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Die Schrift Erkenntnis und Interesse ist ein 1968 erschienenes Werk von Jurgen Habermas Seine grundlegende Intention ist die Analyse des Zusammenhangs von Erkenntnis und Interesse und die Stutzung der Behauptung dass radikale Erkenntniskritik nur als Gesellschaftstheorie moglich ist Jurgen Habermas Erkenntnis und Interesse Suhrkamp Frankfurt am Main 1968 S 9 danach alle folgenden eingeklammerten Seitenangaben Hervorhebungen jeweils wie im Original Den Anlass der Schrift bildete der sogenannte Positivismusstreit der deutschen Soziologie der auf der Tubinger Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft fur Soziologie mit den beiden Referaten von Theodor W Adorno und Karl R Popper im Oktober 1961 entflammte Vorangegangen war der Schrift die gleichlautende Frankfurter Antrittsvorlesung die Habermas 1965 hielt Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Wirkung 3 Ausgaben 4 Ubersetzungen 5 LiteraturInhalt BearbeitenHabermas geht von der Feststellung aus dass die Philosophie der Neuzeit wesentlich Erkenntnistheorie sei Diese habe nach Kant entscheidend zum Szientismus der Wissenschaften beigetragen der Wissenschaft nicht langer als eine Form moglicher Erkenntnis versteht sondern Erkenntnis mit Wissenschaft identifizieren wolle S 13 Habermas will aufzeigen wie sich diese Auffassung im Laufe der Zeit durchgesetzt hat und welche Alternativen sich anbieten um eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln die sich dem naturwissenschaftlichen Modell entzieht und ein emanzipatorisches Interesse verfolgt Zur Kritik der traditionellen und bis heute wirkenden Erkenntnistheorie greift Habermas Hegels Kritik an Kant auf Die traditionelle Erkenntnistheorie setze eine Art von Wissen als normativ voraus wie es etwa in der Mathematik und der Physik gegeben sei Dieses Wissen bezeichnet Hegel als erscheinendes Wissen S 24 das aber noch kein begriffenes Wissen darstelle Ausserdem gehe die traditionelle Erkenntnistheorie von der Annahme eines fertigen Erkenntnissubjekts aus das wie bei Kant als Gerichtshof eingesetzt und nicht mehr problematisiert werde Hegel habe jedoch durchschaut dass das Erkenntnissubjekt sich selbst nicht transparent S 25 ist und sich erst mit dem Resultat seiner Selbstvergewisserung gegeben ist S 26 Die Marxsche Kritik an Hegel setzt nun an dessen Subjekt der Weltkonstitution ein Dieses sei nicht ein transzendentales Bewusstsein uberhaupt sondern die konkrete Menschengattung die unter naturlichen Bedingungen ihr Leben reproduziert S 38 Das menschliche Subjekt wird dabei von Marx im Unterschied zu Hegel wesentlich als Naturwesen S 45 begriffen Natur wird dabei in subjektive Natur des Menschen und objektive Natur seiner Umgebung unterschieden S 39 Habermas kritisiert dabei an Marx Naturbegriff dass dieser die Beziehung zur Natur als auf das Interesse moglicher technischer Verfugung uber Naturprozesse beschranke S 49 Die Erkenntnis des Menschen werde so zu einem Verfugungswissen das die Kontrolle des gesellschaftlichen Lebensprozesses ermoglicht S 65 was Habermas als positivistisch gefarbte Forderung nach einer Naturwissenschaft vom Menschen S 63 bezeichnet Habermas setzt sich zu Beginn des zweiten Hauptkapitels Positivismus Pragmatismus Historismus S 88 233 mit dem Positivismus Comtes und Machs auseinander Der Positivismus bezeichnet das Ende der Erkenntnistheorie an