Stamm â im deutschen Sprach- und Kulturraum auch speziell Volksstamm â bezeichnet eine relativ wenig komplexe gesellschaftliche Organisationsform, deren Mitglieder durch die oft mythische Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung sowie durch Sprache oder Dialekt, Religion, Brauchtum und Gesetz und auch durch politische Interessen zusammengehalten werden. Von dieser Vorstellung eines Stammes unterscheiden die Politikwissenschaft und die Ethnologie die ĂŒbergeordnete Integrationsstufe des Staates.
Die Bezeichnung Stamm wird, vor allem von Gegnern evolutionstheoretischer AnsĂ€tze, einer tiefgreifenden Ideologiekritik unterzogen, weitestgehend abgelehnt und gerne durch den Begriff âEthnieâ ersetzt. Unter Vertretern evolutionĂ€rer Theorien, insbesondere des Neoevolutionismus, wird er jedoch weiter an zentraler Stelle verwendet und ist auch sonst in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur hĂ€ufig vorzufinden, insbesondere in der ArchĂ€ologie und der Geschichtswissenschaft. Auch in der Ethnologie ist die Definition einer Volksgruppe als âStammâ v. a. dann weiterhin aktuell (vergleiche beispielsweise die Scheduled Tribes in Indien), wenn sie sich an der Selbstidentifikation sowie der kulturellen, religiösen und ethnischen IdentitĂ€t der jeweiligen sozialen Gruppe orientiert.
âStammâ ist allgemein von der biologischen âAbstammungsgruppeâ (Lineage) zu unterscheiden und entspricht beispielsweise auf Afrika bezogen der âEthnieâ, die eine zwar gesellschaftlich konstruierte, aber als real aufgefasste Einheit bildet.
Nach der ethnologischen Systematisierung beziehen sich die Mitglieder eines Clans auf einen mythischen Vorfahren (oder auf ein Totem), wĂ€hrend auf der darunter folgenden Ebene der Abstammungsgruppen ein mehr oder weniger klar feststellbarer biologischer oder geschichtlicher Stammvater oder eine Stammmutter genannt wird. Auf der darĂŒber liegenden Ebene des Stammes ist das einigende Prinzip eher abstrakter Art (Sprache, Religion, Brauchtum, Gesetz â so auch bei den deutschen StĂ€mmen), obwohl auch hier gelegentlich mythische Ahnen zitiert werden (etwa bei den StĂ€mmen Israels).
StĂ€mme schlossen sich zu StammesverbĂ€nden oder GroĂstĂ€mmen zusammen (vergleiche Stammeskonföderation, Stammesgesellschaft), die dann teils als eigenes âVolkâ bezeichnet werden (etwa das âVolk der Frankenâ), wĂ€hrend von Völkern ansonsten erst bei der Vereinigung von verschiedenen StĂ€mmen zu einer Nation gesprochen wird (âVolk der Deutschenâ).
Begriffsgeschichte Bearbeiten
Der Begriff âStammâ als ein organisierter Verband innerhalb eines Volkes taucht an prominenter Stelle bei den Zwölf StĂ€mmen Israels im 2. Buch Mose auf. Die ĂŒbergeordnete Einheit des âVolkesâ wird hier eingeschrĂ€nkt als Geschichtsmythos verwendet im Sinne eines Stammesverbands mit einer fĂŒr alle Mitglieder gemeinsamen Abstammung. Indem die israelitischen StĂ€mme eine gemeinsame Sprache und Kultur innerhalb eines geschlossenen Siedlungsgebietes herausbildeten, entwickelten sie ein eigenes, sich nach auĂen abgrenzendes ZusammengehörigkeitsgefĂŒhl. Hier machte sich die Vorstellung eines âStammvatersâ fest. Der nachfolgende geschichtliche Prozess, mit dem sich eine Gruppe von Menschen von anderen abgrenzt und zu einem Volk zusammenfindet, wird als Ethnogenese bezeichnet.
Sprachlich und bildhaft ist die âAbstammungâ mit dem Baumstamm verbunden, dem von seinem Ursprung her (aus dem Samen) Ăste gewachsen sind. Hierbei kommt es sprichwörtlich zur Aufzweigung anfĂ€nglich einer einzigen Linie (vergleiche lineare Verwandtschaft). Diese doppelte Bedeutung beinhaltet auch das lateinische stirps, das sowohl botanisch die âWurzelâ oder den âStammâ als auch die âNachkommenâ einer Familie oder Herkunftslinie bezeichnet, beispielsweise die des Aeneas.
