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Wissenssoziologie beschaftigt sich mit der Entstehung Verbreitung Verwendung und Bewahrung von Wissen und Erkenntnis innerhalb von Gruppen Gemeinschaften und Gesellschaften Grundlegend ist die Hypothese dass Erkenntnis durch den sozialen Kontext hindurch gepragt und in ihm verankert ist Wissen und noch allgemeiner Denken ist demnach sozial bedingt Erkenntnis ist kein autonomer Prozess Die Wissenssoziologie ist ein Teilgebiet der Soziologie Sie steht u a der Kultursoziologie nahe die sich ebenfalls mit dem Zusammenhang von kulturellen und sozialen Phanomenen beschaftigt Die massgeblichen Theorien wurden Anfang des 20 Jahrhunderts von Max Scheler und Karl Mannheim entwickelt Inhaltsverzeichnis 1 Vorlaufer 2 Entwicklung 2 1 Klassische deutsche Wissenssoziologie 2 2 Neuere Wissenssoziologie 3 Siehe auch 4 Literatur 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseVorlaufer BearbeitenDie Wissenssoziologie kann auf mehrere Vorlaufer zuruckblicken Diese sind weitgehend vor Marx und Engels protosoziologisch d h sie fragen noch nicht selbst nach den sozialen Interessen die hinter bestimmten Denkstrukturen hinter einem Denkstil Karl Mannheim stehen Francis Bacon 1561 1626 der im Zentrum seiner Idolenlehre auf Hemmungen der Sinnes und Verstandesfunktionen wie Gotzenbilder Vorurteile und Irrtumer hinweist die die wahre Erkenntnis truben Giambattista Vico 1668 1744 der in seinem Buch Die neue Wissenschaft eine neue Geschichtsphilosophie beschreibt in der der Mensch seine Geschichte selbst und in einem gesellschaftlichen Kontext konstruiert Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1770 1831 welcher die gesellschaftliche Konstruktion um die Dialektik von Bewusstsein und Wirklichkeit bereichert Vereinfacht gesagt konnen bei Hegel die Gedanken die Wirklichkeit verandern Dadurch steigert sich seine Rechtsphilosophie in eine Utopie in der die Geschichte eine Geschichte der Verwirklichung der reinen Rationalitat oder des objektiven Geistes ist der sich wiederum als Staat materialisiert Die Wirklichkeit ist fur ihn daher keine Faktizitat Wilhelm Dilthey 1833 1911 transformierte die herrschende kantische Erkenntnistheorie vor allem gegenuber zeitgenossischen Positivisten in die Anerkennung der Verschiedenheit der Erkenntnis der Wirklichkeit die menschliche Welt verstehen wir die Natur konnen wir mit Gesetzen erklaren Beiden Wirklichkeitsbereichen entsprechen verschiedene methodische Haltungen beide reprasentieren verschiedene Wissenschaften die Geistes und die Naturwissenschaften Entscheidend ist dass Dilthey in der menschlichen also der Kultursphare von einer Relation von Erleben Ausdruck und Verstehen ausging und damit erkenntnistheoretisch ein perspektivisches Weltbild zuliess Friedrich Nietzsche 1844 1900 ist ein Vorlaufer der Wissenssoziologie insofern er die Interessenbedingtheit von Wahrheit entlarvt Wissen ist Macht Francis Bacon Schliesslich ist die historisch materialistische von ihnen als Wissenschaft bezeichnete Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels ein unmittelbarer Vorlaufer der klassischen deutschen Wissenssoziologie insofern sie von der ideologischen Scheinhaftigkeit des jeweils herrschenden Denkstils ausgeht und Hegels Programmspruch auf die Fusse stellt das Sein bestimmt das Bewusstsein Die deutsche Ideologie MEW 3 Entwicklung BearbeitenKlassische deutsche Wissenssoziologie Bearbeiten Das zentrale Anliegen der klassischen deutschen