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Stamm im deutschen Sprach und Kulturraum auch speziell Volksstamm bezeichnet eine relativ wenig komplexe gesellschaftliche Organisationsform deren Mitglieder durch die oft mythische Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung sowie durch Sprache oder Dialekt Religion Brauchtum und Gesetz und auch durch politische Interessen zusammengehalten werden Von dieser Vorstellung eines Stammes unterscheiden die Politikwissenschaft und die Ethnologie die ubergeordnete Integrationsstufe des Staates Die Bezeichnung Stamm wird vor allem von Gegnern evolutionstheoretischer Ansatze einer tiefgreifenden Ideologiekritik unterzogen weitestgehend abgelehnt und gerne durch den Begriff Ethnie ersetzt 1 Unter Vertretern evolutionarer Theorien insbesondere des Neoevolutionismus wird er jedoch weiter an zentraler Stelle verwendet und ist auch sonst in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur haufig vorzufinden insbesondere in der Archaologie 2 und der Geschichtswissenschaft 3 Auch in der Ethnologie ist die Definition einer Volksgruppe als Stamm v a dann weiterhin aktuell vergleiche beispielsweise die Scheduled Tribes in Indien wenn sie sich an der Selbstidentifikation sowie der kulturellen religiosen und ethnischen Identitat der jeweiligen sozialen Gruppe orientiert Stamm ist allgemein von der biologischen Abstammungsgruppe Lineage zu unterscheiden 4 und entspricht beispielsweise auf Afrika bezogen der Ethnie die eine zwar gesellschaftlich konstruierte aber als real aufgefasste Einheit bildet Nach der ethnologischen Systematisierung beziehen sich die Mitglieder eines Clans auf einen mythischen Vorfahren oder auf ein Totem wahrend auf der darunter folgenden Ebene der Abstammungsgruppen ein mehr oder weniger klar feststellbarer biologischer oder geschichtlicher Stammvater oder eine Stammmutter genannt wird Auf der daruber liegenden Ebene des Stammes ist das einigende Prinzip eher abstrakter Art Sprache Religion Brauchtum Gesetz so auch bei den deutschen Stammen obwohl auch hier gelegentlich mythische Ahnen zitiert werden etwa bei den Stammen Israels Stamme schlossen sich zu Stammesverbanden oder Grossstammen zusammen vergleiche Stammeskonfoderation Stammesgesellschaft die dann teils als eigenes Volk bezeichnet werden etwa das Volk der Franken wahrend von Volkern ansonsten erst bei der Vereinigung von verschiedenen Stammen zu einer Nation gesprochen wird Volk der Deutschen Inhaltsverzeichnis 1 Begriffsgeschichte 2 Antike Gesellschaft 3 Evolutionismus 4 Funktionalismus 5 Primordialismus 6 Begriffskritik 7 Nutzlichkeit des Stammesbegriffs 8 Literatur 9 Siehe auch 10 Weblinks 11 EinzelnachweiseBegriffsgeschichte BearbeitenDer Begriff Stamm als ein organisierter Verband innerhalb eines Volkes taucht an prominenter Stelle bei den Zwolf Stammen Israels im 2 Buch Mose auf Die ubergeordnete Einheit des Volkes wird hier eingeschrankt als Geschichtsmythos verwendet im Sinne eines Stammesverbands mit einer fur alle Mitglieder gemeinsamen Abstammung 5 Indem die israelitischen Stamme eine gemeinsame Sprache und Kultur innerhalb eines geschlossenen Siedlungsgebietes herausbildeten entwickelten sie ein eigenes sich nach aussen abgrenzendes Zusammengehorigkeitsgefuhl Hier machte sich die Vorstellung eines Stammvaters fest Der nachfolgende geschichtliche Prozess mit dem sich eine Gruppe von Menschen von anderen abgrenzt und zu einem Volk zusammenfindet wird als Ethnogenese bezeichnet Sprachlich und bildhaft ist die Abstammung mit dem Baumstamm verbunden dem von seinem Ursprung her aus dem Samen Aste gewachsen sind Hierbei kommt es sprichwortlich zur Aufzweigung anfanglich einer einzigen Linie vergleiche lineare Verwandtschaft Diese doppelte Bedeutung beinhaltet auch das lateinische stirps das sowohl botanisch die Wurzel oder den Stamm als auch die Nachkommen einer Familie oder Herkunftslinie bezeichnet beispielsweise die des Aeneas Das Wort Stamm bildete sich in der entsprechenden Bedeutung uber das Mittelhochdeutsche stam aus dem Althochdeutschen liutstam Das englische Wort tribe und das franzosische tribu beginnen mit der Silbe tri drei vom lateinischen Wort tribus das eine Einteilung der Bevolkerung des antiken Roms in drei