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Hauptlingstum bezeichnet in der Ethnologie nach Elman Service eine Form der politischen Organisation von sesshaften indigenen Volkern und Ethnien die einen oder mehrere permanent herrschende Oberhaupter Hauptling anerkennen oder historisch anerkannten 1 Nach Morton Fried gehoren Hauptlingstumer zu den Ranggesellschaften In der Politikethnologie wird das Hauptlingstum zwischen den teils segmentaren und herrschaftsfreien Stammesgesellschaften und den in Staaten organisierten Gesellschaften einsortiert Der US amerikanische Ethnologe Robert L Carneiro definierte 1981 das Hauptlingstum als eine autonome politische Einheit die aus einer Anzahl von Dorfern oder Gemeinschaften besteht und die sich unter der Kontrolle eines obersten Hauptlings befindet 2 Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Susan Arndt merkte 2011 an dass die Bezeichnung Hauptlingstum eine negative Nebenbedeutung habe und weibliche Machtstrukturen ausgrenze 3 Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Herrschaftsbereich eines Hauptlings oder traditionellen Anfuhrers undifferenziert als Hauptlingstum bezeichnet Inhaltsverzeichnis 1 Voraussetzungen 2 Entstehung 3 Merkmale 4 Entwicklung 5 Siehe auch 6 Literatur 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseVoraussetzungen Bearbeiten In den Hauptlingstumern der nordamerikanischen Westkuste wurde die Ungleichheit in Bezug auf die Ressourcen regelmassig durch das rituelle Potlatchfest gemildertEine Voraussetzung fur die Entstehung eines Hauptlingstums ist das Aufkommen von gesellschaftlicher Ungleichheit in segmentaren Stammesgesellschaften insbesondere Ungleichheit zwischen Frauen und Mannern Viele dieser Gesellschaften sind nach ihrer Vaterlinie organisiert patrilinear und der eheliche Wohnsitz liegt beim Mann oder seinem Vater patrilokal Frauen haben hier im Allgemeinen einen niedrigeren sozialen Status als Manner Insbesondere die Tatsache dass die Frauen nach der Heirat ihre eigene Familie verlassen und in der ihres Ehemannes leben benachteiligt sie in vielfacher Weise 4 Ihr gesellschaftlicher Status geht zuruck sie sind von allen bisherigen sozialen Kontakten abgeschnitten beispielsweise zu Freundinnen und mussen teilweise unter Menschen leben die sie bisher nicht kannten Im Allgemeinen sind Frauen nicht erbberechtigt und konnen auch nur begrenzt von der Arbeitskraft ihrer Nachkommenschaft profitieren Die Bande der Verwandtschaft werden in patriarchalen Systemen nur uber die Manner hergestellt Obwohl die Frauen in der Landwirtschaft und der hauslichen Produktion eine bestimmende Stellung einnehmen werden die Arbeitsprodukte von den Mannern kontrolliert Aus dem ursprunglicheren Frauentausch entwickeln sich Brautpreis Systeme so dass Frauen faktisch von der Familie des Brautigams gegen Heiratsguter wertvolle und dauerhafte Gegenstande oder Besitz gekauft werden konnen 5 6 Ungleichheit zwischen jungeren und alteren Mannern Eine andere Form der Ungleichheit ist in diesen Gesellschaften die hervorgehobene Position der altesten Manner Senioritatsprinzip Die Altesten haben haufig die grosste Autoritat und entscheiden uber die wichtigsten allgemeinen Belange der Produktion Sie koordinieren den Produktionsprozess und verwalten die landwirtschaftlichen Vorrate In patriarchalen Gesellschaften handeln sie mit den Altesten der anderen Gemeinschaften die Heiratsallianzen aus und bestimmen welche Mitglieder der jeweiligen Gruppen miteinander verheiratet werden Ungleichheit zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Mannern Die Angehorigen segmentarer Gesellschaften glauben jede besonders erfolgreiche Hervorbringung zum Beispiel die eines Jagers Fischers Ackerbauern oder Kriegers sei das Resultat des Besitzes von ubersinnlichen Kraften die in der polynesischen Sprache Mana genannt werden ansonsten weltweit unter verschiedenen Namen bekannt sind Je mehr Erfolg