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Wissenschaftsbetrieb bezeichnet die Gesamtheit der von Burgern Staat und Unternehmungen geschaffenen und finanzierten international verflochtenen Einrichtungen von Wissenschaft oder Wissenschaftsinstitutionen in denen sich wissenschaftliche Forschung alltaglich vollzieht mit ihren administrativen Regeln und burokratischen Routinen Inhaltsverzeichnis 1 Bedeutung des Begriffs 2 Institutionalisierung des Wissenschaftsbetriebs 3 Kommunikation Interdisziplinaritat und Transfer 4 Teilnehmer im Wissenschaftsbetrieb 5 Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbetrieb 5 1 Publizistische Verarbeitung 6 Historische Literatur 7 EinzelnachweiseBedeutung des Begriffs BearbeitenDas Wort Wissenschaftsbetrieb verdrangte im 20 Jahrhundert den Begriff der Gelehrtenrepublik lateinisch res publica literaria Noch im 19 Jahrhundert wurde der Wissenschaftsbetrieb auch in Deutschland in erster Linie als republikanisch organisierte Gemeinschaft der Forschenden verstanden Der englische Begriff scientific community Wissenschaftsgemeinde genauer Gemeinschaft von Wissenschaftlern druckt dagegen auch heute noch den Aspekt einer Gemeinschaft der Forschenden und ihrer speziellen Handlungsformen aus Der Begriff des Wissenschaftsbetriebs der sich inzwischen weitgehend durchgesetzt hat betont insbesondere die Institutionalisierung und Okonomisierung der Wissenschaft die sich im 19 und 20 Jahrhundert entwickelten Daneben bezeichnet der Begriff auch die Alltaglichkeit der Forschung im Kontext von gesellschaftlicher Organisiertheit Wissenschaftssoziologie Dabei wird im Sinne von Betriebsamkeit von Wissenschaftlern auch alles im alltaglichen Forschungsprozess ausserhalb der wissenschaftlichen Erkenntnis gewinnung selbst liegende soziale Handeln Tun Dulden Unterlassen vor allem Personal und Mikropolitik Veroffentlichungspraxis Staats und oder Drittmittelforderung Lehre bzw Ausbildung Infrastruktur Mittelverteilung angesprochen Institutionalisierung des Wissenschaftsbetriebs Bearbeiten Sitz des Weltverbandes Internationale Mathematische Union in BerlinEine fruhe dokumentierte Form eines organisierten wissenschaftsahnlichen Lehrbetriebs findet sich im antiken Griechenland mit der Platonischen Akademie die mit Unterbrechungen bis in die Spatantike Bestand hatte Wissenschaft der Neuzeit findet traditionell an Universitaten statt die auf diese Idee zuruckgehen Daneben sind Wissenschaftler auch an Akademien Amtern privat finanzierten Forschungsinstituten bei Beratungsfirmen und in der Wirtschaft beschaftigt Eine bedeutende offentliche Forderorganisation in Deutschland ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft die projektbezogene Forschung an Universitaten und ausseruniversitaren Einrichtungen fordert Daneben existieren weitere Forschungstragerorganisationen wie etwa die Fraunhofer Gesellschaft die Helmholtz Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren die Max Planck Gesellschaft und die Leibniz Gemeinschaft die von Bund und Landern finanziert eigene Forschungsinstitute betreiben In Osterreich entsprechen der DFG der Fonds zur Forderung der wissenschaftlichen Forschung FWF sowie die Osterreichische Forschungsforderungsgesellschaft FFG in der Schweiz und Frankreich die nationalen Forschungsfonds Andere Fonds werden z B von Grossindustrien oder dem Europaischen Patentamt dotiert Das sogenannte Peer Review gilt im heutigen Wissenschaftsbetrieb als eine sehr wichtige Methode um die Qualitat von wissenschaftlichen Publikationen zu gewahrleisten Diese Qualitat und die Veroffentlichungswurdigkeit korrelieren 1 Kommunikation Interdisziplinaritat und Transfer BearbeitenNeben den wissenschaftlichen Veroffentlichungen erfolgt der Austausch mit anderen Forschern durch Fachkonferenzen bei Kongressen der internationalen Dachverbande und scientific Unions z B IUGG COSPAR IUPsyS ISWA SSRN oder der UNO Organisation Auch Einladungen zu Seminaren