Jahrhunderts im Neopragmatismus vor allem durch Richard Rorty neu thematisiert.
In der Aufsehen erregenden Arbeit Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie (1979, deutsch 1987) lehnte er Erkenntnistheorie als sinnvolle Disziplin ab:
âWittgensteins, Heideggers und Deweys gemeinsame Diagnose lautet, dass die Vorstellung, das Erkennen sei ein akkurates Darstellen â ermöglicht durch besondere mentale VorgĂ€nge und verstehbar durch eine allgemeine Theorie der Darstellung â, aufgegeben werden muss. Die Rede von âFundamenten der Erkenntnisâ und der Gedanke, die Philosophie habe das cartesianische Unternehmen der Widerlegung des erkenntnistheoretischen Skeptikers zu ihrer zentralen Aufgabe, werden von diesen gleichermaĂen fĂŒr nichtig erklĂ€rt. Weiterhin abgeschafft wird die Descartes, Locke und Kant gemeinsame Idee âdes Bewusstseinsâ als eines besonderen, in einem inneren Raum angesiedelten Forschungsbereichs, in dem sich die Bestandteile und Prozesse finden, die unser Erkennen ermöglichen. Dies bedeutet nicht, dass sie ĂŒber alternative âTheorien der Erkenntnisâ oder âPhilosophien des Mentalenâ verfĂŒgen. Sie verabschieden Erkenntnistheorie und Metaphysik als mögliche Disziplinen.â
Anstelle der Erkenntnistheorie, die Rorty in der Kulturanthropologie oder Wissenschaftssoziologie ansiedeln möchte, fordert er das hermeneutische GesprĂ€ch und hĂ€lt die Frage der LetztbegrĂŒndung fĂŒr irrelevant (Relativismus).
Die Kritiker Rortys halten ihrerseits dagegen, dass mit dessen Ansatz die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis nicht abgeschafft wird. Erkenntnistheorie ist vor allem eine Reflexionswissenschaft, eine nicht empirische Wissenschaft ĂŒber den Umgang mit Empirischem.
Siehe auch
Literatur
Philosophiebibliographie: Erkenntnis â ZusĂ€tzliche Literaturhinweise zum Thema
- Kurt Eberhard: EinfĂŒhrung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Geschichte und Praxis konkurrierender Erkenntniswege. Kohlhammer, 2. Aufl. Stuttgart 1999 (Sehr empfehlenswert als ZweitlektĂŒre, da z. T. ĂŒberraschende, aber plausible Betrachtungen aus sozialwissenschaftlicher Sicht vorgenommen werden.)
- Gottfried Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes bis Wittgenstein. Schöningh, Paderborn, 2. Aufl. 1998 (Zum Einstieg besonders geeignet. Historisch orientiert. Endet bei Wittgenstein. ErgÀnzt sich daher sehr gut mit Norbert Schneider.)
- Richard Hönigswald: Grundfragen der Erkenntnistheorie. Hrsg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Philosophische Bibliothek Bd. 510. Meiner, Hamburg 1997, ISBN 3-7873-1349-4.
- Peter Janich: Was ist Erkenntnis. Eine philosophische EinfĂŒhrung. Beck, MĂŒnchen 2000 (Viele kritische Fragen an die klassische Erkenntnistheorie mit einem weiten Erkenntnisbegriff aus Sicht des methodischen Konstruktivismus. Als EinfĂŒhrung empfehlenswert, als ZweitlektĂŒre sehr wichtig.)
- Alfred Lorenzer: Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des UnbewuĂten. Tectum Verlag, Marburg 2006, ISBN 3-8288-8934-4.
- Hans GĂŒnther RuĂ: Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie und die Suche nach der Wahrheit. Eine EinfĂŒhrung. Kohlhammer, Stuttgart 2004 (klassische Position des Kritischen Rationalismus. Relativ leicht zu verstehen.)
- Herbert SchnĂ€delbach: Erkenntnistheorie zur EinfĂŒhrung. Junius, Hamburg 2002 (sprachanalytisch pragmatischer Ansatz mit einer knappen historischen Einleitung. Zum Einstieg nicht ganz einfach, aber sehr empfehlenswert)
- Norbert Schneider: Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Klassische Positionen. Philipp Reclam jun., Stuttgart 1998 (Als EinfĂŒhrung sehr wichtig, relativ leicht zu lesen und mit einem breiten Spektrum der dargestellten Positionen. Incl. Piaget und Materialismus in Russland. Sehr gute, historisch orientierte EinfĂŒhrung.)
- Anna-Maria Schirmer: ErkenntnisGestalten. Dissertation, Kopaed, MĂŒnchen 2015, ISBN 978-3-86736-436-2
- Max Weber: Die ObjektivitĂ€t sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Wissenschaftlicher Verlag, Schutterwald/Baden 1995 ISBN 978-3-928640-07-7 (Weber diskutiert die Frage, wie gelangt die Sozialwissenschaft zu objektiv gĂŒltiger Wahrheit. Standardwerk einer werturteilsfreien Wissenschaft)
Weblinks
Einzelnachweise
- Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Auflage. Stichwort "erkennen". Walter de Gruyter, Berlin / New York 2002, S. 254.
- Gerhard Vollmer: Biophilosophie. 1. Auflage. Reclam, Stuttgart 1995, S. 110, 111, 114â116.
- Sybille KrĂ€mer: Simulation und Erkenntnis: ĂŒber die Rolle computergenerierter Simulation in den Wissenschaften. In: Thomas Lengauer (Hrsg.): Computermodelle in der Wissenschaft â zwischen Analyse, Vorhersage und Suggestion: VortrĂ€ge anlĂ€sslich der Jahresversammlung vom 2. bis 4. Oktober 2009 zu Halle (Saale). (= Nova Acta Leopoldina: Abhandlungen der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina < ISSN 0369-5034 >; Neue Folge, Nr. 377) Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-8047-2802-8, S. 303â322.