Wissenssoziologie Karl Mannheim Max Scheler Theodor Geiger Wilhelm Jerusalem war in dieser Tradition v a aber in der unmittelbaren Nachfolge von Wilhelm Diltheys Begrundung der Geisteswissenschaften die Aufklarung der Beziehungen zwischen sozialem Sein und Bewusstsein durch die Zuordnung von kulturellen Objektivationen ein Begriff Diltheys der u a Weltanschauungen Wertvorstellungen Denkformen einbezieht zu sozialen Strukturen Bei Mannheim erlangte der Ideologiebegriff eine umfassendere Bedeutung Im Gegensatz zu Marx der den Ideologiebegriff mit dem falschen Bewusstsein verknupfte soll jedes Denken auch das Wissen ideologisch sein also gesellschaftlicher Bedingtheit unterliegen Er hat dies detailliert fur das konservative das liberale und das sozialistische Denken gezeigt Nur die freischwebende Intelligenz steht laut Mannheim weitgehend ausserhalb ideologischen Denkens und konne unabhangig und sensibel auf soziale Prozesse einwirken Mit diesem Ideologiebegriff der eine totale Abhangigkeit der Sichtweise von der sozialen Seinslage postuliert stellte sich auch die Frage nach der Moglichkeit von Wissenschaft hinter Ideologie uberhaupt noch Wahres zu erkennen Mannheim loste dieses Dilemma mit der Forderung eine wertfreie Einstellung zusatzlich mit einer erkenntnistheoretischen Haltung zu verbinden Max Scheler hat in seiner Wissenssoziologie die Unterscheidung von Heils oder Erlosungs 1 Bildungs 2 und Leistungswissen 3 getroffen Jeder Wissensart entspricht eine bestimmte zu untersuchende Interessenhaltung In der transformierten Fortfuhrung der wissenssoziologischen Tradition vor allem in der amerikanischen Soziologie wurde die Fragestellung der klassischen Wissenssoziologie nach der sozialen Bedingtheit des wissenschaftlichen Wissens und der Ideologien erweitert d h der wissenssoziologische Untersuchungsgegenstand wurde weiter gefasst Neuere Wissenssoziologie Bearbeiten Die neuere Wissenssoziologie beschaftigt sich im Unterschied zur klassischen Wissenssoziologie Schelers und Mannheims mit allem was in einer Gesellschaft als Wissen gilt und vor allem mit der Erforschung der gesellschaftlichen Wissensbestande die das Alltagswissen des Jedermann ausmachen und von dem aus Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit verstanden werden kann Peter L Berger Thomas Luckmann Daneben besteht die Variante einer praxeologischen Wissenssoziologie Bohnsack 2007 2008 in deren Kontext die dokumentarische Methode entwickelt wurde die besonders auf die Rekonstruktion eines impliziten atheoretischen und habituell verankerten Wissens konjunktives Wissen im Sinne von Karl Mannheim abzielt Als Ort der Sinnstiftung wird in allen Varianten der Wissenssoziologie die Alltagswelt zum Gegenstand der soziologischen Analyse Im Ruckgriff auf den von Edmund Husserl eingefuhrten Begriff der Lebenswelt entwickelte Alfred Schutz ein spater von Berger und Luckmann aufgegriffenes Konzept der alltaglichen Lebenswelt in der die handelnden Subjekte ihren Erfahrungen Sinn zuschreiben und alltagstaugliche Interpretationen Deutungsschemata Handlungslogiken und Rechtfertigungsstrategien entwickeln die in einen Alltagswissensbestand eingehen Der alltagliche Sinnbereich durchzieht alle Teilbereiche und Systeme einer Gesellschaft und ist somit konstitutiv fur die gesellschaftliche Realitat und jedes gesellschaftlich relevante Wissen Die Wissenssoziologie wird so zu einer Grundlagenwissenschaft der Soziologie Ungeachtet dieses Anspruches befassten sich wissenssoziologische