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Als Neoevolutionismus wird eine sozialwissenschaftliche Stromung bezeichnet die die Entwicklung von Gesellschaften in Anlehnung an die biologische Evolutionstheorie zu erklaren versucht sich jedoch von Grundannahmen des klassischen sozialwissenschaftlichen Evolutionismus absetzt Neoevolutionismus befasst sich mit langfristigem gerichtetem sozialem Wandel und mit wiederkehrenden Mustern der Entwicklung die in verschiedenen Kulturen zu beobachten sind Inhaltsverzeichnis 1 Entwicklung 1 1 Ursprunge im klassischen Evolutionismus 1 2 Unterschiede zum klassischen Evolutionismus 2 Vertreter 3 Literatur 4 Siehe auch 5 EinzelnachweiseEntwicklung BearbeitenUrsprunge im klassischen Evolutionismus Bearbeiten Hauptartikel Evolutionismus Der sozialwissenschaftliche Evolutionismus des 19 Jahrhunderts war Teil einer damals weit verbreiteten Denkweise europaischer bzw westlicher Intellektueller die seit dem 18 Jahrhundert an der Erforschung langfristiger Wandlungen von Natur und Menschen interessiert waren Eine wissenssoziologische Deutung sieht dieses verbreitete Interesse als Ausdruck des Konkurrenzkampfes zwischen Adel und Burgertum in dem das Burgertum weil es seine eigene soziale Position verbessern wollte die Wandelbarkeit sozialer und auch naturlicher Verhaltnisse in den Blick nahm In der Biologie entsprang daraus die biologische Evolutions theorie von Charles Darwin die mit Erganzungen in Form der Synthetischen Evolutionstheorie bis heute ein zentraler Baustein im Theoriegebaude der Biologie ist In den Sozialwissenschaften versuchten die klassischen Evolutionisten mit allgemeinen evolutionaren Prinzipien die Entwicklung von Gesellschaften zu beschreiben und zu erklaren Sie nahmen eine linienformige lineare Form der langfristigen Entwicklung an in der alle Gesellschaften die gleichen Entwicklungsstufen durchlaufen wurden Haufig wurde dabei die eigene westliche Zivilisation als die hochstentwickelte Stufe betrachtet Teilweise wurden z B von Karl Marx auch fortschrittsglaubige Prognosen fur die weitere Entwicklung gemacht Diese Theorien wurden zu Beginn des 20 Jahrhunderts vom historischen Partikularismus als unwissenschaftlich zuruckgewiesen der darauf bestand dass jede Kultur ihre eigene Geschichte und Entwicklung habe Evolutionares Denken ob von politisch rechter oder linker Seite geriet in den Sozialwissenschaften fur Jahrzehnte generell in Misskredit Auch aufgrund dieser Kritik formulierten verschiedene Sozialwissenschaftler die Theorien uber den langfristigen sozialen Wandel neu so dass sie zeitgenossischen wissenschaftlichen Anspruchen genugten Unterschiede zum klassischen Evolutionismus Bearbeiten nbsp Stark vereinfachte schematische Darstellung der drei wesentlichen soziokulturellen EvolutionsmodelleDie Anfange des Neoevolutionismus gehen in die 1930er Jahre zuruck nach dem Zweiten Weltkrieg wurden neoevolutionistische Theorien erheblich weiterentwickelt bis sie in den 1960er Jahren Eingang in die Ethnologie Anthropologie und Soziologie fanden Der Neoevolutionismus weist mit seinen Entwicklungsmodellen viele Ideen des klassischen Evolutionismus zuruck Dabei tendieren neoevolutionistische Theorien zu einem Grundstock gemeinsamer Annahmen die aber nicht von allen im gleichen Mass geteilt werden In erster Linie wendet er sich gegen die weithin unreflektierte Vorstellung des sozialen Fortschritts der vorhergehende evolutionare Konzepte beherrschte Deterministische Positionen die eine vollige Vorherbestimmtheit der Ereignisse durch gegebene Ursachen annehmen werden mit Verweis auf den Einfluss von Zufall und freiem Willen durch die Kategorie Wahrscheinlichkeit ersetzt Der Neoevolutionismus