Prestige eine Person hat uber desto mehr Mana verfugt sie und umso mehr ubersinnliche Krafte werden ihr zugeschrieben Da das Mana nicht auf alle Gesellschaftsmitglieder gleichmassig verteilt ist sondern so dass es dem religiosen politischen oder wirtschaftlichen Erfolg des Einzelnen entspricht bewirkt es eine Staffelung der Gesellschaft in unterschiedliche Statusgruppen die durch ihren Anteil am Mana definiert sind Die Existenz von Mana fuhrt zu einem standigen Kampf um Anerkennung zwischen den Mitgliedern des Gemeinwesens 7 Entstehung Bearbeiten Angehorige des Jingpo Volkes die von Friedman fur die Entstehung des Hauptlingstumes herangezogen wurdenDer US amerikanische Anthropologe Jonathan Friedman beschrieb 1975 die Entstehung des Hauptlingstums am Beispiel der Jingpo Kachin im asiatischen Myanmar Birma Ein Hauptlingstum entsteht wenn ein Individuum beispielsweise im Krieg aber besonders durch das Ausrichten von Festen mit gegenseitigen Geschenken Beispiel Potlatchfest ein solch hohes soziales Ansehen erwirbt Mana Prestige dass eine positive Ruckkopplungsschleife entsteht und sich schliesslich ein grosser Teil des gesellschaftlichen Arbeitsprodukts in seiner Familie oder Abstammungsgruppe Lineage Clan konzentriert Beispiel 8 Der Anfuhrer eines Clans gibt ein besonders grosses Fest fur das gesamte Dorf Er kann sich das leisten weil er eine gute Ernte hatte Dieses Fest steigert sein Ansehen erheblich nun kann er fur seine Tochter besonders hohe Brautpreise verlangen Das durch die Brautpreise erworbene Mehrprodukt wird dazu genutzt um selber weitere Frauen zu erwerben Hierdurch erhoht sich einerseits das Ansehen seines Clans andererseits stehen durch die Frauen und von ihnen geborene Kinder jetzt mehr Arbeitskrafte zur Verfugung und es konnen mehr Guter fur die Feste produziert werden Diese wiederum erhohen das Ansehen des Anfuhrers dieses Clans noch mehr Merkmale Bearbeiten Konig Osei Tutu II des Aschanti Volkes in Ghana Sein Rang geht in mutterlicher Erbfolge auf das historische Aschanti Hauptlingstum zuruck Aufgrund des Mana Mechanismus nehmen die Stammesangehorigen an dass der Anfuhrer der prestigereichsten Abstammungsgruppe besonders gute Verhaltnisse zu den Ahnen Geistern und Gottern unterhalt Sie beginnen an seinem Hausaltar zu opfern Die Opfergaben gehen an die Abstammungsgruppe des Hauptlings Es kommt auch zu einer Rangordnung der Verwandtschaftsbeziehungen Die Abstammungsgruppe des Hauptlings gilt nun als die alteste des gesamten Gebietes die unmittelbar mit dem Grunderahnen oder den Geistern und Gottern verwandt ist Die anderen Abstammungsgruppen gelten nun als die Nachkommen der jungeren Sohne des Grunderahnens So entsteht aus einem System von mehreren ursprunglich gleichgestellten Abstammungsgruppen die untereinander durch Heiraten verbunden sind eine Ramage einer grossen Lineage ahnlich nach Raymond Firth oder eine kegelformige Clan Struktur nach Paul Kirchhoff 9 Darin besitzen die durch Heiratsregeln verbundenen Abstammungsgruppen eine hierarchisch gestaffelte Rangposition die durch ihren abstammungsmassigen Abstand zur prestigereichsten Gruppe im Zentrum beschrieben wird welche den Hauptling stellt Dabei ist es unerheblich wie die wirklichen Verwandtschaftsverhaltnisse aussehen Diese Konstellation bewirkt eine relativ dauerhafte Institutionalisierung der politischen Macht beim Hauptling und begunstigt die Vererbbarkeit seines Amtes meistens an seinen altesten Sohn Primogenitur Seine Nachkommen mussen nicht mehr besondere Heldentaten begehen um als Anfuhrer anerkannt zu werden es reicht nun wenn sie sich durch die Umverteilung von Gutern die ihnen durch Opferrituale und Brautpreise zufliessen Prestige verschaffen 10 Das Ansehen des Hauptlings kann sich weiter vergrossern denn er ist durch die ihm zur Verfugung stehenden Guter in der Lage seine zentrale Position im Netzwerk der Heiratsallianzen auszubauen durch kultische Veranstaltungen