Abteilungen meinte Im Zuge der Christianisierung Britanniens ebenfalls von der romischen Besatzungsmacht importiert bezog sich das englische tribe auch auf die Zwolf Stamme Israels Die Vorstellung dieser Stamme ging unmittelbar in die Reisebeschreibungen des 17 und 18 Jahrhunderts ein zusatzlich begannen die damaligen Ethnologen den Begriff Stamm im Sinne einer Einteilung oder Gliederung der Volker in den besuchten fremden Landern anzuwenden Die hierbei miteinbezogene evolutionistische Betrachtungsweise stand teilweise noch stark unter dem Einfluss der biblischen Erzahlungen jedoch boten auch Autoren des klassischen Griechenlandes einen Fixpunkt Sie beschrieben die Struktur ihrer eigenen Gesellschaft unter anderem als in Trittyen Drittel gegliedert und grenzten sie so gegenuber den Gemeinwesen der mutmasslich desorganisierteren Barbaren ab k 1 Die nachromischen germanischen Bevolkerungsgruppen in Mitteleuropa wie Alamannen und Langobarden werden wegen ihres geringen staatlichen Organisationsgrades als Stamme bezeichnet Im Mittelalter gab es in Deutschland auf dem Weg zur Nationenbildung unter anderem Stammesabgrenzungen zwischen den Friesen Sachsen Thuringern Franken Schwaben und Baiern 6 Im Lauf des 19 Jahrhunderts erhielt Stamm fur die gegenwartigen Gesellschaften die allgemeine Bedeutung einer einfach und ursprunglich organisierten Untergruppe einer vorzugsweise aussereuropaischen Gesellschaft vergleiche Stammesgesellschaft Dementsprechend definiert ein Worterbucheintrag von 1965 den Stamm als eine besonders bei den Naturvolkern in den Vordergrund tretende ethnische Einheit die Menschen gleicher Sprache und gleicher Kultur zu einem autonomen Territorialverband zusammenschliesst Das Wort Verwandtschaft kommt in diesem Text nicht vor 7 Antike Gesellschaft BearbeitenGrundlegend fur die anthropologische Theoriebildung im 19 Jahrhundert war die Untersuchung der griechisch romischen Antike Im antiken Griechenland war die Phyle Stamm Volk eine organisatorische Untereinheit des Staates Genos Pl gene bezeichnete eine Verwandtschaftsgruppe Die Phratrie bildete eine ubergeordnete Einheit die sich auf einen mythischen Ahnen bezog Eine gesellschaftliche Klassifikation beinhaltet Genos Geschlecht Familiengruppe Phratrie Trittys als Untergliederung der Phyle und Ethnos Volk Die gene waren endogam die Heiratsgemeinschaft schloss also nicht den gesamten Stamm ein Ursprunglich war die Gliederung in gene aber wohl auf die Aristokratie beschrankt Diese Gliederung lag auch der militarischen Organisation zugrunde In der Ilias 2 101 empfiehlt Nestor Ordne die Manner nach Stammen und nach Phratrien dass die Phratrie der Phratrie beistehe und der Stamm dem Stamme In Attika gab es vier Stamme zu je drei Phratrien und dreissig gene Diese Stamme leiteten ihre Abstammung auf einen eponymen Heros zuruck sind aber kunstlich geschaffene politische und administrative Einheiten In den athenischen Rat der 400 entsandte jeder Stamm 100 Mitglieder Wer kein Mitglied eines Stammes war hatte folglich keine politischen Rechte Seit der Reform des Kleisthenes spielte der Stamm keine Rolle mehr in der politischen Organisation er teilte Attika in Gemeindebezirke Demen ein die furderhin die politische Grundeinheit bildeten Zehn dieser Demen wurden zu einem Stamm zusammengefasst der nun aber uber den Wohnort und nicht uber die tatsachliche oder angenommene Abstammung definiert war Der Stamm wahlte den Phylarch Stammesfuhrer Strategos und Taxiarchos Brigadier stellte funf Kriegsschiffe fur die Flotte und wahlte 50 Mitglieder fur die Ratsversammlung Auch diese Stamme erhielten einen eponymen Heros zugeteilt fur dessen Kult sie verantwortlich waren In Rom waren ebenfalls gentes Sg gens zu einem Stamm tribus zusammengeschlossen Der Sage nach wurde Rom von einem latinischen einem sabellischen und einem gemischten Stamm begrundet die alle aus jeweils hundert gentes bestanden Jeweils zehn gentes bildeten eine curia Pl curiae die meist der griechischen Phratrie gleichgesetzt wird Der Senat war aus den Vorstehern dieser 300 gentes zusammengesetzt In der Reform des Servius Tullius wurden neue gentes gebildet hier wird deutlich dass es sich um politische Einheiten handelte die aber weiterhin auf Verwandtschaftsbeziehungen