Analysen in den letzten 20 Jahren beeinflusst vom symbolischen Interaktionismus und der phanomenologischen Soziologie wie der Ethnomethodologie uberwiegend mit mikrosoziologischen Fragestellungen und der Rekonstruktion spezieller und individualisierter Sonderwissensbestande Durch den Wandel der modernen zur postmodernen Wissens und Mediengesellschaft erlangte die Fragestellung nach der Entstehung der Relevanz und der gesellschaftlichen Legitimierung von Wissensbestanden eine neue Aktualitat die aber noch nicht zu einer deutlichen Neuformierung des wissenssoziologischen Paradigmas fuhrte Gegenuber dieser engeren Begriffsfassung von Wissenssoziologie im Sinne der hermeneutischen Wissenssoziologie Soeffner Hitzler amp Reichertz amp Schroer Knoblauch bzw der Fortentwicklung der Mannheim schen Wissenssoziologie in der dokumentarischen Methode kann man auch Michel Foucaults Diskursanalyse mit ihrem Grundsatz der untrennbaren Verbindung von Wissen und Macht als genuin wissenssoziologisch auffassen im klassischen Sinn von Mannheim und Scheler Auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns geht wissenssoziologisch vor namlich in der Relationierung von einer bestimmten Gesellschaftsstruktur und ihrer Semantik Luhmann bezieht sich dabei explizit auf Mannheim Die Prozesssoziologie von Norbert Elias ist ebenfalls eine Wissenssoziologie 1 und zugleich eine Wissenschaftssoziologie 2 in denen die Generierung von Wissen sowie die Entwicklung von Wissenschaften als langfristige soziale Prozesse aufgefasst werden Seine Wissenssoziologie basiert insofern auf seiner Theorie sozialer Prozesse und ist untrennbar mit seinen anderen theoretischen Konzepten verbunden wie etwa seiner Machttheorie oder seiner Symboltheorie Elias stuft Mythen als eine fruhe Form sozialen Wissens ein und geht auf den engen Zusammenhang von Wissen und Macht ein 3 4 5 6 7 8 Weitere Teilgebiete der Wissenssoziologie sind zudem die Intellektuellensoziologie Karl Mannheim Theodor Geiger und spater Pierre Bourdieu sowie die neuere Wissenschaftssoziologie Michel Foucault Karin Knorr Cetina Bruno Latour Siehe auch BearbeitenHermeneutische Wissenssoziologie Wissenschaftssoziologie Wissenssoziologische Diskursanalyse WissenschaftsbetriebLiteratur BearbeitenPeter L Berger Thomas Luckmann Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit Eine Theorie der Wissenssoziologie S Fischer Frankfurt am Main 1969 ISBN 3 596 26623 8 Pierre Bourdieu Homo academicus Suhrkamp Frankfurt am Main 1988 franzos 1984 ISBN 3 518 28602 1 Gunter Dux Die Logik der Weltbilder Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte Suhrkamp Frankfurt am Main 1982 ISBN 3 518 27970 X Norbert Elias Engagement und Distanzierung Arbeiten zur Wissenssoziologie I Suhrkamp Frankfurt am Main 1987 ISBN 3 518 28251 4 Michel Foucault Die Ordnung der Dinge Eine Archaologie der Humanwissenschaften Suhrkamp Frankfurt am Main 1974 ISBN 3 518 27696 4 Ronald Hitzler Jo Reichertz Norbert Schroer Hrsg Hermeneutische Wissenssoziologie UVK Universitats Verlagsgesellschaft Konstanz Konstanz 1999 ISBN 3 87940 671 5 Reiner Keller Wissenssoziologische Diskursanalyse Grundlegung eines Forschungsprogramms VS Verlag fur Sozialwissenschaften Wiesbaden 2005 ISBN 3 531 14428 6 Reiner Keller Andreas Hirseland Werner Schneider Willy Viehover Hrsg Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit Zum Verhaltnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung UVK Universitats Verlagsgesellschaft Konstanz