Das Wort âStammâ bildete sich in der entsprechenden Bedeutung ĂŒber das Mittelhochdeutsche stam aus dem Althochdeutschen liutstam. Das englische Wort tribe und das französische tribu beginnen mit der Silbe tri (âdreiâ) vom lateinischen Wort tribus, das eine Einteilung der Bevölkerung des antiken Roms in drei Abteilungen meinte. Im Zuge der Christianisierung Britanniens â ebenfalls von der römischen Besatzungsmacht importiert â bezog sich das englische tribe auch auf die Zwölf StĂ€mme Israels. Die Vorstellung dieser StĂ€mme ging unmittelbar in die Reisebeschreibungen des 17. und 18. Jahrhunderts ein; zusĂ€tzlich begannen die damaligen Ethnologen, den Begriff Stamm im Sinne einer Einteilung oder Gliederung der Völker in den besuchten fremden LĂ€ndern anzuwenden. Die hierbei miteinbezogene evolutionistische Betrachtungsweise stand teilweise noch stark unter dem Einfluss der biblischen ErzĂ€hlungen, jedoch boten auch Autoren des klassischen Griechenlandes einen Fixpunkt. Sie beschrieben die Struktur ihrer eigenen Gesellschaft unter anderem als in Trittyen (âDrittelâ) gegliedert und grenzten sie so gegenĂŒber den Gemeinwesen der mutmaĂlich desorganisierteren Barbaren ab.
Die nachrömischen germanischen Bevölkerungsgruppen in Mitteleuropa wie Alamannen und Langobarden werden wegen ihres geringen staatlichen Organisationsgrades als StĂ€mme bezeichnet. Im Mittelalter gab es in Deutschland auf dem Weg zur Nationenbildung unter anderem Stammesabgrenzungen zwischen den Friesen, Sachsen, ThĂŒringern, Franken, Schwaben und Baiern.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts erhielt âStammâ fĂŒr die gegenwĂ€rtigen Gesellschaften die allgemeine Bedeutung einer einfach und ursprĂŒnglich organisierten Untergruppe einer vorzugsweise auĂereuropĂ€ischen Gesellschaft (vergleiche Stammesgesellschaft). Dementsprechend definiert ein Wörterbucheintrag von 1965 den Stamm als âeine besonders bei den Naturvölkern in den Vordergrund tretende ethnische Einheit, die Menschen gleicher Sprache und gleicher Kultur zu einem autonomen Territorialverband zusammenschlieĂtâ. Das Wort Verwandtschaft kommt in diesem Text nicht vor.
Antike Gesellschaft Bearbeiten
Grundlegend fĂŒr die anthropologische Theoriebildung im 19. Jahrhundert war die Untersuchung der griechisch-römischen Antike. Im antiken Griechenland war die Phyle (Stamm, Volk) eine organisatorische Untereinheit des Staates. Genos (Pl. genÄ) bezeichnete eine Verwandtschaftsgruppe. Die Phratrie bildete eine ĂŒbergeordnete Einheit, die sich auf einen mythischen Ahnen bezog. Eine gesellschaftliche Klassifikation beinhaltet Genos (Geschlecht, Familiengruppe), Phratrie, Trittys als Untergliederung der Phyle und Ethnos (Volk). Die genÄ waren endogam, die Heiratsgemeinschaft schloss also nicht den gesamten Stamm ein. UrsprĂŒnglich war die Gliederung in genÄ aber wohl auf die Aristokratie beschrĂ€nkt. Diese Gliederung lag auch der militĂ€rischen Organisation zugrunde. In der Ilias (2, 101) empfiehlt Nestor: âOrdne die MĂ€nner nach StĂ€mmen und nach Phratrien, dass die Phratrie der Phratrie beistehe und der Stamm dem Stammeâ. In Attika gab es vier StĂ€mme zu je drei Phratrien und dreiĂig genÄ. Diese StĂ€mme leiteten ihre Abstammung auf einen eponymen Heros zurĂŒck, sind aber kĂŒnstlich geschaffene politische und administrative Einheiten. In den athenischen Rat der 400 entsandte jeder Stamm 100 Mitglieder. Wer kein Mitglied eines Stammes war, hatte folglich keine politischen Rechte. Seit der Reform des Kleisthenes spielte der Stamm keine Rolle mehr in der politischen Organisation, er teilte Attika in Gemeindebezirke (Demen) ein, die fĂŒrderhin die politische Grundeinheit bildeten. Zehn dieser Demen wurden zu einem Stamm zusammengefasst, der nun aber ĂŒber den Wohnort und nicht ĂŒber die tatsĂ€chliche oder angenommene Abstammung definiert war. Der Stamm wĂ€hlte den Phylarch (StammesfĂŒhrer), Strategos und Taxiarchos (Brigadier), stellte fĂŒnf Kriegsschiffe fĂŒr die Flotte und wĂ€hlte 50 Mitglieder fĂŒr die Ratsversammlung. Auch diese StĂ€mme erhielten einen eponymen Heros zugeteilt, fĂŒr dessen Kult sie verantwortlich waren.