ahnelt der kontrafaktischen Geschichte die die Frage nach dem stellt was hatte geschehen konnen wenn bestimme Voraussetzungen nicht oder anders eingetroffen waren Der Neoevolutionismus sieht hierdurch seinen nichtdeterministischen Ansatz belegt der Gesellschaften mit vergleichbaren Voraussetzungen die Moglichkeit zur Entwicklung auf unterschiedlichen Wegen und in unterschiedlichen Schritten offenhalt Statt einliniger Evolutionsvorstellungen wurden mehrlinige differenziertere Modelle entwickelt In engem Zusammenhang damit fordern Neoevolutionisten sich mit Bewertungen des Untersuchungsgegenstandes zuruckzuhalten Auch prophetische Prognosen werden abgelehnt Stattdessen ist fur Neoevolutionisten die empirische Belegbarkeit ihrer Theorien von entscheidender Bedeutung Im Gegensatz zu den klassischen Ansatzen die massgeblich auf Werturteilen und Vermutungen aufbauten stutzt sich der Neoevolutionismus auf mess und nachprufbare Informationen um den Prozess der kulturellen Evolution zu analysieren Empirische Basis der Entwicklungsmodelle und Theorien sind Belege z B aus der Ethnologie Geschichtswissenschaft Archaologie und Palaontologie Dennoch setzt auch die Mehrzahl der neoevolutionistischen Modelle eine Entwicklung zu hoheren komplexeren allerdings nicht vorherbestimmten Stadien voraus Haufig wird angenommen dass sich eine Urkultur rekonstruieren lasse Die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn beklagt dass die wertende Gliederung von unterentwickelten zu hochentwickelten Kulturformen trotz gegenteiliger Erkenntnisse von einer grossen Zahl der Wissenschaftler immer noch unreflektiert vorausgesetzt werde Sie pladiert fur kulturrelativistische Modelle in Anlehnung an die biologischen Theorien die Querverbindungen und Ruckentwicklungen zulassen und die vor allem keine hierarchische Bewertung der Kulturphanomene mehr zulassen 1 Vertreter BearbeitenFerdinand Tonnies 1855 1936 Tonnies selbst war kein Neoevolutionist Seine Arbeiten gelten aber als wichtige Voraussetzung des Neoevolutionismus Er war einer der ersten Soziologen die darauf hinwiesen dass soziale Evolution Fortschritts denken und Determination nicht notwendig das Gleiche bedeuten Soziale Entwicklung sei weder zielorientiert noch jemals abgeschlossen Moderne Gesellschaften konnten im wertenden Sinne sogar als ruckschrittlich bezeichnet werden wenn sie die Bedurfnisbefriedigung der Individuen nur zu hohen Kosten gewahrleisten konnen Leslie White 1900 1975 Autor von The Development of Civilization to the Fall of Rome 1959 Mit der Veroffentlichung von Whites Schrift wurde das Interesse der Soziologie und Anthropologie am Evolutionismus wiederbelebt White versuchte eine Theorie zu entwickeln die die gesamte Geschichte der Menschheit erklaren sollte Der Hauptgedanke seines Ansatzes ist der Aspekt der Technologie Soziale Systeme wurden durch technologische Systeme bestimmt schrieb White unter Bezugnahme auf das Fruhwerk von Lewis Henry Morgan Ein Mass des sozialen Fortschritts sei der Energieverbrauch einer gegebenen Gesellschaft White unterscheidet funf Schritte der Entwicklung Im ersten verwendeten Menschen die Energie ihrer Muskeln Der zweite sei durch den Gebrauch gezahmter Tiere bestimmt Im dritten Schritt komme die Energie von Pflanzen zum Einsatz Als viertes lerne der Mensch die Nutzung naturlicher Energiequellen Kohle Ol Gas In der Zahmung der Kernenergie sah er den funften Schritt gekommen Whites Energieansatz hat eine gewisse Ahnlichkeit mit der spater vom russischen Astrophysiker Nikolai Kardaschow formulierten Kardaschow Skala Julian Steward entwickelte die Theorie des Sozialen Wandels In The Methodology of Multilinear Evolution 1955 neu aufgelegt 1979 formulierte er die