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Die Gruppendiskussion ist eine Erhebungsmethode der empirischen Sozialforschung bei der im Gegensatz zu Erhebungen mit einzelnen Individuen die thematischen Aussagen einer Gruppe bzw die Kommunikation in einer Gruppe erfasst werden soll Die Gruppendiskussionsmethode ist v a in qualitativ ausgerichteten Forschungen der Sozial und Erziehungswissenschaften von Bedeutung In der Marktforschung kommen Gruppendiskussionen ebenfalls haufig zum Einsatz 1 Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung und Weiterentwicklungen des Verfahrens 1 1 Der Ursprung in den USA 1 2 Friedrich Pollock Das Gruppenexperiment 1 3 Werner Mangold Informelle Gruppenmeinungen 1 4 Ralf Bohnsack Gruppendiskussion und Milieuforschung 2 Literatur 3 EinzelnachweiseEntstehung und Weiterentwicklungen des Verfahrens BearbeitenDer Ursprung in den USA Bearbeiten Der Einsatz von Gruppendiskussionen im Kontext empirischer Sozialforschung lasst sich bis in die 1930er Jahre zuruckverfolgen In den USA setzten Kurt Lewin und spater auch seine Schuler Gruppendiskussionen im Rahmen sozialpsychologischer Untersuchungen ein um zu erforschen wie Gruppenprozesse das Verhalten einzelner Gruppenmitglieder beeinflussen Diese Gruppendiskussionen hatten einen der psychologischen Forschungstradition verpflichteten eher experimentellen Charakter Kurt Lewin kam es weniger auf die Ausserungen der einzelnen Gruppenmitglieder an sondern fur ihn standen vielmehr Gruppenprozesse die Gruppendynamik die Ermittlung der Wirkungen und Wechselwirkungen einzelner Variablen die fur das Verhaltnis von Individuum und Gruppe bedeutsam sind im Mittelpunkt Es handelte sich also noch nicht um explizit qualitative Methoden sondern eher um eine spezifische Auspragung quantitativer Sozialforschung 2 Friedrich Pollock Das Gruppenexperiment Bearbeiten Diese Konzeption anderte sich jedoch mit der ersten Anwendung des Gruppendiskussionsverfahrens 1950 1951 in Deutschland Friedrich Pollock erforschte mit seinem Gruppenexperiment am Frankfurter Institut fur Sozialforschung politische Einstellungen unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs Ziel war es wichtige Aspekte der deutschen offentlichen Meinung zu ermitteln das was auf dem Gebiet der politischen Ideologie in der Luft liegt die transsubjektiven Faktoren zu studieren und insbesondere verstehen zu lernen auf welche Weise und in welchem Umfang sie sich dem Einzelnen gegenuber durchsetzen 3 Die besondere Eignung des Gruppendiskussionsverfahrens fur dieses Erkenntnisinteresse leitete Pollock unmittelbar aus seiner Kritik an der verbreiteten Vorgehensweise zur Ermittlung der offentlichen Meinung in Form von reprasentativen Umfragen ab Hierbei werde die offentliche Meinung lediglich als Summenphanomen individueller Meinungen behandelt und gleichzeitig vorausgesetzt jedes Individuum verfuge uber eine fertige individuelle Meinung die lediglich durch einen Fragebogen erhoben werden musse Pollocks Ansicht zufolge entstehen und wirken Meinungen und Einstellungen J S nicht isoliert sondern in standiger Wechselbeziehung zwischen dem Einzelnen und der unmittelbar und mittelbar auf ihn einwirkenden Gesellschaft Sie sind oft nicht sonderlich dezidiert sondern stellen eher ein vages und diffuses Potential dar Dem Einzelnen werden sie haufig erst wahrend der Auseinandersetzung mit anderen Menschen deutlich 4 Die Diskussion in einer Gruppe sollte eine solche Auseinandersetzung ermoglichen in der individuelle Meinungen explizierbar ausgeformt werden und zudem bewusste und unbewusste Widerstande der Individuen uberwunden werden die in standardisierten Interviewsituationen zu Blockaden und Rationalisierungen fuhren In dieser Absicht stellte die Verwendung eines Grundreizes ein wichtiges Element dar Ein fiktiver Brief der den Teilnehmern als Tonbandaufnahme vorgespielt wurde sollte nicht nur als thematische Grundlage dienen sondern daruber hinaus durch Anruhren psychologischer Nervenpunkte eine stimulierende Wirkung ausuben und die Diskussionsteilnehmer dazu veranlassen aus der sonst bei affektiv besetzten Themen haufig beobachteten Reserve herauszugehen 5 Um das