In Rom waren ebenfalls gentes (Sg. gens) zu einem Stamm (tribus) zusammengeschlossen. Der Sage nach wurde Rom von einem latinischen, einem sabellischen und einem âgemischtenâ Stamm begrĂŒndet, die alle aus jeweils hundert gentes bestanden. Jeweils zehn gentes bildeten eine curia (Pl. curiae), die meist der griechischen Phratrie gleichgesetzt wird. Der Senat war aus den Vorstehern dieser 300 gentes zusammengesetzt. In der Reform des Servius Tullius wurden neue gentes gebildet; hier wird deutlich, dass es sich um politische Einheiten handelte, die aber weiterhin auf Verwandtschaftsbeziehungen begrĂŒndet waren. In beiden FĂ€llen, Kleisthenesâ Phylenreform und der Kurienbildung, wurde durch Neuorganisation die Stammesgesellschaft in ein staatliches Gebilde transformiert.
Evolutionismus Bearbeiten
In der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts erschienen einige frĂŒhe Standardwerke der anthropologischen Literatur, darunter 1861 von Johann Jakob Bachofen Das Mutterrecht und 1877 von Lewis Henry Morgan Ancient Society (Urgesellschaft). Die Autoren vertraten ein evolutionistisches Modell, fĂŒr das sie nach den UrsprĂŒngen der Gesellschaft suchten. Obwohl sie in ihren Schlussfolgerungen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen ĂŒber die ursprĂŒnglichen Gesellschaftsformen kamen, sahen sie doch alle den Anfang der gesellschaftlichen Organisation in der Familie. Aus dieser Keimzelle hĂ€tten sich die umfassenderen Strukturen entwickelt, fĂŒr deren Beschreibung sie aus der antiken Gesellschaft entlehnte Begriffe auf die sogenannten primitiven Völker ĂŒbertrugen. UnabhĂ€ngig davon, ob eine leicht erkennbare patrilineare oder eine nur aus RĂŒckschlĂŒssen ableitbare matrilineare Abstammungsfolge gefunden wurde, entscheidend war die Annahme, dass eine gemeinsame einlinige Abstammung (unilinear) die Grundlage der gesellschaftlichen Organisation bildete.
Das lateinische Wort gens bezeichnete noch bei Theodor Mommsen (Römische Geschichte, 1854â56) nach dem römischen Familienrecht eine blutsverwandte Sippe, deren geradlinige Abstammungsfolge zu eindeutigen RechtsverhĂ€ltnissen fĂŒhren sollte. Die gentes bildeten in diesem Sinne die Grundlage fĂŒr die Definition von Volksstamm. Erst spĂ€ter wurde klar, dass in den römischen gentes hĂ€ufig konstruierte Traditionen weitergegeben wurden, die in der Summe das Modell einer Gesellschaft ergaben. FĂŒr Henry Sumner Maine (Ancient Law, 1861) und andere musste die aus Verwandtschaftsbeziehungen hervorgegangene Gesellschaftsstruktur nicht zwingend auf der biologischen Reproduktion beruhen. Er erkannte auch quasi fiktive Verwandtschaften, die nur auf einem gemeinsamen Geschichtsmythos beruhten. Den ursprĂŒnglichen Zustand vor EinfĂŒhrung der staatlichen Ordnung glaubten die Autoren bei den indigenen Völkern beobachten und auf diese das antike Vokabular ĂŒbertragen zu können.