Theorie einer multilinearen Entwicklung Er untersuchte hierbei wie sich Gesellschaften an ihre Umwelt anpassten Sein Zugang war differenzierter als Whites unilineare Entwicklung Er stellte die Moglichkeit einer umfassenden Theorie der Entwicklung der Menschheit in Frage betonte aber auch dass die Anthropologie nicht auf die rein deskriptive Darstellung einzelner vorhandener Kulturen beschrankt sei Er ging davon aus dass es moglich sei Theorien zu entwickeln die die typische alltagliche Kultur analysieren die reprasentativ fur bestimmte Zeitraume oder Regionen ist Steward sieht Technologie und Wirtschaft als die bestimmenden Faktoren der Entwicklung einer Gesellschaft an betont aber den Einfluss der sekundaren Faktoren Religion Ideologie und politisches System Die Multilinearitat besteht darin dass sich eine Gesellschaft im Zusammenspiel dieser Faktoren gleichzeitig in unterschiedliche Richtungen entwickle Marshall Sahlins Autor von Evolution and Culture 1960 Sahlins unterschied eine allgemeine und spezielle Entwicklung der Gesellschaft Die allgemeine Entwicklung sei die Tendenz kultureller und sozialer Systeme die Komplexitat Organisation und Anpassung an die Umwelt zu erhohen Da die unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften aber nicht voneinander isoliert sind gibt es eine gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung ihrer Eigenschaften Dies fuhre zur speziellen Entwicklung der Gesellschaft als einer Konkretisierung der allgemeinen Entwicklung in einer jeweils spezifischen und einzigartigen Art und Weise Gerhard Lenski mit Power and Prestige 1966 und Human Societies An Introduction to Macrosociology 1974 erweitert Lenski die Arbeiten von Leslie White und Lewis Henry Morgan Er sieht wie seine Vordenker in der technologischen Entwicklung den entscheidenden Faktor und Gradmesser der Evolution von Gesellschaft und Kultur Im Unterschied zu White der Technologie als die Fahigkeit ansah Energie zu erzeugen und zu nutzen konzentriert sich Lenski auf Umfang und Nutzung von Information Uber je mehr Information und Wissen insbesondere zur Gestaltung der naturlichen Umgebung eine gegebene Gesellschaft verfuge desto fortgeschrittener sei sie Lenski hebt vier Phasen der menschlichen Entwicklung hervor Zunachst wurde Information lediglich durch Gene weitergegeben In der zweiten Stufe lernten die Menschen Informationen durch Erfahrung zu lernen und das gelernte weiterzugeben Die nachste Phase war durch die Entwicklung von Zeichen und Logik gekennzeichnet In der vierten Phase schliesslich lerne die Menschheit Symbole zu nutzen sie entwickelte Schrift und Sprache Fortschritte in den Kommunikationstechniken setzen sich in der Weiterentwicklung des wirtschaftlichen und politischen Systems in der Verteilung der Guter in der sozialen Ungleichheit und in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens fort Parallel hierzu klassifiziert Lenski Gesellschaften nach dem Grad ihrer Technologie Kommunikation und Wirtschaft 1 Jager und Sammler 2 Einfacher Ackerbau 3 Fortgeschrittener Ackerbau 4 Industrielle Produktion und 5 Spezielle Formen wie beispielsweise auf Fischfang basierende Gesellschaften Talcott Parsons Der Verfasser von Societies Evolutionary and Comparative Perspectives 1966 und The System of Modern Societies 1971 unterschied in der Entwicklung der Gesellschaft vier Teilprozesse 1 Die Teilung generiere innerhalb einer Gesellschaft aus dem Gesamtsystem funktionale Subsysteme 2 In der Anpassung entwickeln die einzelnen Systeme jeweils eine hohere Effizienz in der Bewaltigung ihrer spezifischen Aufgaben 3 Die Inklusion reintegriert vormals aus einem konkreten System ausgeschlossene Elemente 4 Die Verallgemeinerung der