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Die dokumentarische Methode ist ein Verfahren der rekonstruktiven respektive qualitativen Sozialforschung die in den Sozial Kultur Bildungs und Erziehungswissenschaften entwickelt wurde und vor allem in diesen zur Anwendung kommt Inhaltsverzeichnis 1 Begriff 2 Leitdifferenz 3 Verwendung als Interpretationsverfahren der qualitativen Sozialforschung 4 Anwendungsgebiete 5 Literatur 6 WeblinksBegriff BearbeitenDer Begriff dokumentarische Methode bzw documentary method geht auf Harold Garfinkel zuruck der damit die Methoden der Herstellung einer gemeinsamen alltaglichen Ordnung kennzeichnet vgl Garfinkel 1967 95 Eine Interpretation von Handlungen anderer erfolgt demnach stets vor dem Hintergrund eines nicht explizierten Kontextwissens das Gesellschaftsmitglieder teilen das bedeutet dass wir Handlungen und Aussagen stets als Dokument fur etwas oder Hinweis auf etwas wahrnehmen Die dokumentarische Methode ist bei Garfinkel also eine Methode der gegenseitigen Beobachtung und Interpretation im Alltag eine Methode zur Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit Etwas anders ist dies bei dem Wissenssoziologen Karl Mannheim gefasst auf den sich Garfinkel bezieht Mannheim unterscheidet im Kontext der wissenschaftlichen Beobachtung von Alltagsakteuren den Dokumentsinn einer Handlung oder Aussage von einem objektiven Sinn und einem intendierten Ausdruckssinn also subjektiven Sinn Mannheim 1964 104 Den Unterschied erlautert er an folgendem Beispiel Ich gehe mit einem Freunde auf der Strasse ein Bettler steht an der Ecke er gibt ihm ein Almosen ebd 105 Der objektive Sinn dieser Handlung der unabhangig von Intentionen oder Motiven oder der Art und Weise wie sie ausgefuhrt wird bspw gleichgultig genervt freigiebig ist ist Mannheim zufolge die Hilfe Daneben verbindet der Freund auch eine Absicht mit seiner Handlung es besteht somit eine zweite Sinnschicht die des Ausdruckssinns Diese zweite Art des Sinns ist im Unterschiede von der ersten dadurch charakterisiert dass sie keineswegs jene Ablosbarkeit vom Subjekt und dessen realen Erlebnisstrom besitzt sondern nur darauf bezogen nur aus diesem Innenweltbezug heraus ihren vollig individualisierten Sinn erhalt ebd 107 Diese Sinnschicht besteht aus der Intention oder dem Motiv das der Handelnde mit seinem Tun und Lassen verknupft was gleichgesetzt werden kann mit der Motivationsrelevanz Schutz Luckmann 2003 286ff im Sinne der Schutz schen Wissenssoziologie Anders als fur Alfred Schutz jedoch ist fur Mannheim diese Sinnschicht kein zentraler Gegenstand wissenssoziologischer Analysen Vielmehr gibt es eine dritte Sinnschicht in der nicht das intendierte Was der Handlung sondern das Wie der modus operandi Bohnsack 2008 60 interessiert In diesem Falle kommt es mir gar nicht darauf an was der Freund objektiv getan geleistet hatte auch nicht darauf was er durch seine Tat ausdrucken wollte sondern das was durch seine Tat auch von ihm unbeabsichtigt sich fur mich uber ihn dokumentiert Mannheim 1964 108 Eine solche Analysehaltung lasst sich auf alle Handlungsweisen des Freunds bzw generell die Handlungspraxis der Beforschten ausdehnen In dieser Richtung kann ich alle seine Objektivationen auffassen seine Miene sein Gebardenspiel sein Lebenstempo sein Sprachrhythmus verharre ich in dieser interpretativen Einstellung so bekommt jede seiner Regungen und Handlungen eine neue Deutung Mannheim 1964 108 Das heisst in dem Dokumentsinn spiegeln sich elementare