Die Entwicklung des evolutionĂ€ren Abstammungsmodells fiel zeitlich mit dem europĂ€ischen Kolonialismus zusammen. In den unter ihre Herrschaft gestellten Gebieten benutzten die Kolonialherren vielerorts die Methode des indirect rule. Vorhandene Machtstrukturen wurden ausgenĂŒtzt, um StammesĂ€lteste und lokale OberhĂ€upter mit Verwaltungsaufgaben zu betrauen. Manche Ansprechpartner der Kolonialbeamten erhielten eine zuvor nicht gekannte MachtfĂŒlle, sobald sie im Sinne der zentralen Verwaltung agierten. Die ursprĂŒnglich kulturelle Einheit des Stammes wurde nun als politische Organisationsform innerhalb von neu geschaffenen kolonialstaatlichen Strukturen zementiert.
Die in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstandenen Theorien von der multilinearen Evolution erweitern die Vorstellungen von einer unilinearen Evolution, indem sie ökonomische und ökologische EinflĂŒsse als die Kultur prĂ€genden Faktoren hinzunehmen. Einen entscheidenden Einfluss der Umwelt fĂŒr die gesellschaftliche Entwicklung hob Julian Steward (1902â1972) in seiner Cultural Ecology (Kulturökologie) hervor. Dessen SchĂŒler Elman Service (Primitive Social Organization: An Evolutionary Perspective, 1962) klassifizierte die Evolution nach altem Schema, aber mit neuen Argumenten, nach ihrem politischen Organisationsgrad in die vier Stufen: band society (herrschaftslose, wenig organisierte Kleingruppen in Clan-GröĂe), Stamm (formalisierte FĂŒhrungsstrukturen, regelmĂ€Ăige Ăltestenversammlungen), HĂ€uptlingstum (durch Verwandtschaftsbeziehungen geprĂ€gte hierarchische Gesellschaft) und Staat (zentralisiert, hierarchisch, hoch organisiert).
Funktionalismus Bearbeiten
Die Abstammung als Grundlage fĂŒr die Formierung einer Gesellschaft blieb als anthropologische Vorstellung erhalten, auch wenn die evolutionistischen Theorien bald kritisiert und sie in der britischen funktionalistischen Anthropologie durch ein Modell der gleichzeitigen Systeme ersetzt wurden. Die Funktionalisten lehnten die bisherigen psychologischen Interpretationen ab und versuchten stattdessen, aus Einzelbeobachtungen allgemeine GesetzmĂ€Ăigkeiten abzuleiten. Zu ihren Vertretern zĂ€hlten BronisĆaw Malinowski (Argonauts of the Western Pacific, 1922), Alfred Radcliffe-Brown (Andaman Islanders, 1922) und Edward E. Evans-Pritchard. Letzterer verglich in der zusammen mit Meyer Fortes verfassten EinfĂŒhrung des sozialanthropologischen Klassikers African Political Systems (1940) zwei in Afrika ausgemachte, unterschiedliche gesellschaftliche Kategorien miteinander. Ihre Grundannahme war nicht mehr die historische Abfolge, sondern die gleichzeitige Existenz zentralisiert organisierter und segmentĂ€rer, auf einem Verwandtschaftssystem beruhender Gesellschaften. Evans-Pritchard zeigte die integrative Kraft von Stammeseinheiten (Lineages), die keine ĂŒbergeordnete politische Herrschaftsstruktur kannten, bei den sudanesischen Nuer und den Azande; parallel forschte sein Kollege Godfrey Lienhardt bei den Dinka. Der Stamm wurde nicht als Verwandtschaftsgruppe und ohne einheitliche Definition als eine gesellschaftliche Einheit aufgefasst, die souverĂ€n ĂŒber ein bestimmtes Gebiet Macht ausĂŒbt. FĂŒr Evans-Pritchard lag der Gruppenzusammenhalt der Hirtenvölker vor allem in der wirtschaftlichen Notwendigkeit begrĂŒndet, sich im Kampf um Weidegebiete gegen andere Gruppen behaupten zu mĂŒssen, Lienhardt betonte die Wirkmacht der Rituale bei diesen Auseinandersetzungen um die natĂŒrlichen Ressourcen. Beide beschrieben die politische Rolle des Stammes als einer Kampfgemeinschaft, die von ihren Mitgliedern SolidaritĂ€t einfordert.
