Verstehen (auch Verständnis genannt) ist das inhaltliche Begreifen eines Sachverhalts, das nicht nur in der bloßen Kenntnisnahme besteht, sondern auch und vor allem in der intellektuellen Erfassung des Zusammenhangs, in dem der Sachverhalt steht.
Verstehen bedeutet nach Wilhelm Dilthey, aus äußerlich gegebenen, sinnlich wahrnehmbaren Zeichen ein „Inneres“, Psychisches zu erkennen. Der Begriff „Verstehen“ wird häufig dem Begriff „Erklären“ gegenübergestellt, wobei das genaue Verhältnis beider Begriffe (und Prozesse) zumeist zueinander unklar bleibt. Grundlage des Verstehens ist Verstehbarkeit.
Deutungsrahmen
Oft ist ein Verstehen nur mittels Deutungsrahmen möglich. Deutungsrahmen sind gesellschaftlich verbreitete und individuell angeeignete Wissensstrukturen, auf die Prozesse des Verstehens aufbauen. Deutungsrahmen sind für das Verständnis von – vor allem sprachlicher – Kommunikation bedeutsam: Der Empfänger einer Information reichert in der meist ungenauen/unvollständigen Alltagskommunikation das Gehörte oder Gelesene mit Kontextinformationen an bzw. ergänzt es; erst dadurch bekommt dieses seinen vollen bzw. einen eindeutigen Sinn. Er ordnet Sinneseindrücke und Erfahrungen einer bedeutsamen Struktur zu.
Deutungsrahmen sind geistige Repräsentationen der Welt im Bewusstsein des Einzelnen. Sie prägen seine Wahrnehmung des gesellschaftlichen Umfeldes und die Bedeutung, Sinnhaftigkeit und Einordnung sozialer Handlungen anderer Personen sowie seine Reaktionen (zum Beispiel Empathie) darauf.
Man kann auch Deutungsrahmen von Gruppen, gesellschaftlichen Gruppen oder Gesellschaften konstruieren.
Verstehen und Erkenntnis
Verstehen im obigen Sinn (Abschnitt Deutungsrahmen) und als Interpretation setzt Intelligenz bzw. Geist voraus. Nach Werner Sombart beruht das Verstehen auf der Identität des Menschengeistes. Es ist also nur aufgrund der prinzipiellen Identität von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt möglich. Nur Menschen können daher im eigentlichen Sinne – von Menschen – verstanden werden.
Der Begriff des Verstehens im geistigen bzw. interpretativen Sinn spielt in der Philosophie und der Hermeneutik eine große Rolle. Ein Beispiel dafür ist die Frage des Philippus (Apostelgeschichte): „Verstehst du auch, was du da liest?“ (Philippus fragt den Äthiopier, Apg 8,30)
Verstehen in der Textanalyse
Als Arbeitsgrundsätze des Verstehens in der Textanalyse werden angeführt:
- Textbezogenheit: Auf den analysierten Text ist ausdrücklich Bezug zu nehmen.
- Schriftlichkeit: Die wichtigsten Gedanken und Ergebnisse sind schriftlich zu fixieren.
- Diskursivität: Eine Textanalyse muss nachvollziehbar und begründet sein.
- Prinzip des hermeneutischen Zirkels: Ein Text ist mehrfach zu lesen, „um das Verständnis von Teilen und Ganzem wechselseitig zu prüfen und zu überarbeiten.“
- Prinzip der wohlwollenden Interpretation (principle of charity): Solange und so weit wie möglich ist davon auszugehen, dass der Autor wahrhaftig, rational und konsistent argumentiert.
Weitere Bedeutungen
Der Begriff Verstehen bedeutet darüber hinaus auch:
Ob Tiere etwas verstehen können, ist umstritten. Versuche bei Affen zeigten aber, dass sie eine dreistellige Anzahl von Wörtern lernen und richtig anwenden können.
Siehe auch
Literatur
- Andreas Mauz, Christiane Tietz (Hrsg.): Verstehen und Interpretieren. Zum Basisvokabular von Hermeneutik und Interpretationstheorie (= Hermeneutik und Interpretationstheorie. Bd. 1). Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020, ISBN 978-3-506-73245-3.
Weblinks
- Stephen Grimm : Understanding. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2021.
- Emma C. Gordon: Understanding in Epistemology. In: J. Fieser, B. Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
Einzelnachweise
- Georg Brun, Gertrude Hirsch Hadorn: Textanalyse in den Wissenschaften. – Zürich: vdf (UTB Nr. 3139), S. 9. – ISBN 978-3-8252-3139-2.
- Georg Brun, Gertrude Hirsch Hadorn: Textanalyse in den Wissenschaften. – Zürich: vdf (UTB Nr. 3139), S. 9. – ISBN 978-3-8252-3139-2.
- Klaus F. Röhl, Hans Christian Röhl: Allgemeine Rechtslehre. 3. Auflage. C. Heymanns, Köln u. a. 2008, § 5 III, S. 53.