Gruppenexperiment entfaltete sich eine Kontroverse zwischen dem Sozialpsychologen Peter Hofstatter und Theodor W Adorno der zu dem Band eine umfangreiche Monografie uber das Verhaltnis zwischen Schuld und Abwehr beigetragen hatte Hofstatter brachte seine Argumente die sich mit den vergangenheitspolitisch avancierten Argumenten Adornos nicht anfreunden konnte im Medium der Methodenkritik vor eine argumentative Volte die Adorno durchschaute und entlarvte Das Frankfurter Institut fur Sozialforschung setzte die Gruppendiskussionsmethode in den Folgejahren in einer Reihe von Forschungsprojekten ein unter anderem bei der Erforschung der Einstellung von Industriearbeitern zur Montanmitbestimmung im Mannesmann Konzern oder zur Untersuchung der antidemokratischen Einstellungen von Spatheimkehrern aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft Mit diesen Auftragsforschungen setzte das Institut fur Sozialforschung die Anwendung des fur die 1950er Jahre ausgesprochen innovativen Gruppendiskussionsverfahrens jedoch zum wiederholten Male der Methodenkritik von Experten der angewandten Psychologie aus weil auch hier die Ergebnisse die das Institut fur Sozialforschung erhob dem Zeitgeist zum Teil erheblich widersprachen 6 Werner Mangold Informelle Gruppenmeinungen Bearbeiten Eine Wendung erfuhr das Gruppendiskussionsverfahren durch den Ansatz von Werner Mangold 7 Indem er Pollocks Konzept aufgriff und weiterfuhrte kam er zu dem Schluss dass Gruppendiskussionen gerade wegen der sozialen Kontextualitat der geausserten Einstellungen ein ungeeignetes Instrument zur Erhebung individueller Meinungen darstellen Er verschob das Erkenntnisinteresse deshalb hin zur Erfassung informeller Gruppenmeinungen Komparative Analysen von Diskussionsprotokollen haben gezeigt dass sich in verschiedenen Diskussionsgruppen gleicher sozialer Struktur in der Tat inhaltlich gleichartige informelle Gruppenmeinungen manifestieren konnen 8 Homogene Diskussionsgruppen von Arbeitern Bauern kleinen Angestellten und Beamten um einige Beispiele zu nennen stimmten untereinander jeweils in der Aufmerksamkeit uberein die bestimmte Themen fanden in den Perspektiven aus denen heraus diese erortert wurden in den Vorstellungen die uber gesellschaftliche Wirklichkeit bestanden in der man sich als Arbeiter als Bauer als kleiner Angestellter oder Beamter zu befinden glaubte 9 Mangold ging davon aus dass diese informelle Gruppenmeinungen keineswegs ein Produkt der Erhebungssituation selbst seien sondern dass die untersuchten Kollektive auch ausserhalb der Gruppendiskussion uber solche geteilten Auffassungen verfugen die innerhalb der Gruppendiskussion lediglich aktualisiert werden Damit ist ein externer Gultigkeitsanspruch bezuglich der informellen Gruppenmeinung verbunden der in der Folge vor allem von Niessen auf dem Hintergrund des interpretativen Paradigmas bezweifelt wurde Niessen untersuchte in den 1970er Jahren Interaktionsprozesse in Realgruppen Gemass der theoretischen Position des symbolischen Interaktionismus ist soziales Handeln massgeblich durch Interpretationsleistungen und wechselseitige Sinnzuschreibungen der miteinander Agierenden konstituiert Um solche Prozesse angemessen erheben zu konnen erschien Niessen die Duade einer gewohnlichen Befragungssituation ungeeignet In der Gruppendiskussion hingegen werden gerade diese Prozesse des situativen Aushandelns von Sinngehalten fur den Forscher zuganglich Allerdings schien es im Verstandnis des interpretativen Paradigmas nun schwierig bei aller Prozesshaftigkeit noch Strukturen zu identifizieren 10 Niessen folgerte aus seinen Untersuchungen dass die in solchen Diskussionen geausserten Gruppen Meinungen aufgrund ihrer situativen Kontextualitat keine Geltung uber die konkrete Erhebungssituation hinaus besitzen konnen Ralf Bohnsack Gruppendiskussion und Milieuforschung Bearbeiten Diese Position wirft jedoch die Frage auf welchem Zweck der Einsatz von Gruppendiskussionen in der empirischen Sozialforschung zu dienen vermag Eine Antwort darauf liefert Ralf Bohnsack mit einer methodologischen Umformulierung des Mangoldschen Konzepts Der Ansatz informeller Gruppenmeinungen wird zu einem