Primordialismus Bearbeiten
Die Theorie der ursprĂŒnglichen Bindung (Primordialismus: âvon der ersten Ordnung herâ) sieht das Individuum durch bestimmte âPrĂ€gungenâ seit ewiger Zeit mit einer Gruppe unverĂ€nderlich verbunden. UnabhĂ€ngig vom rĂ€umlichen und zeitlichen Umfeld soll die als statisch gedachte, ethnische Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Gruppe bei der Betrachtung von auĂen erkennbar sein. Zu den verbindenden Elementen gehören Verwandtschaftsbeziehungen, biologische Merkmale sowie eine gemeinsame Sprache und Geschichte. Anhand dieser objektiv festgelegten Kriterien, die als quasi naturgegeben betrachtet werden, erfolgt die ethnische Zuordnung. Zu den Hauptvertretern der strengen soziobiologischen Richtung des Primordialismus gehören Pierre L. van den Berghe (1933â2019) und Richard Dawkins (* 1941), die den Ethnien einen biologisch-genetischen Ursprung unterstellen.
Den ursprĂŒnglichen kulturhistorischen Ausgangspunkt der EthnizitĂ€t vertritt auch der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz, der in den 1960er und 1970er Jahren in der marokkanischen Kleinstadt Sefrou Feldforschungen betrieb. Zur selben Zeit entwickelte ebenfalls in Marokko sein Gegenspieler Ernest Gellner das Modell einer segmentĂ€ren Stammesorganisation. Der prĂ€genden Bedeutung der unilinearen Deszendenz (der Herkunft aus einer Abstammungslinie) maĂ Gellner wenig Bedeutung bei, seine Theorie ist eine eigene Weiterentwicklung des von Evans-Pritchard bei den schwarzafrikanischen Nuer entwickelten Konzepts der Segmentation. EinschrĂ€nkend wird darauf hingewiesen, dass die Ideologie des abgeschlossenen Stammes kein objektives Kriterium, sondern nur ein kĂŒnstliches, von den Stammesmitgliedern selbst beschworenes Modell ist, das den tatsĂ€chlichen Beziehungen nur unzureichend entspricht.
Begriffskritik Bearbeiten
Ein grundsĂ€tzlicher Kritikpunkt am Stammesbegriff bezog sich auf die unscharfe Definition und mangelnde Abgrenzung gegenĂŒber Volk, Clan oder Sippe. Morton Fried zĂ€hlte nach seiner ersten Untersuchung einer chinesischen Gesellschaft (Fabric of Chinese Society. A Study of the Social Life of a Chinese county Seat, 1967) in The Notion of Tribe (1975) die bisherige Begriffsverwendung als Sprachgruppe, Verwandtschaftsgruppe, kulturelle, ökonomische oder politische Einheit auf. Er zog als der am weitesten gehende Kritiker die Schlussfolgerung, dass die Stammesdefinitionen schlicht Konstruktionen von Anthropologen fĂŒr unterhalb von staatlichen Organisationen liegenden zweitrangigen sozialen PhĂ€nomene seien. Daneben gĂ€be es den Stamm als eine romantische, mythenbehaftete Vorstellung von edlen Wilden. Fried stellte den Stammesbegriff im gesellschaftspolitischen Diskurs als unbrauchbar bloĂ, ohne jedoch eine Alternative anbieten zu können.
Ab Mitte der 1960er Jahre geriet die GegenĂŒberstellung von traditionellem Stamm und modernem Staat allgemein in Verruf, der Stamm wurde als anthropologischer Terminus ĂŒberwiegend fĂŒr unbrauchbar und ideologisch behaftet erklĂ€rt. Gelegentlich fĂŒllte ein anderer Terminus (etwa âtribale Gesellschaftâ) zur Beschreibung desselben Sachverhalts die LĂŒcke. Besonders die mitschwingende Auffassung von Stamm als einer ursprĂŒnglichen Gesellschaftsform stieĂ auf Ablehnung, weil in ihr das evolutionĂ€re Geschichtsbild weiterhin tradiert wurde.