seiner Macht zusatzliche religiose Verstarkungen zu verschaffen eine Gefolgschaft zu erwerben die materiell und statusmassig von ihm abhangt und die auch bewaffnet sein kann damit erhalt der Hauptling tendenziell die Moglichkeit seine Entscheidungen auch bei Widerstreben der Beherrschten mit Befehlen zur Arbeit zum Kampf oder Glauben 11 durchzusetzen allerdings ist die Gefolgschaft in Hauptlingstumern zahlenmassig wegen geringer Ressourcen noch begrenzt Wahrend die Macht der Hauptlinge in diesem Prozess standig weiter zunimmt kann ein Teil der Abstammungsgruppen die gestiegenen Abgaben und Brautpreise nicht mehr bezahlen Sie konnen dann in den Status von Schuldsklaven des Hauptlings absinken Die zentrale Position des Hauptlings im Netz der Verwandtschaftsbeziehungen und der Religion fuhrt dazu dass er jetzt in starkerem Masse uber alle wichtigen Angelegenheiten der ganzen Ramage entscheidet So beaufsichtigt er den Produktionsprozess und mobilisiert Gruppen fur gemeinsame Arbeiten oder fur den Krieg gegen Nachbargebiete Allerdings gehoren ihm im Allgemeinen nicht die wichtigsten Produktionsmittel Im Gegensatz zu den segmentaren egalitaren Gesellschaften existiert im Hauptlingstum eine dauerhafte politische Macht die an ein vererbbares Amt gebunden ist Von staatlich organisierten Gesellschaften unterscheiden sich Hauptlingstumer dadurch dass noch kein Gewaltmonopol und kein ausreichend grosser Erzwingungsstab existiert mit dessen Hilfe die Zentralinstanz ihre Entscheidungen durchsetzen konnte Haufig konnen die Hauptlinge nicht einmal allein entscheiden sie sind auf die Mitwirkung des Stammes oder der Altesten angewiesen und mussen standig mit der Moglichkeit von Abspaltungen und Revolten rechnen 12 Entwicklung BearbeitenHauptlingstumer sind haufig expansiv und wollen sich ausdehnen sie entwickeln einen standig steigenden Bedarf an Arbeitskraften Denn nur wenn die Lineage oder der Clan des Hauptlings uber zahlreiche Arbeitskrafte verfugt kann sie ein Mehrprodukt erwirtschaften das fur seine zahlreichen Verpflichtungen ausreicht Neben der Ausbeutung der anderen Abstammungsgruppen des Hauptlingstums wird er versuchen durch Kriege gegen Nachbargebiete weitere Arbeitskrafte zu gewinnen Aus diesem Grund tendiert die Bevolkerung der Hauptlingstumer in ihrer Kernzone dazu rapide zu wachsen Zudem dehnen sie sich uber grossere Gebiete aus 13 Wenn die historischen und okologischen Bedingungen eine solche Expansion zulassen und fordern festigen sich die vertikalen Machtstrukturen und es konnen sich aus den Hauptlingstumern die ersten Formen der eigentlichen Staaten entwickeln Wenn dies nicht der Fall ist werden die Hauptlingstumer nach einer gewissen Zeit wieder zusammenbrechen Allerdings konnen sie sich danach auch wieder neu bilden Dies war zum Beispiel bei den Jingpo der Fall aber auch bei vielen Hauptlingstumern auf Pazifikinseln Siehe auch BearbeitenClan Chief Schottland Clanmutter Irokesen Indianer Literatur BearbeitenStefan Breuer Zur Soziogenese des Patrimonialstaates In Stefan Breuer Hubert Treiber Hrsg Entstehung und Strukturwandel des Staates Beitrage zur sozialwissenschaftlichen Forschung Band 38 Westdeutscher Verlag Wiesbaden 1982 ISBN 3 531 11609 6 S 163 227 PDF 7 6 MB 66 Seiten auf springer com Stefan Breuer Der archaische Staat Zur Soziologie charismatischer Herrschaft Reimer Berlin 1990 ISBN 3 496 00384 7 Robert L Carneiro The Chiefdom Precursor of the State In Grant D Jones Robert Kautz Hrsg The Transition to Statehood in the New World Cambridge University Press New York 1981 ISBN 0 521 17269 1 S 37 79 englisch Leseprobe in der Google Buchsuche Timothy K Earle Chiefdoms in Archaeological and Ethnohistorical Perspective In Annual Review of Anthropology Band 16 Oktober 1987 S 279 308 englisch doi 10 1146 annurev an 16 100187 001431 Timothy K Earle Hrsg Chiefdoms Power Economy and Ideology Cambridge University Press Cambridge 1997 englisch