Institutsbesuchen Arbeitsgruppen oder Gastprofessuren spielen eine Rolle Von grosser Bedeutung sind auch Auslandsaufenthalte und internationale Forschungsprojekte Fur die interdisziplinare Forschung wurden in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Instituten geschaffen in denen industrielle und universitare Forschung zusammenwirken Wissenschaftstransfer Zum Teil verfugen Unternehmen aber auch uber eigene Forschungseinrichtungen in denen Grundlagenforschung betrieben wird Teilnehmer im Wissenschaftsbetrieb BearbeitenDie eigentliche Teilnahme am Wissenschaftsbetrieb ist grundsatzlich nicht an Voraussetzungen oder Bedingungen geknupft Die wissenschaftliche Betatigung ausserhalb des akademischen oder industriellen Wissenschaftsbetriebs steht jedermann offen und ist auch gesetzlich von der Forschungsfreiheit abgedeckt Universitaten bieten ausserdem die voraussetzungsfreie Teilnahme am Lehrbetrieb als Gasthorer an Wesentliche wissenschaftliche Leistungen ausserhalb eines beruflichen Rahmens sind jedoch die absolute Ausnahme geblieben In der Regel sind die Teilnehmer organisiert in ihrer jeweiligen fachspezifischen Wissenschaftsgemeinde in der sogenannten science community Die staatlich finanzierte professionelle Tatigkeit als Wissenschaftler ist meist an die Voraussetzung des Abschlusses eines Studiums gebunden fur das wiederum meist die Hochschulreife notwendig ist Leitende offentlich finanzierte Positionen in der Forschung und die Beantragung von offentlichen Forschungsgeldern erfordern die Promotion die Professur die Habilitation In den USA findet sich statt der Habilitation das Tenure Track System das 2002 in Form der Juniorprofessur auch in Deutschland eingefuhrt werden sollte wobei allerdings kritisiert wird dass ein regelrechter Tenure Track bei dem den Nachwuchswissenschaftlern fur den Fall entsprechender Leistungen eine Dauerstelle garantiert wird in Deutschland nach wie vor eine Ausnahme darstellt Dementsprechend stellt die Wissenschaft durchaus einen gewissen Konjunkturen unterliegenden Arbeitsmarkt dar bei dem insbesondere der Nachwuchs angesichts der geringen Zahl an Dauerstellen ein hohes Risiko eingeht Besonders die gestiegene Beteiligung von Frauen an Promotion und Habilitation sowie die mit den neueren hochschulpolitischen Entwicklungen einhergehende Fokussierung und somit Beschneidung der thematischen Breite von Lehre und Forschung fuhrt auf diesem zu einem erhohten Konkurrenzdruck 2 Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbetrieb BearbeitenFur die Wissenschaftspolitik an Bedeutung gewonnen hat die Wissenschaftsforschung die wissenschaftliche Praxis mit empirischen Methoden zu untersuchen und zu beschreiben versucht Dabei kommen unter anderem Methoden der Scientometrie zum Einsatz Die Ergebnisse der Wissenschaftsforschung haben wiederum im Rahmen von Evaluationsverfahren Einfluss auf forschungspolitische Entscheidungen und damit indirekt auf den Wissenschaftsbetrieb Gesellschaftliche Fragen innerhalb des Wissenschaftsbetriebs sowie die gesellschaftlichen Zusammenhange und Beziehungen zwischen Wissenschaft Politik und ubriger Gesellschaft untersucht die Wissenssoziologie aber auch die Kultur und Sozialwissenschaft Der Kulturbegriff wirft dabei den Blick auch auf jene nichtfachlichen Verhaltensweisen die als Handlungsroutinen Fachsprachen Kleidungsvorschriften Habitus usw auch den Wissenschaftsbetrieb als ein spezifisches soziales Feld kennzeichnen 3 Wichtige Beitrage zur soziologischen Betrachtung des Wissenschaftsbetriebs lieferte der franzosische Soziologe und Philosoph Bruno Latour Begrunder der Akteur Netzwerk Theorie Auf Grundlage seiner 1975 Studien im kalifornischen Salk Institute entwickelte er eine sozialkonstruktivistische Sichtweise von Forschungskulturen in wissenschaftlichen Institutionen 4 Die fortschreitende Institutionalisierung des Wissenschaftsbetriebs bis hin zur Grossforschung big science wird zunehmend