Werte verstarkt die Legitimationsbasis des nunmehr komplexeren Systems Talcott Parsons veranschaulicht diese Prozesse auf drei Entwicklungsstufen Archaische Gesellschaften unterschieden sich von primitiven Gesellschaften durch die Fahigkeit zu schreiben Moderne Gesellschaften hatten daruber hinaus Wissen uber das Recht Parson sieht die Westliche Zivilisation als den Hohepunkt der modernen Gesellschaften an die Vereinigten Staaten von Amerika erklart er zur entwickeltsten unter den westlichen Zivilisationen Shmuel N Eisenstadt Eisenstadts Ausgangspunkt liegt gedanklich nahe bei Talcott Parsons Seine Forschungen uberwinden jedoch die bei Parsons vorherrschende eurozentrische Deutung gesellschaftlicher Entwicklung Das im Westen entwickelte kulturelle Programm wird nicht mehr als naturliches Entwicklungsmodell aller Gesellschaften angesehen sondern nurmehr als das zeitlich fruheste Modell der Entwicklung einer modernen Gesellschaft Norbert Elias mit seinem Hauptwerk Uber den Prozess der Zivilisation legte Elias zunachst ein Modell der Entwicklung von Sozial und Personlichkeitsstrukturen in Westeuropa vom 9 bis 19 Jahrhundert vor Dieses in den 1930er Jahren veroffentlichte Werk wurde kriegsbedingt erst in den 1970er Jahren breit rezipiert Sein Anspruch war einen neuen Weg der sozialwissenschaftlichen Forschung zu eroffnen der die Beschrankungen bisheriger Paradigmata uberwindet In der Folge arbeitete er schwerpunktmassig die wissenschaftstheoretischen und wissenssoziologischen Grundlagen seines neuen Ansatzes aus Elias lehnt statische Theoriekonzeptionen wie er sie etwa bei Parsons kritisiert zugunsten dynamischer Modelle ab Zu seinen Grundannahmen zahlt dass die Realitat standig in Bewegung ist was alle Ebenen der grossen Evolution betrifft die physikalisch chemische Evolution die biologische Evolution und die soziokulturelle Evolution Diese Ebenen unterscheiden sich im steigenden Mass an Komplexitat jeweils neuen Strukturen und Gesetzmassigkeiten u a der jeweils stark steigenden Entwicklungsgeschwindigkeit Insbesondere die Sozialwissenschaften sind daher aus seiner Sicht auch fur die Analyse begrenzter sozialer Phanomene auf ein Modell des langfristigen sozialen Wandels angewiesen Mit dem Modell der grossen Evolution ist auch zu begrunden warum fur diese unterschiedlichen Gegenstandsbereiche jeweils verschiedene Wissenschaften mit unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen notwendig sind genauso wie ihre Zusammenarbeit Da jede neue Stufe auf der vorhergehenden aufbaut aber gleichzeitig dabei etwas Neues entsteht ist beispielsweise die Entwicklung der Menschen nicht ohne Ruckgriff auf die biologische Evolution zu erklaren aber auch nicht darauf zu reduzieren Elias fordert deshalb die Sozialwissenschaften auf sich methodologisch von den Naturwissenschaften zu emanzipieren gleichzeitig aber ihre Ergebnisse differenziert zur Kenntnis zu nehmen Literatur BearbeitenFabian Deus Anna Lena Diesselmann Luisa Fischer Clemens Knobloch Hg Die Kultur des Neoevolutionismus Zur diskursiven Renaturalisierung von mensch und Gesellschaft transcript Verlag Bielefeld d 2015 ISBN 978 3 8376 2891 3Siehe auch BearbeitenZivilisatorischer Prozess nach Darcy Ribeiro Technologische Singularitat Weltgeschichte Historische Geologie Naturgeschichte Partikularismus Kosmologie Chemische Evolution Geschichtswissenschaft SoziobiologieEinzelnachweise Bearbeiten Ina Wunn Die Evolution der Religionen 2004 S 7 9 11 299 304 308 ff 387 ff 420 424 ff 438 439 urn nbn de gbv 089 4735352978 Habilitationsschrift Fakultat fur Geistes und Sozialwissenschaften der Universitat Hannover Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Neoevolutionismus amp oldid 232855476