Konstanz 2005 ISBN 3 89669 526 6 Hubert Knoblauch Wissenssoziologie UVK Universitats Verlagsgesellschaft Konstanz Konstanz 2005 ISBN 3 8252 2719 7 Niklas Luhmann Gesellschaftsstruktur und Semantik Studien zur Wissenssoziologie Bd 1 Suhrkamp Frankfurt am Main 1980 ISBN 3 518 28691 9 Karl Mannheim Das Problem einer Soziologie des Wissens In Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Bd 53 1924 1925 S 577 652 Karl Mannheim Konservatismus Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens 1924 Suhrkamp Frankfurt am Main 1984 ISBN 3 518 28078 3 Karl Mannheim Ideologie und Utopie 1928 29 5 Aufl Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1969 8 Aufl 1995 ISBN 3 465 02822 8 Karl Mannheim Wissenssoziologie In Alfred Vierkandt Hrsg Handworterbuch der Soziologie Stuttgart 1959 S 659 680 Karl Mannheim Wissenssoziologie Eingel u hrsg von Kurt H Wolff Luchterhand Berlin 1964 Sabine Maasen Wissenssoziologie Transcript Verlag Bielefeld 1999 ISBN 3 933127 08 4 Volker Meja Nico Stehr Hrsg Der Streit um die Wissenssoziologie 2 Bande Suhrkamp Frankfurt am Main 1982 ISBN 3 518 27961 0 Max Scheler Die Wissensformen und die Gesellschaft Probleme einer Soziologie des Wissens Der Neue Geist Verlag Leipzig 1926 Max Scheler Hrsg Versuche zu einer Soziologie des Wissens Munchen 1924 Max Scheler Die Formen des Wissens und die Bildung Vortrag Bonn 1925 Rainer Schutzeichel Hg Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung UVK Universitats Verlagsgesellschaft Konstanz Konstanz 2007 ISBN 978 3 89669 551 2 Nico Stehr Wissenspolitik Die Uberwachung des Wissens Suhrkamp Frankfurt am Main 2003 ISBN 3 518 29215 3 Helmut Zedelmaier Werkstatten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklarung Mohr Siebeck Tubingen 2015 ISBN 978 3 16 153807 0 Weblinks BearbeitenDGS Sektion Wissenssoziologie Jan Felix Schrape Wissenssoziologie Von Comte bis Berger Luckmann PDF 137 kB Skript vom 16 Mai 2011 Universitat Stuttgart Einzelnachweise Bearbeiten Georg Kneer Wissenssoziologie In Georg Kneer Markus Schroer Hrsg Handbuch Spezielle Soziologien Wiesbaden 2010 S 714 Gerhard Frohlich 1991 Inseln zuverlassigen Wissens im Ozean menschlichen Nichtwissens Zur Theorie der Wissenschaften bei Norbert Elias in Kuzmics Helmut Morth Ingo Hrsg Der unendliche Prozess der Zivilisation Frankfurt M 95 111 Norbert Elias 1971 2006 Wissenssoziologie Neue Perspektiven Teil I und II in Aufsatze und andere Schriften II Ges Schriften Band 15 Frankfurt M 219 286 Norbert Elias 1984 2006 Wissen und Macht Interview von Peter Ludes darin Der grosse Kampf des Intellektuellen in Autobiographisches und Interviews m Audio CD Ges Schriften Band 17 Frankfurt M 279 344 Norbert Elias 1972 2006 Wissenschaftstheorie und Geschichte der Wissenschaft Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion In Aufsatze und andere Schriften I Ges Schriften Band 14 Frankfurt M 353 382 Norbert Elias 1974 2006 Auf dem Weg zu einer Theorie der Wissenschaften In Aufsatze und andere Schriften I Ges Schriften Band 14 Frankfurt M 402 435 Norbert Elias 1982 2006 Wissenschaftliche Establishments in Aufsatze und andere Schriften II Ges Schriften Bd 15 Frankfurt M 243 344 Norbert Elias 1985 2006 Wissenschaft oder Wissenschaften Beitrag zu einer Diskussion mit wirklichkeitsblinden Philosophen In Aufsatze und andere Schriften III Ges Schriften Band 16 Frankfurt M 60 93 Normdaten Sachbegriff GND 4066615 3 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Wissenssoziologie amp oldid 229741028