auch kritisch gesehen 5 Seit Ende des Kalten Krieges entbrannte in den vornehmlich westlichen Gesellschaften eine Technologiedebatte in der die Forschung beispielsweise zur Atom und Kernphysik oder zur Gentechnik weniger als Segen denn als Bedrohung fur die demokratische Gesellschaft diskutiert wird 6 Inwiefern allerdings gangbare Alternativen bestehen wie beispielsweise die sogenannte Burgerwissenschaft englisch Citizen Science die fur mehr Transparenz und demokratische Steuerung in den Wissenschaften sorgen sollen wird sehr kontrovers diskutiert 6 7 Diskutiert wird auch eine im 21 Jahrhundert in den Industriegesellschaften verstarkt auftretende Skepsis gegenuber der Wissenschaft angesichts der grossen Krisen durch den Klimawandel oder die COVID 19 Pandemie die teilweise auch offen umschlagt in eine wissenschafts und aufklarungsfeindliche Haltung 8 Publizistische Verarbeitung Bearbeiten Der Naturwissenschaftler Chemiker und Schriftsteller Carl Djerassi bezeichnete den nicht nur empirischen sondern strukturellen Widerspruch zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisprozess als selbstloses Streben nach Wahrheit und der Organisation der Wissenschaftsgemeinde in Form des Wissenschaftsbetriebs als zwei Seiten derselben Medaille Im Postscript seines Satireromans Cantor s Dilemma 1989 kennzeichnete Djerassi den Doppelcharakter von Wissenschaft folgendermassen Science is both disinterested pursuit of truth and a community with its own customs its own social contract Zu deutsch etwa Wissenschaft bedeutet sowohl selbstloses Streben nach Wahrheit als auch eine Gemeinschaft mit ihren eigenen Sitten und Gebrauchen Vorstellungen und Gesetzen Carl Djerassi 9 Der Kunstwissenschaftler Robert Kudielka dessen Arbeiten sich unter anderem mit Hermeneutik und Erkenntnistheorie beschaftigen sieht gerade auch in der Institutionalisierung des Wissenschaftsbetriebs ein Problem Denn sei in der Zeit der Etablierung der Wissenschaften im 19 Jahrhundert noch offene Methodenstreits und Fragen des Erkenntnisinteresses diskutiert worden wurde dies in der modernen Wissenschaft in dieser Weise nicht mehr geschehen Das Problem der Wissenschaft heute ist glaube ich ein bisschen anders gelagert und darin etwas prekarer Ich glaube im Zuge der eigenen kulturellen Entwicklung die sie hervorgebracht hat ist die Wissenschaft selber ein institutioneller Faktor geworden Die Wissenschaft ist eine Institution die fest eingerichtet ist in unserer Wirklichkeit die Teil unserer Wirklichkeit ist und darin naturlich auch alle Gefahren sichtbar macht die daraus erwachsen namlich zum Beispiel das Problem der Abstandslosigkeit der undurchschauten Abhangigkeiten der blinden und naiven Volksglaubigkeit in der Erprobung von Methoden und dergleichen mehr Die Wissenschaft heute hat glaube ich ein eigenartiges Defizit an methodischem Bewusstsein Robert Kudielka 10 In der Belletristik ist der Wissenschaftsbetrieb ein haufig anzutreffendes Sujet das aber selten uber eine blosse Kulissenhaftigkeit hinausreicht Eine erste ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbetrieb publizierte der britische Autor und spatere Wissenschaftspolitiker Charles Percy Snow in den 1930er Jahren In der Folgezeit veroffentlichte er zahlreiche weitere Romane die den akademischen Wissenschaftsbetrieb in staatlichen Einrichtungen thematisieren 11 Hermann Kant diskutierte in seinem preisgekronten Roman Die Aula den Wissenschaftsbetrieb der Ostzone und der fruhen DDR Zu nennen ist auch der deutsche Anglist und Schriftsteller Dietrich Schwanitz der in seinem Roman Der Zirkel 1998 ein satirisch atzendes Zeit und Sittenbild der Wissenschaftsbetriebsamkeit im gesamtdeutschen Universitatssystem der 1990er Jahre gezeichnet hat in dem dieser gesellschaftliche Bereich als letztlich unreformierbar erscheint 12 Der Wissenschaftsbetrieb ausseruniversitarer Forschungszentren also Forschungseinrichtungen mit zum Teil sehr grossen Forschungsinfrastrukturen