Zur sozialwissenschaftlichen Kritik am Begriff gehörte dessen Verwendung im kolonialen Zusammenhang. Besonders in Afrika sind durch die Installation lokaler FĂŒhrer Stammeseinheiten geschaffen worden, die es vorher so nicht gab. Traditionell zeitlich befristete, wenig und nur in Teilbereichen einflussreiche HĂ€uptlinge einer Gemeinschaft wurden als Ansprechpartner der Kolonialverwaltung mit einer Macht ausgestattet, die zu strukturellen Machtverschiebungen fĂŒhren konnten. Ein Beispiel ist Marokko, das 1912 vertraglich unter französische Protektoratsverwaltung kam. Die ĂŒberwiegend in den Bergen des Atlas lebenden Berber erhielten gegenĂŒber der arabischen Mehrheitsbevölkerung eine rechtliche Bevorzugung, die 1930 mit dem dahir berbĂšre (Berberdekret) erneut bestĂ€tigt wurde. Damit sollten BerberstĂ€mme, die ihren Widerstand gegen die französische Herrschaft aufgegeben hatten, assimiliert werden. Die Schuld an den gesellschaftlichen Problemen vieler unabhĂ€ngig gewordener afrikanischer Staaten wurde in der Weiterexistenz vorkolonialer StammesidentitĂ€ten gesehen, deren Konservierung den KolonialmĂ€chten angelastet wurde. Das Wort âTribalismusâ fasste praktisch sĂ€mtliche Fehlentwicklungen zusammen.
Aus der marxistischen Sicht Maurice Godeliers in den 1970er Jahren war das grundsĂ€tzliche Problem die Bedeutung, die den Verwandtschaftsbeziehungen fĂŒr die Bildung der Gesellschaften beigemessen wurde. Dies wĂŒrde den Blick auf die strukturellen ZusammenhĂ€nge verstellen, die fĂŒr die gesellschaftlichen Beziehungen verantwortlich seien, und die durch ein neo-strukturalistisches Konzept offengelegt werden könnten.
Insgesamt verschwand der âStammâ aus der gesellschaftspolitischen Diskussion, wĂ€hrend das Wort bis heute weiterhin hĂ€ufig in den Medien in seiner alten, vorurteilsbehafteten Bedeutung als griffige ErklĂ€rung fĂŒr alle Arten von Wirtschaftskrisen und Strukturproblemen in DrittweltlĂ€ndern verwendet wird, insbesondere auch im Zusammenhang mit den arabischen Revolutionen seit Anfang des Jahres 2011.
NĂŒtzlichkeit des Stammesbegriffs Bearbeiten
In der anthropologischen Diskussion um den Ursprung und die Entwicklungsstufen von Gesellschaften hat sich der Stammesbegriff als wenig brauchbar und ideologisch behaftet erwiesen, ĂŒberdies wurden vermeintlich eindeutige Abgrenzungen gesellschaftlicher Einheiten als problematisch erkannt. Eine Ă€hnliche BedeutungsunschĂ€rfe besitzt jedoch auch der Begriff der EthnizitĂ€t. Beidesmal wird die von der Gruppe selbst vorgenommene Grenzziehung und behauptete kollektive IdentitĂ€t zusammen mit der Fremdzuschreibung (AuĂenwahrnehmung) untersucht. EthnizitĂ€t beschreibt die kulturellen Eigenheiten als Entwicklungsprozess innerhalb der jeweiligen Tradition, die den spezifischen Rahmen bildet.
Die Beschreibung bestimmter lokaler Gesellschaftsformen als StĂ€mme besitzt nach wie vor eine in Fachkreisen weitgehend unbestrittene Bedeutung. Sinnvoll ist die Verwendung des Stammesbegriffs unter anderem fĂŒr islamische Gesellschaften in Nordafrika und im Nahen Osten, fĂŒr SĂŒdasien und fĂŒr die Indianer Nordamerikas. Mit dem Wort âStammâ im Sinne von abgegrenzten Gesellschaftsgruppen, die sich meist in patrilinearer Abstammung auf einen gemeinsamen Vorfahren beziehen, werden aus den Sprachen der Region ĂŒbersetzt: arabisch qabÄ«la oder ÊżaĆĄÄ«ra, daraus tĂŒrkisch aĆiret und kurdisch eĆiret, tĂŒrkisch/persisch il, sowie das in mehreren Turksprachen vorkommende tayfa. Menschen bezeichnen sich als Angehörige eines Stammes, dem sie sich neben der Identifikation ĂŒber eine Abstammungslinie in kultureller, religiöser und politischer Hinsicht verbunden fĂŒhlen. Um die historische Entwicklung zu verstehen, wie in einer durch StĂ€mme organisierten gesellschaftlichen Lebensform Staaten entstehen und wieder zerfallen können, braucht man jedoch ĂŒber die Selbstzuschreibungen der StĂ€mme hinausgehende theoretische ErklĂ€rungsmodelle.