deren Stelle nun eine Theorie der Wissenschaften tritt Die transzendentallogische Frage nach den Bedingungen moglicher Erkenntnis die zugleich eine Frage des Sinnes von Erkenntnis uberhaupt war wird abgeschnitten Stattdessen gehe es dem Positivismus nur noch um die methodologische Frage nach den Regeln des Aufbaus und der Uberprufung wissenschaftlicher Theorien S 88 Damit verliere der Positivismus die synthetischen Leistungen des erkennenden Subjekts aus dem Blick womit die Problematik der Weltkonstitution verdeckt werde Der Sinn von Erkenntnis selber wird irrational im Namen strikter Erkenntnis S 90 Mit dem Positivismus ist nach Habermas auch eine Geschichtsphilosophie verbunden fur die der wissenschaftlich technische Fortschritt eine uberragende Bedeutung erhalt Dessen Untersuchung tritt an die Stelle der Reflexion des erkennenden Subjektes auf sich selber S 93 Habermas setzt dem Positivismus den Pragmatismus von Charles S Peirce entgegen Peirce stelle das Kollektiv der Forscher in den Mittelpunkt die ihre gemeinsame Aufgabe kommunikativ zu losen versuchen Die Wirklichkeit als Objektbereich der Wissenschaften konstituiere sich erst als deren Praxis Habermas lehnt mit Peirce eine Ontologisierung von Tatsachen ab S 121 Wir konnen so etwas wie uninterpretierte Tatsachen sinnvollerweise nicht denken gleichwohl handelt es sich um Tatsachen die nicht in unseren Interpretationen aufgehen S 124 Habermas schliesst sich im weiteren Verlauf dem pragmatischen Wahrheitsbegriff von Peirce an Der Sinn der Wahrheit von Aussagen konne nicht mehr wie noch bei Kant als durch die Anschauungsformen und Kategorien des Verstandes hergestellte Objektivitat von Erkenntnis definiert werden Vielmehr ergibt sich Wahrheit erst aus dem objektiven Lebenszusammenhang Dem Forschungsprozess der Wissenschaften kommt dabei die Funktion der Stabilisierung von Meinungen der Eliminierung von Ungewissheiten und der Gewinnung unproblematischer Uberzeugungen zu Eine Uberzeugung ist dadurch definiert dass wir unser Verhalten an ihr orientieren S 153 Geltende Uberzeugungen sind universelle Aussagen uber die Realitat die sich in technische Empfehlungen umformen lassen S 154 Sie konnen durch Widerstande der Realitat S 153 verunsichert werden Es werden dann neue Auffassungen gefunden die das gestorte Verhalten wieder stabilisieren S 154 formuliert Habermas im Anschluss an Peirce Das System der Wissenschaften ist aber nur ein Element eines umfassenden Lebenszusammenhangs S 179 Dieser wird als Objektbereich der Geisteswissenschaften S 179 vielmehr erst von diesen in einem umfassenden Sinne interpretiert Habermas kommt im weiteren Verlauf des zweiten Hauptkapitels auf Wilhelm Dilthey und diese Sonderstellung der Geisteswissenschaften zu sprechen Ihr zentrales Thema ist die Hermeneutik die in letzter Instanz auf die Umgangssprache verweist Habermas versteht mit Dilthey die Sprache als den Boden der Intersubjektivitat auf dem jede Person schon Fuss gefasst haben muss bevor sie in der ersten Lebensausserung sich objektivieren kann sei es in Worten Einstellungen oder Handlungen S 198 Sowohl die hermeneutischen wie die empirisch analytischen Wissenschaften werden von Erkenntnisinteressen geleitet Beiden Disziplinen geht es um die fundamentalen Bedingungen der moglichen Reproduktion und Selbstkonstituierung der Menschengattung S 242 Wahrend die empirisch analytischen Wissenschaften aber in den