Jonathan Friedman Tribes States and Transformations In Maurice Bloch Hrsg Marxist Analyses and Social Anthropology Association of Social Anthropologists Studies Band 3 Wiley New York 1975 englisch Elsa M Redmond Hrsg Chiefdoms and Chieftaincy in the Americas University Press of Florida Gainesville 1998 englisch Besprechung von Timothy K Earle Frank Robert Vivelo Politische Fuhrer in segmentaren Gesellschaften Hauptlingstumer In Derselbe Handbuch der Kulturanthropologie Eine grundlegende Einfuhrung Klett Cotta Stuttgart 1981 ISBN 978 3 12 938320 9 S 202 203 US Original 1978 Weblinks Bearbeiten Wiktionary Hauptlingstum Bedeutungserklarungen Wortherkunft Synonyme Ubersetzungen Gabriele Rasuly Paleczek ad Hauptlingstum engl chiefdom PDF 221 kB 39 S Nicht mehr online verfugbar In Einfuhrung in die Formen der sozialen Organisation Teil 5 5 Institut fur Kultur und Sozialanthropologie Universitat Wien 2011 S 194 196 archiviert vom Original am 4 Oktober 2013 abgerufen am 13 Marz 2020 Unterlagen zu ihrer Vorlesung im Sommersemester 2011 Hans Rudolf Wicker Politische Fuhrungssysteme PDF 387 kB 47 S In Leitfaden fur die Einfuhrungsvorlesung in Sozialanthropologie 1995 2012 Institut fur Sozialanthropologie Universitat Bern 31 Juli 2012 S 40 42 Einzelnachweise Bearbeiten Walter Hirschberg Hrsg Worterbuch der Volkerkunde Neuausgabe 2 Auflage Reimer Berlin 2005 S Robert L Carneiro The Chiefdom Precursor of the State In Grant D Jones Robert Kautz Hrsg The Transition to Statehood in the New World Cambridge University Press New York 1981 ISBN 0 521 17269 1 S 37 79 hier S 45 englisch Seitenansicht in der Google Buchsuche A chiefdom is an autonomous political unit comprising a number of villages or communities under the permanent control of a paramount chief Susan Arndt Hauptling In Susan Arndt Nadja Ofuatey Alazard Hrsg Wie Rassismus aus Wortern spricht K Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache Ein kritisches Nachschlagewerk 2 Auflage Unrast Munster 2015 ISBN 978 3 89771 501 1 S 688 erstveroffentlicht 2011 Claude Meillassoux Die wilden Fruchte der Frau Uber hausliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft Syndikat Frankfurt am Main 1976 ISBN 3 8108 0010 4 S 80 Claude Meillassoux Die wilden Fruchte der Frau Uber hausliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft Syndikat Frankfurt am Main 1976 ISBN 3 8108 0010 4 S 79 ff Jonathan Friedman Tribes States and Transformations In Maurice Bloch Hrsg Marxist Analyses and Social Anthropology Wiley New York 1975 S 171 ff Stefan Breuer Zur Soziogenese des Patrimonialstaates In Stefan Breuer Hubert Treiber Hrsg Entstehung und Strukturwandel des Staates Westdeutscher Verlag Wiesbaden 1982 S 163 227 hier S 171 ff PDF 7 6 MB 66 Seiten auf springer com Jonathan Friedman Tribes States and Transformations In Maurice Bloch Hrsg Marxist Analyses and Social Anthropology Wiley New York 1975 S 170 Stefan Breuer Zur Soziogenese des Patrimonialstaates In Stefan Breuer Hubert Treiber Hrsg Entstehung und Strukturwandel des Staates Westdeutscher Verlag Wiesbaden 1982 S 163 227 hier S 180 PDF 7 6 MB 66 Seiten auf springer com Stefan Breuer Zur Soziogenese des Patrimonialstaates In Stefan Breuer Hubert Treiber Hrsg Entstehung und Strukturwandel des Staates Westdeutscher Verlag Wiesbaden 1982 S 163 227 hier S 184 PDF 7 6 MB 66 Seiten auf springer com Elias Canetti Masse und Macht Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1980 S 335 371 ISBN 3 596 26544 4 Stefan Breuer Zur Soziogenese des Patrimonialstaates In Stefan Breuer Hubert Treiber Hrsg Entstehung und Strukturwandel des Staates Westdeutscher Verlag Wiesbaden 1982 S 163 227 hier S 185 PDF 7 6 MB 66 Seiten auf springer com Jonathan Friedman Tribes States and Transformations In Maurice Bloch Hrsg Marxist Analyses and Social Anthropology Wiley New York 1975 S 180 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Hauptlingstum amp oldid 231572991