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Unter den Begriffen Gesellschaftsformation Gesellschaftsform oder Gesellschaftssystem versteht man in der Soziologie Politik und Geschichtswissenschaft die historisch bedingte Struktur und soziale Organisationsform von Gesellschaften Der vor allem von Karl Marx gepragte Begriff der Gesellschaftsformation umfasst dabei die Gesamtheit aller sozialen Verhaltnisse die eine bestimmte Gesellschaftsform von einer anderen Gesellschaftsform unterscheiden Beispiele fur Gesellschaftsformationen sind die antike Sklavenhaltergesellschaft die mittelalterlich feudale Gesellschaft der moderne Kapitalismus oder der Kommunismus Inhaltsverzeichnis 1 Begriff 2 Begriffsverwendung im Marxismus 2 1 Klassenkampf als Motor gesellschaftlicher Entwicklung 2 2 Wichtige Gesellschaftsformationen 3 Andere Theorien 4 Siehe auch 5 Literatur 6 EinzelnachweiseBegriff BearbeitenDer Begriff ist abzugrenzen von den Begriffen der Staatsform und des politischen Systems Im Unterschied zu diesen die nur Teilaspekte einer Gesellschaft umfassen ist der Begriff der Gesellschaftsform weiter gefasst und umfasst auch nicht staatliche soziale und kulturelle Praktiken insbesondere auch okonomische Aspekte Begriffsverwendung im Marxismus BearbeitenInsbesondere in der marxistischen Theorie des Historischen Materialismus ist Gesellschaftsformation ein zentraler Begriff Er bezeichnet dort die Gesamtheit aller historisch konkret vorfindbaren sozio okonomischen Verhaltnisse einer bestimmten Gesellschaft Laut Karl Marx bildet dabei in allen Gesellschaftsformen eine bestimmte Produktionsweise die okonomische Basis der Gesellschaft Diese Basis wirke strukturierend und in letzter Instanz determinierend auf die ubrigen gesellschaftlichen Erscheinungen welche als Rechtsformen politische Systeme und herrschende Ideen 1 den gesellschaftlichen Uberbau bilden In einer beruhmt gewordenen Formulierung schreibt Marx hierzu Die Gesamtheit dieser Produktionsverhaltnisse bildet die okonomische Struktur der Gesellschaft die reale Basis worauf sich ein juristischer und politischer Uberbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen politischen und geistigen Lebensprozess uberhaupt Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen das ihr Sein sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein das ihr Bewusstsein bestimmt 2 In neueren marxistischen Theorien insbesondere bei Antonio Gramsci und Louis Althusser sowie bei einigen Vertretern des Postmarxismus etwa bei Ernesto Laclau wird der Fokus starker als bei Marx auf den gesellschaftlichen Uberbau und die Kultur gelegt Besonders dem Marxismus Leninismus wird hier eine verkurzte okonomistische Auffassung von Geschichte vorgeworfen Bereits bei Marx ist gleichwohl die dominante Rolle des Okonomischen nicht als absolut zu verstehen Im Gegenteil betont er die Moglichkeit von Ungleichzeitigkeiten und Widerspruchen zwischen Basis und Uberbau Materiellem und Ideellem 3 Dennoch ist fur Marx klar Eine Gesellschaftsformation geht nie unter bevor alle Produktivkrafte entwickelt sind fur die sie weit genug ist und neue hohere Produktionsverhaltnisse treten nie an die Stelle bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst ausgebrutet worden sind Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben die sie losen kann denn genauer betrachtet wird sich stets finden dass die Aufgabe selbst nur entspringt wo die materiellen Bedingungen ihrer Losung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind 4 Klassenkampf als Motor gesellschaftlicher Entwicklung Bearbeiten Nach Marx ist jede historische Gesellschaftsform ausser der klassenlosen Urgesellschaft von Friedrich Engels gelegentlich auch als Urkommunismus oder Kommunismus der Armut 5 bezeichnet von Klassenkampfen gepragt Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkampfen Freier und Sklave Patrizier und Plebejer Baron und Leibeigener Zunftburger und Gesell kurz Unterdrucker und Unterdruckte standen in stetem Gegensatz zueinander fuhrten einen ununterbrochenen bald versteckten bald offenen Kampf einen Kampf der jedesmal mit einer revolutionaren Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kampfenden Klassen 6 Die Zugehorigkeit zu einer sozialen Klasse bestimmt sich fur Marx dabei durch die Stellung im Produktionsprozess insbesondere durch das Eigentum an Produktionsmitteln Jede Klassengesellschaft sei dabei vom Gegensatz zweier