wird literarisch u a in den 2012 erschienenen Romanen des Naturwissenschaftlers Bernhard Kegel Ein tiefer Fall 13 und des Autorengespanns Ann Monika Pleitgen und Ilja Bohnet Teilchenbeschleunigung 14 verarbeitet in denen der Wissenschaftsbetrug in den Mittelpunkt der Handlung gestellt wird Die prekaren Arbeitsverhaltnisse im Wissenschaftsbetrieb durch befristete Arbeitsvertrage und entsprechende Abhangigkeiten in der Zeit des Umbruchs in Deutschland in den 1990er Jahren bis heute verdichtet die Ethnologin und Schriftstellerin Anna Sperk in ihrem Debut Roman Die Hoffnungsvollen 15 16 Historische Literatur BearbeitenMichael Hubenstorf Peter Th Walther Politische Bedingungen und allgemeine Veranderungen des Berliner Wissenschaftsbetriebes 1925 1950 In Wolfram Fischer Klaus Hierholzer Michael Hubenstorf Peter Th Walther Rolf Winau Hrsg Exodus von Wissenschaften aus Berlin Fragestellungen Ergebnisse Desiderate Entwicklungen vor und nach 1933 Berlin 1994 S 5 100 Matthias Kolbel Wissensmanagement in der Wissenschaft Das deutsche Wissenschaftssystem und sein Beitrag zur Bewaltigung gesellschaftlicher Herausforderungen Dissertation Gesellschaft fur Wissenschaftsforschung GeWIF Berlin 2004 ISBN 978 3 934682 60 3Einzelnachweise Bearbeiten Maria Gutknecht Gmeiner Externe Evaluierung durch Peer Review Qualitatssicherung und entwicklung in der beruflichen Erstausbildung Springer Verlag 2008 https books google co uk books id CoNxvRwPCOEC Barbara Strobel Was sie wurden wohin sie gingen Ergebnisse einer Verbleibstudie uber PromovendInnen und HabilitandInnen des Fachbereichs Politik und Sozialwissenschaften der Freien Universitat Berlin Memento vom 31 Marz 2010 im Internet Archive PDF 213 kB in gender politik online abgefragt am 26 August 2009 Thomas Ernst Bettina Bock von Wulfingen Stefan Borrmann und Christian P Gudehus Hg Wissenschaft und Macht Westfalisches Dampfboot Munster 2004 ISBN 3 89691 581 9 Bruno Latour Steve Woolgar Laboratory Life The Social Construction of Scientific Facts Beverly Hills 1979 ISBN 0 8039 0993 4 Laboratory Life The Construction of Scientific Facts 2 Aufl Princeton 1986 ISBN 0 691 02832 X Derek de Solla Price Little Science Big Science Von der Studierstube zur Grossforschung Suhrkamp 1982 ISBN 978 3518076484 a b Joachim Muller Jung Avanti Dilettanti Forschung von Laien fur Laien Nach der Rede von Akademieprasident Gunter Stock wird heftig uber die sogenannte Burgerwissenschaft debattiert In FAZ am 3 September 2014 Demokratisierung der Wissenschaft Pluralismus ist nicht erwunscht TAZ 4 Juli 2014 Die Krise der Expertise von Gil Eyal Edition Patrick Frey 2021 ISBN 978 3 90723 622 2 Carl Djerassi Cantors Dilemma A Novel Penguin S 229 1991 Die Naturwissenschaft ein Kulturphanomen in seinen Schranken und Moglichkeiten Radiofeature mit den Gesprachspartnern Olaf Breidbach Robert Kudielka und Albrecht Wagner von Ilja Bohnet und Bernhard Kaufmann mit den Sprechern Ulrich Pleitgen und Claudia Rieschel FSK Hamburg 1999 Spiegel Artikel vom 18 Dezember 1963 abgerufen am 21 September 2014 Dietrich Schwanitz Der Zirkel Eichborn Verlag 1998 ISBN 978 3 8218 0560 3 Bernhard Kegel Ein tiefer Fall Mare Buchverlag Hamburg 2012 ISBN 978 3 86648 165 7 als Horbuch bei Radioropa Horbuch ungekurzte Lesung von Bert Stevens ISBN 978 3 8368 0641 1 Bohnet Pleitgen Teilchenbeschleunigung Argument Verlag Hamburg 2012 ISBN 978 3 86754 191 6 Anna Sperk Die Hoffnungsvollen Mitteldeutscher Verlag Halle 2016 ISBN 978 3 95462 750 9 Debut der Autorin ausgezeichnet mit dem Klopstock Forderpreis fur neue Literatur Klopstock Preis 2018 In Landesportal Sachsen Anhalt Land Sachsen Anhalt Staatskanzlei und Ministerium fur Kultur Sachsen Anhalt abgerufen am 9 Juli 2020 Verlagsinformation und Pressestimmen zu Anna Sperk Die Hoffnungsvollen In mitteldeutscherverlag de 2018 abgerufen am 9 Juli 2020 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Wissenschaftsbetrieb amp oldid 226208259