Erfahrungs und Wissensstrukturen also Strukturen eines konjunktiven Wissen im Sinne Mannheims Mannheim grenzt die Form eines konjunktiven Wissens von einem kommunikativen Wissen ab eine Unterscheidung die konstitutiv ist fur die Weiterentwicklung der Mannheim schen Wissenssoziologie zu einer praxeologischen Wissenssoziologie Bohnsack 2006c 2007 und fur die von Ralf Bohnsack entwickelte dokumentarische Methode als Interpretationstechnik und Auswertungsverfahren der qualitativen resp rekonstruktiven Sozialforschung Leitdifferenz BearbeitenJegliches Denken Fuhlen und Wahrnehmen der Welt und der Menschen die sie mit ihren Handlungen bevolkern ist nach Mannheim an unseren Standort in der Welt gebunden Diese unhintergehbare Aspekthaftigkeit erlautert er anhand der Wahrnehmung einer Landschaft die notwendigerweise nur in der Landschaft selbst und von einem bestimmten Aussichtspunkt moglich ist vgl Mannheim 1980 212 Die Landschaft als solche ist nicht zu erkennen Das Auflosen der Perspektivitat zugunsten einer Objektivitat bedeutet das Anfertigen einer Landkarte die gelesen und nicht erfahren werden kann In diesem Sinne pragte auch Korzybski den beruhmten Satz the map is not the territory 1958 1933 58 Wie Landschaften nur perspektivisch erfahren werden konnen so gilt das auch fur die soziale Wirklichkeit Wir bewegen uns in unterschiedlichen Erfahrungsraumen die fur die Aspekthaftigkeit Bohnsack 2008 Kap 10 und 11 des Daseins von erheblicher Relevanz sind Es handelt sich im Sinne Mannheims um konjunktive Erfahrungsraume die sich dadurch auszeichnen dass ihre Mitglieder wesentliche Aspekte einer gemeinsamen Weltanschauung und einen ahnlichen Denkstil das heisst gemeinsame Erfahrungs und Wissensstrukturen teilen Damit geht auch eine gemeinsame Sprache einher deren Indexikalitat im Sinne des Sinnuberschusses von Zeichen auf eine erfahrungsraumspezifische Weise reduziert wird so dass fur die engere Gemeinschaft eine konjunktiv bedingte Bedeutung Mannheim 1980 218 entsteht die sich vom Allgemeinbegriff in definitorischer Charakterisiertheit ebd 220 unterscheidet Dem konjunktiven Wissen aus spezifischen Erfahrungsraumen die bspw durch die Dimensionen Geschlecht Generation Milieu Peerkultur bedingt sein konnen sind also jene Allgemeinplatze und Stereotype gegenuberzustellen die einem kollektiv geteilten Common Sense entspringen und kaum mit der eigenen Alltagspraxis verknupft sind Die Konjunktivitat der Sprache in spezifischen Erfahrungsraumen und Gemeinschaften hat eine doppelte Wirkung Zum einen lassen sich Erfahrungen in der Sprache bannen ebd 222 und fixieren ebd 229 so dass eine gemeinsam geteilte Bedeutungswelt entsteht und Wissensstrukturen sedimentieren Andererseits lassen sich durch die Benennung Ereignisse Verhaltnisse und Sachverhalte in den gemeinsamen Erfahrungsraum ziehen auf diesen beziehen so dass eine Gruppe bestimmte Sachverhalte auf ahnliche Art und Weise wahrnimmt und alltagspraktisch regelt Insbesondere uber die Sprache entstehen also erfahrungsraumspezifische Kollektivvorstellungen die nicht mit Emile Durkheims Kollektivbewusstsein zu verwechseln sind Die Kollektivvorstellungen sind also der Niederschlag der perspektivischen jedoch stereotypisierten d h auf einen bestimmten Erfahrungsraum bezogenen konjunktiven Erfahrung Mannheim 1980 231 Das Wissen das in konjunktiven Erfahrungsraumen entsteht ist ein implizites und weitgehend atheoretisches Wissen im Sinne des Habitus Bourdieus das kaum explizit abgefragt werden kann und