Hauptklassen gepragt die einander als Unterdrucker und Unterdruckte gegenuberstunden wobei erstere als herrschende Klasse die Gesellschaft entscheidend pragten Seit der Auflosung der Urgesellschaft vollziehe sich die Entwicklung und stufenweise Ablosung der Gesellschaftsformationen durch den als zentralen Motor der sozialen Entwicklung angesehenen Klassenkampf Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte 7 Insgesamt steht die marxistische Auffassung von Gesellschaft in der Hegelschen Tradition eines stufenformigen Fortschrittsmodells der Geschichte Gesellschaft ist demnach immer nur Gesellschaft auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe Im Gegensatz zu Hegel vollzieht sich diese Entwicklung fur Marx aber nicht als abstrakte Bewegung des Weltgeists Vielmehr entspringe sie aus den jeder Gesellschaftsformation immanenten Widerspruchen und Antagonismen Als dialektischer Denker betont der vom Junghegelianismus gepragte Marx dass diese Entwicklung in dialektischen Sprungen verlaufe siehe Dialektik bei Marx und Engels Fur Joseph A Schumpeter fuhrt jede methodologische Fixierung auf einen reinen Typ von Gesellschaft zu dem Scheinproblem wie aus einem Typ der andere entstehen konne Sobald wir begreifen dass reiner Feudalismus und reiner Kapitalismus beides unrealistische Geschopfe unseres Geistes sind stellt das Problem was es war das das eine in das andere verwandelte kein Problem mehr dar 8 Rosa Luxemburg hat in Die Akkumulation des Kapitals herausgearbeitet dass das Industriekapital zum Fortsetzen des Akkumulationsprozesses standig neue Absatzmarkte ausserhalb des bestehenden Klassensystems benotige und daher von Beginn seiner historischen Existenz an auf einen Landwirtschaftssektor und einen Weltmarkt mit Kolonialbesitz also auf nicht kapitalistische Sektoren angewiesen ist 9 Wichtige Gesellschaftsformationen Bearbeiten Wichtige historische Gesellschaftsformationen sind nach Marx die klassenlose Urgesellschaft der fruhen Stammesgesellschaften die von Landwirtschaft und despotischer Herrschaft gepragte asiatische Produktionsweise die Sklavenhaltergesellschaft der Antike der Feudalismus des Mittelalters und die burgerlich kapitalistische Produktionsweise die durch ihre Entwicklungstendenzen das Ende der Vorgeschichte der Menschheit einlaute 10 Im Kapitalismus wurde nach Marx das selbst erarbeitete Eigentum des unabhangigen Arbeitsindividuums historisch durch das kapitalistische Privateigentum ersetzt welches auf der Ausbeutung fremder Arbeit beruhe Mit der fortschreitenden Teilung der Arbeit Entwicklung der Produktivkrafte und der wachsenden Ausbeutung erreiche die Konzentration der Produktionsmittel und die Konzentration der Arbeit einen Punkt an dem sie mit ihrer kapitalistischen Hulle zunehmend unvertraglich wurden 11 Im Zuge einer kommunistischen Revolution schliesslich werde auf Grundlage der technischen Errungenschaften des kapitalistischen Zeitalters das Privateigentum durch gesellschaftliches Eigentum 12 bzw Kollektiveigentum ersetzt Solch eine Gesellschaft entwickle sich jedoch aus einer konkreten Gesellschaft heraus und sei daher zunachst in jeder Beziehung okonomisch sittlich geistig noch behaftet mit den Muttermalen der alten Gesellschaft 13 Dieses Stadium wurde unterschiedlich als Sozialismus niedrig entwickelter Kommunismus oder Diktatur des Proletariats bezeichnet Erst in einer hoheren Stufe der Entwicklung konne sich die klassenlose Gesellschaft endgultig verwirklichen In einer hoheren Phase der kommunistischen Gesellschaft nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit damit auch der Gegensatz geistiger und korperlicher Arbeit verschwunden ist nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben sondern selbst das erste Lebensbedurfnis geworden nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkrafte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fliessen erst dann kann der enge burgerliche Rechtshorizont ganz uberschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben Jeder nach seinen Fahigkeiten jedem nach seinen Bedurfnissen 14 Lenin pragte den Begriff des Imperialismus als hochstes und letztes Stadium des Kapitalismus und Vorabend der sozialistischen Revolution 15 Der Imperialismus sei im Unterschied zum Kapitalismus der freien Konkurrenz unter anderem von der Bildung von Monopolen der Verschmelzung von Bank und Industriekapital zum Finanzkapital sowie vom Vorrang des