Lebenszusammenhangen des instrumentalen Handelns eingebettet sind und die Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt moglicher technischer Verfugung betrachten gilt das Interesse der hermeneutischen Wissenschaften dem kommunikativen Handeln und der Intersubjektivitat der Verstandigung in der umgangssprachlichen Kommunikation und im Handeln unter gemeinsamen Normen S 221 Das technische Interesse der Natur und das praktische Interesse der Geisteswissenschaften sind erst durch Selbstreflexion der Wissenschaft richtig zu begreifen was von Peirce und Dilthey nicht berucksichtigt wurde Die Grundlage beider Interessen bildet fur Habermas ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse S 244 Dessen Ziel stellt die Befreiung aus dogmatischer Abhangigkeit dar S 256 Das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft ist fur Habermas die Psychoanalyse S 262 Sie ist eine Metatheorie und insofern selbstreflexiv als sie ihren eigenen Status als Wissenschaft reflektiert Wirkung BearbeitenDas Buch entfaltete nach seiner Veroffentlichung eine weit uber die fachphilosophische Debatte hinausgehende Wirkung Die vielfaltige Kritik an seinem Werk veranlasste Habermas funf Jahre spater zu einem umfangreichen Nachwort in dem er seine Argumente prazisierte aber auch einige seiner Thesen revidierte Ausgaben BearbeitenJurgen Habermas Erkenntnis und Interesse Suhrkamp Frankfurt am Main 1968 Jurgen Habermas Erkenntnis und Interesse Mit einem neuen Nachwort 2 Aufl Suhrkamp Frankfurt am Main 1973 ISBN 3 518 07601 9 Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Band 1 Zahlreiche weitere Auflagen im selben Verlag z B 6 Auflage 1981 9 Auflage 1988 13 Auflage 2001 Sonderausgabe 2003 Jurgen Habermas Erkenntnis und Interesse Im Anhang Nach dreissig Jahren Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse Meiner Hamburg 2008 ISBN 978 3 7873 1862 9 Ubersetzungen BearbeitenFranzosisch Jurgen Habermas Connaissance et interet Ubersetzt von Gerard Clemancon Gallimard Paris 1968 Englisch Jurgen Habermas Knowledge and human interests Ubersetzt von Jeremy J Shapiro Beacon Press Boston 1971 ISBN 0 8070 1541 5 Heinemann London 1972 ISBN 0 435 82382 5 Spanisch Jurgen Habermas Conocimiento e interes Taurus Madrid 1982 ISBN 84 306 1163 0 Arabisch Yurġin Habirmas al Maʿrifa wa l muṣliḥa Ubersetzt von Ǧurǧ Kittura Beirut 1998 neu als Al Maʾrifa wa l maṣlaḥa Ubersetzt von Ḥasan Ṣaqr Koln 2001 Ungarisch Jurgen Habermas Megismeres es erdek Ubersetzt von Janos Weiss Jelenkor Pecs 2005 ISBN 963 676 365 8 Literatur BearbeitenWinfried Dallmayr Hrsg Materialien zu Habermas Erkenntnis und Interesse Suhrkamp Frankfurt am Main 1974 ISBN 3 518 07649 3 Thomas McCarthy Kritik der Verstandigungsverhaltnisse Zur Theorie von Jurgen Habermas Frankfurt am Main 1989 S 69 147 Stefan Muller Doohm Hrsg Das Interesse der Vernunft Ruckblicke auf das Werk von Jurgen Habermas seit Erkenntnis und Interesse Suhrkamp Frankfurt am Main 2000 ISBN 3 518 29064 9 Walter G Neumann Praxiskritik J Habermas Erkenntnis und Interesse Haag und Herchen Frankfurt am Main 1992 ISBN 3 89228 794 5 Michael Theunissen Gesellschaft und Geschichte Berlin 1969 Albrecht Wellmer Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus Frankfurt am Main 1969 Normdaten Werk GND 4283795 9 lobid OGND AKS VIAF 192997072 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Erkenntnis und Interesse amp oldid 237201556