sich in dem Wie sozialer Handlungen und Ausserungen ausdruckt bzw dokumentiert Verwendung als Interpretationsverfahren der qualitativen Sozialforschung BearbeitenRalf Bohnsack 2008 2009 hat in Anschluss an Mannheim und Garfinkel und in Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Sozialtheorie eine praxeologische Wissenssoziologie ausgearbeitet Bohnsack 2007 und in diesem Kontext die dokumentarische Methode als ein Verfahren der Auswertung und Interpretation von Datenmaterial in der qualitativen resp rekonstruktiven Sozialforschung entwickelt Kern dieses Verfahrens ist die Rekonstruktion von Organisationsprinzipien konjunktiver Erfahrungsraume Orientierungen also eines implizit handlungsleitenden und weitgehend atheoretischen Wissens sowie das Verhaltnis dieses stillschweigenden Wissens zu explizierbaren also reflexiv verfugbaren Wissensbestanden Selbstentwurfe Theorien uber sich selbst und andere Um die Sinnschichten jenes konjunktiven Wissens freizulegen verfahrt die dokumentarische Methode in zwei spezifischen Interpretationsschritten Nachdem das Text Material Transkriptionen von Interviews Gruppendiskussionen Alltagsgesprachen etc gesichtet und zum Uberblick und zum Vergleich thematisch gegliedert ist wird von ausgewahlten Passagen vor allem solche einer erzahlerischen oder interaktiven Dichte Detailliertheit so genannte Fokussierungsmetaphern vgl Bohnsack 2006b 67 eine formulierende und reflektierende Interpretation angefertigt In der formulierenden Interpretation verbleibt der die Forschende auf der Ebene des immanenten Sinngehalts das heisst Es wird reformuliert WAS gesagt wurde Dieser Schritt dient der Befremdung von dem Material sowie der Differenzierung thematischer Gehalte in Ober und Unterthemen jegliches Kontextwissen ist auszublenden und in der Reformulierung sind Besonderheiten der Beforschten zu ubernehmen wie z B Bildungsbetrieb oder Zuchtanstalt als Ausdruck fur Schule Die anschliessende reflektierende Interpretation des Materials ist der Kern der dokumentarischen Methode Hier gilt es von der Ebene des WAS des Textes Abstand zu nehmen und das WIE zu fokussieren und zu beschreiben also Wie wird z B von einer Person oder einer Gruppe ein spezifisches Thema behandelt oder Problem bearbeitet Besondere Aufmerksamkeit kommt hier performatorischen Aspekten zu wie der Diskursorganisation in Gruppendiskussionen Alltagsgesprachen Przyborski 2004 oder Textsorten im Interview Nohl 2006 Dabei wird erstens wie in allen elaborierten Verfahren der qualitativen Forschung das Material sequenziell interpretiert also Zug um Zug und zweitens einer komparativen fallubergreifenden Analyse unterzogen Objektive Hermeneutik und dokumentarische Methode unterscheiden sich insbesondere in letzterem Aspekt Ziel ist die Rekonstruktion von spezifischen Orientierungen Orientierungsrahmen vgl Bohnsack 2006b 132 der Beforschten und zumeist die Erstellung einer mehrdimensionalen Typologie In dieser Hinsicht lasst sich unterscheiden zwischen einer sinngenetischen und soziogenetischen Typenbildung Letztere vermag zugleich die soziale Konstitutionslogik der Entstehung der rekonstruierten Typen abzubilden ein komplexes Unternehmen das zumeist Dissertationen oder grosseren Projektzusammenhangen vorbehalten bleibt Anwendungsgebiete BearbeitenZunachst anhand von Gruppendiskussionen ausgearbeitet ist die dokumentarische Methode heute ein Standardverfahren der empirischen Forschung in den Sozial und Erziehungswissenschaften das bei der Interpretation