Kapitalexports gegenuber dem Warenexport gepragt 16 Der Imperialismus ist ebenso wie der Faschismus keine eigene Gesellschaftsformation sondern wird im Marxismus als Teil der kapitalistischen Produktionsweise behandelt Die historischen Versuche des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft insbesondere im europaischen Ostblock werden meist als Realsozialismus von manchen Kritikern auch als Staatskapitalismus bezeichnet Andere Theorien BearbeitenIn nicht marxistischen Theorien wird anstelle von Gesellschaftsformation oder Gesellschaftsform haufiger der Begriff Gesellschaftssystem gebraucht Auch die einzelnen Bezeichnungen variieren von Theoriegebaude zu Theoriegebaude so spricht man etwa anstatt von burgerlicher Gesellschaft oder Kapitalismus eher von Demokratie die Idee einer Stufenfolge der Gesellschaftssysteme die auf Hegel zuruckgeht ist jedoch in fast allen Denkschulen anzutreffen Auch sie wird freilich von manchen insbesondere im Umfeld des Strukturalismus und Poststrukturalismus als ethnozentrisch kritisiert In der soziologischen Systemtheorie ist von sozialen Systemen die Rede bei denen jedoch im Gegensatz zum Begriff der Gesellschaftsform keine historische Ablosung verschiedener Systeme stattfindet sondern nur die evolutionare Fortentwicklung eines sozialen Systems durch zunehmende funktionale Differenzierung Im Nationalsozialismus gab es neben der aggressiven vulgar populistischen Propaganda auch theoretisierende Erklarungen der Gesellschaftslehre bzw Gesellschaftsbildung Danach unterschieden sie Gesellschaftsformationen als naturlich gewachsene Gemeinschaften und als kunstlich gebildete Gesellschaften Rassen und Volker seien geschichtsbildende Einheiten der Menschheit Der nationalsozialistischen Lehre lagen die Volksforschung Rassenkunde und die Volkskunde zugrunde Danach definierte sich eine Volksgemeinschaft als die auf blutmassiger Verbundenheit gemeinsamen Schicksal und gemeinsamen politischen Glauben beruhende Lebensgemeinschaft eines Volkes der Klassen und Standesgegensatze wesensfremd seien 17 Siehe auch BearbeitenGesellschaft Soziologie Gesellschaft Ethnologie Gesellschaft Staatsrecht Literatur BearbeitenKarl Marx Die deutsche Ideologie 1844 In MEW 3 Dietz Berlin 1956 ff Karl Marx Manifest der kommunistischen Partei 1844 In MEW 4 Dietz Berlin 1956 ff Karl Marx Zur Kritik der politischen Okonomie 1859 In MEW 13 Dietz Berlin 1956 ff Konrad Lotter Reinhard Meiners Elmar Treptow Marx Engels Begriffslexikon Beck Munchen 1984 ISBN 3 406 09273 X S 135 ff Georg Lukacs Geschichte und Klassenbewusstsein 1923 Luchterhand Berlin 1973 Dieter Nohlen Rainer Olaf Schultze Hg Lexikon der Politikwissenschaft Theorien Methoden Begriffe Bd 1 2005 S 301 Einzelnachweise Bearbeiten Karl Marx Friedrich Engels Manifest der kommunistischen Partei 1848 In Marx Engels Werke Band 4 S 480 Karl Marx Zur Kritik der politischen Okonomie Vorwort 1859 In Marx Engels Werke Band 13 S 8 9 Karl Marx Einleitung zur Kritik der politischen Okonomie 1857 In Marx Engels Werke Band 13 S 639 642 Karl Marx Zur Kritik der politischen Okonomie Vorwort 1859 In Marx Engels Werke Band 13 S 9 Friedrich Engels Der Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staats 1884 In Marx Engels Werke Band 21 S 25 173 Marx Engels Manifest der kommunistischen Partei In Marx Engels Werke Band 4 S 462 Marx Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte MEW 8 S 85 Joseph A Schumpeter Geschichte der okonomischen Analyse Herausgegeben von Elizabeth B Schumpeter Erster Teilband Vandenhoeck Ruprecht Gottingen 1965 S 124 Rosa Luxemburg Die Akkumulation des Kapitals In Die Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden Voltmedia Paderborn ISBN 3 938478 73 X S 205 ff Marx Zur Kritik der politischen Okonomie Vorwort in MEW 13 S 9 Marx Das Kapital In Marx Engels Werke Band 23 S 789 790 online auf mlwerke de Marx Das Kapital In Marx Engels Werke Band 23 S 791 online auf mlwerke de Marx Kritik des Gothaer Programms MEW 19 S 20 Karl Marx Kritik des Gothaer Programms In Marx Engels Werke Band 19 S 21 Lenin Der Imperialismus als hochstes Stadium des Kapitalismus 1916 17 Lexikon A Z in zwei Banden Erster Band Volkseigener Verlag Enzyklopadie Leipzig 1956 S 804 805 Der Volksbrockhaus A Z 10 Auflage F A Brockhaus Leipzig 1943 S 245 und 741 Normdaten Sachbegriff GND 4127627 9 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Gesellschaftsformation amp oldid 225455638