Die StĂ€mme existieren seit Jahrhunderten und definieren ĂŒber deutlich benannte Kriterien ihre kollektive IdentitĂ€t. Die Macht der StĂ€mme kann so weit gehen, dass sie innerhalb ihres Gebietes den Einfluss des Staates auf ein Minimum zurĂŒckgedrĂ€ngt haben und der Staat nach dem Prinzip des indirect rule mit den StammesĂ€ltesten kooperiert. Die pakistanische Provinz Belutschistan ist ein Musterbeispiel fĂŒr eine Stammesherrschaft. In den kurdischen Gebieten in der TĂŒrkei und im Irak hat der Einfluss der StammesfĂŒhrer trotz der gleichzeitigen Urbanisierung seit den 1980er Jahren zugenommen.
In Nordafrika und im Nahen Osten mit einer ĂŒberwiegend islamischen Bevölkerung sind es in den meisten FĂ€llen Muslime, die sich mit Stammeseinheiten identifizieren, wĂ€hrend die christlichen Minderheiten in zahlreiche Sekten zersplittert sind, die fĂŒr ihre Mitglieder den gesellschaftlichen Zusammenhalt bilden. Der vom Islam erhobene universale religiöse und politische FĂŒhrungsanspruch vertrĂ€gt sich ideologisch nicht mit dem Streben der StĂ€mme nach politischer Selbstbestimmung. Dennoch sehen sich auch streng islamische Gemeinschaften wie die Paschtunen in Pakistan und Afghanistan in der Lage, ihre StammesidentitĂ€t mit den Forderungen ihrer Religion zu verbinden. In der Rechtsprechung mĂŒssen Gewohnheitsrecht und Scharia vereinbart werden. Auch in den ĂŒbrigen gesellschaftlichen Bereichen gilt es, das universale Glaubenssystem den lokalen Gegebenheiten anzupassen. Vielfach erweist sich der Islam dabei als absorbierend, pragmatisch und flexibel.
Literatur Bearbeiten
- Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats. In: Marx-Engels-Werke. Band 21. Berlin 1973, S. 25â173 (original: ZĂŒrich 1884).
- Morton Herbert Fried: The notion of tribe. Cummings, Menlo Park 1975 (englisch).
- Jonathan Friedman: Tribes, States, and Transformations. In: Maurice Bloch (Hrsg.): Marxist Analyses and Social Anthropology (=Â Association of Social Anthropologists Studies. Band 3). Wiley, New York 1975, S. 161â202.
- Sarah C. Humphreys: Anthropology and the Greeks. Routledge, London u. a. 1978 (englisch; insbesondere Kapitel 8).
- Wolfgang Kraus: Islamische Stammesgesellschaften: Tribale IdentitÀten im Vorderen Orient in sozialanthropologischer Perspektive. Böhlau, Wien u. a. 2004, ISBN 3-205-77186-9 (PDF-Downloadangebot auf oapen.org).
- Bruno KrĂŒger: Stamm und Stammesverband bei den Germanen in Mitteleuropa. In: Zeitschrift fĂŒr ArchĂ€ologie. Band 20, Nr. 1, 1986, S. 27â37.
- Adam Kuper: The invention of primitive society: Transformations of an illusion. Routledge, London 1988 (englisch).
- Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung: Das Werden der frĂŒhmittelalterlichen gentes. Böhlau, Köln/Graz 1961.
Siehe auch Bearbeiten
- Tuath und Irische Hochkönige
- Kleinkönig bzw. âStammesfĂŒhrerâ
- Herzogtum bzw. âStammesherzogtumâ
Weblinks Bearbeiten
Einzelnachweise Bearbeiten
- (k) Wolfgang Kraus: Islamische Stammesgesellschaften. Tribale IdentitÀten im Vorderen Orient in sozialanthropologischer Perspektive. Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2004, ISBN 3-205-77186-9 (PDF-Downloadangebot auf oapen.org).
- S. 28â31.
- S. 34â36.
- S. 138/139 sowie 143/144.
- S. 19 und 371.
- S. 38â42.
- S. 42 und 371.
- S. 43/44 und 48/49.
Sonstige Belege
- Roy Richard Grinker: Houses in the Rainforest: Ethnicity and Inequality Among Farmers and Foragers in Central Africa. University of California Press, 1994, S. 12: âThere is already a vast and critical literature on the theoretical and methodological problems of âtribeâ and âtribalismâ [âŠ] and the replacement of these terms with âethnic groupâ and âethnicityâ.â Zusammenfassend auch beispielsweise: Wolfgang Kraus: Islamische Stammesgesellschaften: Tribale IdentitĂ€ten im Vorderen Orient in sozialanthropologischer Perspektive. Böhlau, Wien u. a. 2004, S. 27 ff.