von Alltagsgesprachen Interviews Protokollen teilnehmender Beobachtung schriftlichen Ausserungen von Beforschten sowie Bildern und Filmen zur Anwendung kommt Anwendungsgebiete sind bspw die Jugendforschung Bildungsforschung Schulforschung Medien rezeptions forschung Organisationsforschung Migrationsforschung Gender Forschung Ritualforschung Familienforschung Evaluationsforschung u v m vgl die Ubersicht in Bohnsack 2008 31 Literatur BearbeitenBohnsack Ralf Orientierungsmuster In Bohnsack Ralf Marotzki Winfried Meuser Michael Hrsg Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung Barbara Budrich Opladen amp Farmington Hills 2006a S 132 133 ISBN 978 3 8252 8226 4 Bohnsack Ralf Fokussierungsmetapher In Bohnsack Ralf Marotzki Winfried Meuser Michael Hrsg Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung Barbara Budrich Opladen amp Farmington Hills 2006b S 67 ISBN 978 3 8252 8226 4 Bohnsack Ralf Praxeologische Wissenssoziologie In Bohnsack Ralf Marotzki Winfried Meuser Michael Hrsg Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung Barbara Budrich Opladen amp Farmington Hills 2006c S 67 ISBN 978 3 8252 8226 4 Bohnsack Ralf Dokumentarische Methode und praxeologische Wissenssoziologie In Schutzeichel Rainer Hrsg Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung UVK Verlagsgesellschaft Konstanz 2007 S 180 190 Bohnsack Ralf Rekonstruktive Sozialforschung Einfuhrung in qualitative Methoden Barbara Budrich Opladen amp Farmington Hills 2008 ISBN 978 3 8252 8242 4 Bohnsack Ralf Qualitative Bild und Videointerpretation Die dokumentarische Methode Barbara Budrich Opladen amp Farmington Hills 2009 ISBN 978 3 8252 8407 7 Bohnsack Ralf Fritzsche Bettina Wagner Willi Monika Hrsg Dokumentarische Video und Filminterpretation Methodologie und Forschungspraxis Sozialwissenschaftliche Ikonologie Qualitative Bild und Videointerpretation Band 3 Barbara Budrich Opladen amp Farmington Hills 2014 Garfinkel Harold Studies in Ethnomethodology Polity Press Cambridge 1967 Kellermann Norbert Metamorphose Sexuelle Sozialisation in der weiblichen Pubertat Budrich UniPress Opladen 2012 ISBN 978 3 86388 003 3 Korzybski Alfred Science and Sanity An Introduction to non Aristotelian Systems and General Semantics Institute for General Semantics Lakerville 1958 1933 Mannheim Karl Beitrage zur Theorie der Weltanschauungs Interpretation In Mannheim Karl Wissenssoziologie Luchterhand Neuwied 1964 1921 22 S 91 154 Mannheim Karl Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit Konjunktives und kommunikatives Denken In Kettler David Meja Volker Stehr Nico Hrsg Karl Mannheim Strukturen des Denkens Suhrkamp Frankfurt a M 1980 1924 S 155 322 Nohl Arnd Michael Interview und dokumentarische Methode Anleitungen fur die Forschungspraxis VS Verlag Wiesbaden 2006 Nohl Arnd Michael Relationale Typenbildung und Mehrebenenanalyse Neue Wege der dokumentarischen Methode VS Verlag Wiesbaden 2013 Przyborski Aglaja Gesprachsanalyse und dokumentarische Methode Qualitative Auswertung von Gesprachen Gruppendiskussionen und anderen Diskursen VS Verlag Wiesbaden 2004 Schutz Alfred Luckmann Thomas Strukturen der Lebenswelt UVK Verlag Konstanz 2003 Weblinks BearbeitenCentrum fur qualitative Evaluations und Sozialforschung Lernpfad Dokumentarische Methode im Online Fallarchiv Schulpadagogik der Universitat Kassel Autorin Barbara Asbrand Literaturliste zur Dokumentarischen Methode Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Dokumentarische Methode amp oldid 239552225