Modell kollektiver Orientierungsmuster 11 ausgearbeitet Entscheidend ist dabei die Loslosung vom Begriff der Gruppe an dessen Stelle Karl Mannheims Konzept konjunktiver Erfahrungsraume tritt Die Bedeutung dieser begrifflichen Unterscheidung wird am Beispiel des Generationenzusammenhangs deutlich Sprechen wir also von konkreter Gruppe wenn entweder gewachsene oder gestiftete Bindungen Individuen zu einer Gruppe vereinigen so ist der Generationenzusammenhang ein Miteinander von Individuen in dem man zwar auch durch etwas verbunden ist aber aus dieser Verbundenheit ergibt sich zunachst noch keine konkrete Gruppe 12 Dem gemeinsamen Leben wird also das gemeinsame Erleben gegenubergestellt hinter individuell prozesshaften Sinnzuschreibungen werden kollektiv strukturelle Sinnmuster erkennbar Diese kollektiven Orientierungsmuster bezieht Bohnsack hauptsachlich auf den Milieubegriff den er ausdifferenziert in Generations Geschlechts Bildungs und sozialraumliche Milieus Gleichzeitig betont er die Bedeutung der Milieuanalyse fur die Biographieforschung weil die individuellen biographischen Erlebnisse und Erfahrungen immer durch einen milieuspezifischen Kontext gepragt sind Der klassischen biographischen Forschung in Form narrativer Interviews werden die Einflusse von Milieus allerdings nur als integrierter Aspekt der geschlossenen Lebenserzahlung zuganglich Hier sieht Bohnsack ein bedeutendes Anwendungsfeld fur Gruppendiskussionen Die unterschiedlichen milieuspezifischen Wirklichkeiten an denen das Individuum teil hat und die es immer erst retrospektiv und aspekthaft verinnerlicht sind aber auf dem Wege des Gruppendiskussionsverfahrens einer direkten empirischen Analyse zuganglich 13 Im Modell kollektiver Orientierungsmuster steht also nicht langer die Meinung einer Gruppe im Vordergrund sondern die sie bedingenden Strukturen gemeinsamer milieuspezifischer und biographischer Erfahrungen Zur Rekonstruktion dieser Orientierungsmuster hat Bohnsack die dokumentarische Methode ausgearbeitet mittlerweile ein Standard Verfahren der qualitativen Sozialforschung das auch bei der Interpretation von Interviews wie der Analyse von Bildern und Filmen zur Anwendung kommt Literatur BearbeitenTheodor W Adorno Schuld und Abwehr Gesammelte Schriften Band 9 b S 121 325 Peter R Hofstatter Zum Gruppenexperiment von F Pollock Eine kritische Wurdigung in Kolner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie 9 1957 S 97 ff Heft I Ralf Bohnsack 1997 Gruppendiskussionsverfahren und Milieuforschung Aus B Friebertshauser A Prengel Hrsg Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft Weinheim Munchen Juventa S 492 501 Siegfried Lamnek 2005 Gruppendiskussion Theorie und Praxis 2 uberarbeitete Auflage Weinheim UTB Die erste Auflage von 1998 bei Beltz PVU berucksichtigt noch nicht Bohnsacks Konzept kollektiver Orientierungsmuster Werner Mangold 1960 Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens Aus der Arbeit des Instituts fur Sozialforschung Frankfurt M Europaische Verlagsanstalt Friedrich Pollock 1955 Gruppenexperiment Ein Studienbericht Frankfurt Europaische Verlagsanstalt Werner Mangold 1973 Gruppendiskussionen Aus R Konig Hrsg Handbuch der empirischen Sozialforschung Stuttgart Ferdinand Enke Verlag S 228 259 Ingo Dammer Frank Szymkowiak 1998 Die Gruppendiskussion in der Marktforschung Westdeutscher Verlag Opladen Thomas Kuhn Kay Volker Koschel 2011 Gruppendiskussionen Ein Praxis Handbuch VS Verlag fur Sozialwissenschaften Wiesbaden Peter von Haselberg Schuldgefuhle Postnazistische Mentalitaten in der fruhen Bundesrepublik Eine Studie aus dem Gruppenexperiment am Institut fur Sozialforschung Hrsg von Michael Becker Dirk Braunstein und Fabian Link Frankfurter Beitrage zur Soziologie und Sozialphilosophie 31 Campus Frankfurt a M und New York Einzelnachweise Bearbeiten Vgl Dammer Szymkowiak Kuhn Koschel Lamnek 1998 S 17 Pollock 1955 S 34 Pollock 1955 S 32 Pollock 1955 S 35 Platz 2012 passim Mangold 1960 Mangold 1960 Mangold 1973 S 244 f Bohnsack 1997 S 495 Bohnsack 1997 S 495 Mannheim 1971 S 33 f Bohnsack 1997 S 498 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Gruppendiskussion amp oldid 221739539