- Beispielsweise Colin Renfrew, Paul G. Bahn: Archaeology: Theories, Methods and Practice. Thames and Hudson, New York 2008 (englisch).
- Beispielsweise Malcolm Todd: The Early Germans. 2. Auflage. Wiley-Blackwell 2004 (englisch).
- Wolfgang Kraus: Zum Begriff der Deszendenz: Ein selektiver Ăberblick. In: Anthropos. Band 92, Heft 1/3, 1997, S. 139â163.
- vgl. Christa SchÀfer-Lichtenberger: Stamm/Stammesgesellschaft. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, MÀrz 2011.
- Jukka Jari Korpela: âNationenâ und âStĂ€mmeâ im mittelalterlichen Osteuropa: Ihre Bedeutung fĂŒr die Konstituierung eines nationalen Bewusstseins im 19. Jahrhundert. In: Karl Kaser, Dagmar Gramshammer-Hohl u. a. (Hrsg.): Wieser EnzyklopĂ€die des europĂ€ischen Ostens. Band 12. Wieser, Klagenfurt 2002, S. 696â761 (PDF; 507 kB, 66 Seiten auf uni-klu.ac.at).
- Walter Hirschberg (Hrsg.): Wörterbuch der Völkerkunde (= Kröners Taschenausgabe. Band 205). Kröner, Stuttgart 1965, DNB 455735204, S. 416.
- Christian Flatz: Kultur als neues Weltordnungsmodell: Oder die Kontingenz der Kulturen. Lit, MĂŒnster 1999, ISBN 978-3-8258-4257-4, S. 83/84.
- Wilhelm Milke: Der Funktionalismus in der Völkerkunde. In: Carl August Schmitz (Hrsg.): Kultur. (Akademische Reihe. Auswahl reprĂ€sentativer Originaltexte.) Akademische Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main 1963, S. 95â114, hier S. 98 (Erstveröffentlichung 1937).
- Christian Sigrist: Regulierte Anarchie: Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentĂ€ren Gesellschaften Afrikas (= Kulturelle IdentitĂ€t und politische Selbstbestimmung in der Weltgesellschaftm. Band 12). Lit, MĂŒnster 2005, ISBN 978-3-8258-3513-2, S. 83.
- Denis Gruber: Zuhause in Estland? Eine Untersuchung zur sozialen Integration ethnischer Russen an der AuĂengrenze der EuropĂ€ischen Union. Lit, MĂŒnster 2008, ISBN 978-3-8258-1396-3, S. 30â32.
- Wolfgang Kraus: Contestable Identities: Tribal Structures in the Moroccan High Atlas. In: The Journal of the Royal Anthropological Institute. Band 4, Nr. 1, MĂ€rz 1998, S. 1â22, hier S. 2 (englisch).
- Peter T. Suzuki: Tribe: Chimeric or Polymorphic? In: Stud. Tribe Tribals. Band 2, Nr. 2, 2004, S. 113â118, hier S. 114 (PDF; 33Â kB, 6 Seiten auf krepublishers.com).
- Ingrid Thurner: Die Auferstehung von Karl May im arabischen FrĂŒhling. In: DiePresse.com. 7. September 2011, abgerufen am 14. Januar 2020.
- Wolfgang Kraus: Segmentierte Gesellschaft und segmentĂ€re Theorie: Strukturelle und kulturelle Grundlagen tribaler IdentitĂ€t im Vorderen Orient. In: Sociologus, Neue Folge / New Series. Band 45, Nr. 1, 1995, S. 1â25, hier S. 2.
- Boris Wilke: Governance und Gewalt. Eine Untersuchung zur Krise des Regierens in Pakistan am Fall Belutschistan. SFB â Governance Working Paper Series, Nr. 22, November 2009, S. 20 ( (Memento vom 22. Dezember 2009 im Internet Archive)).
- Martin van Bruinessen: Innerkurdische HerrschaftsverhĂ€ltnisse: StĂ€mme und religiöse BrĂŒderschaften. (epd-Dokumentation) In: Evangelischer Pressedienst. Juli 2003, S. 9â14 (ISSN 0935-5111; PDF; 80 kB, 9 Seiten auf vol.at).
- Clifford Geertz: Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 34.