begrundet waren In beiden Fallen Kleisthenes Phylenreform und der Kurienbildung wurde durch Neuorganisation die Stammesgesellschaft in ein staatliches Gebilde transformiert Evolutionismus BearbeitenIn der zweiten Halfte des 19 Jahrhunderts erschienen einige fruhe Standardwerke der anthropologischen Literatur darunter 1861 von Johann Jakob Bachofen Das Mutterrecht und 1877 von Lewis Henry Morgan Ancient Society Urgesellschaft Die Autoren vertraten ein evolutionistisches Modell fur das sie nach den Ursprungen der Gesellschaft suchten Obwohl sie in ihren Schlussfolgerungen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen uber die ursprunglichen Gesellschaftsformen kamen sahen sie doch alle den Anfang der gesellschaftlichen Organisation in der Familie Aus dieser Keimzelle hatten sich die umfassenderen Strukturen entwickelt fur deren Beschreibung sie aus der antiken Gesellschaft entlehnte Begriffe auf die sogenannten primitiven Volker ubertrugen Unabhangig davon ob eine leicht erkennbare patrilineare oder eine nur aus Ruckschlussen ableitbare matrilineare Abstammungsfolge gefunden wurde entscheidend war die Annahme dass eine gemeinsame einlinige Abstammung unilinear die Grundlage der gesellschaftlichen Organisation bildete Das lateinische Wort gens bezeichnete noch bei Theodor Mommsen Romische Geschichte 1854 56 nach dem romischen Familienrecht eine blutsverwandte Sippe deren geradlinige Abstammungsfolge zu eindeutigen Rechtsverhaltnissen fuhren sollte Die gentes bildeten in diesem Sinne die Grundlage fur die Definition von Volksstamm Erst spater wurde klar dass in den romischen gentes haufig konstruierte Traditionen weitergegeben wurden die in der Summe das Modell einer Gesellschaft ergaben Fur Henry Sumner Maine Ancient Law 1861 und andere musste die aus Verwandtschaftsbeziehungen hervorgegangene Gesellschaftsstruktur nicht zwingend auf der biologischen Reproduktion beruhen Er erkannte auch quasi fiktive Verwandtschaften die nur auf einem gemeinsamen Geschichtsmythos beruhten Den ursprunglichen Zustand vor Einfuhrung der staatlichen Ordnung glaubten die Autoren bei den indigenen Volkern beobachten und auf diese das antike Vokabular ubertragen zu konnen k 2 Die Entwicklung des evolutionaren Abstammungsmodells fiel zeitlich mit dem europaischen Kolonialismus zusammen In den unter ihre Herrschaft gestellten Gebieten benutzten die Kolonialherren vielerorts die Methode des indirect rule Vorhandene Machtstrukturen wurden ausgenutzt um Stammesalteste und lokale Oberhaupter mit Verwaltungsaufgaben zu betrauen Manche Ansprechpartner der Kolonialbeamten erhielten eine zuvor nicht gekannte Machtfulle sobald sie im Sinne der zentralen Verwaltung agierten Die ursprunglich kulturelle Einheit des Stammes wurde nun als politische Organisationsform innerhalb von neu geschaffenen kolonialstaatlichen Strukturen zementiert 8 Die in der Mitte des 20 Jahrhunderts entstandenen Theorien von der multilinearen Evolution erweitern die Vorstellungen von einer unilinearen Evolution indem sie okonomische und okologische Einflusse als die Kultur pragenden Faktoren hinzunehmen Einen entscheidenden Einfluss der Umwelt fur die gesellschaftliche Entwicklung hob Julian Steward 1902 1972 in seiner Cultural Ecology Kulturokologie hervor Dessen Schuler Elman Service Primitive Social Organization An Evolutionary Perspective 1962 klassifizierte die Evolution nach altem Schema aber mit neuen Argumenten nach ihrem politischen Organisationsgrad in die vier Stufen band society herrschaftslose wenig organisierte Kleingruppen in Clan Grosse Stamm formalisierte Fuhrungsstrukturen regelmassige Altestenversammlungen Hauptlingstum durch Verwandtschaftsbeziehungen gepragte hierarchische Gesellschaft und Staat zentralisiert hierarchisch hoch organisiert Funktionalismus BearbeitenDie Abstammung als Grundlage fur die Formierung einer Gesellschaft blieb als anthropologische Vorstellung erhalten auch wenn die evolutionistischen Theorien bald kritisiert und sie in der britischen funktionalistischen Anthropologie durch ein Modell der gleichzeitigen Systeme ersetzt wurden Die Funktionalisten lehnten die bisherigen psychologischen Interpretationen ab und versuchten stattdessen aus Einzelbeobachtungen allgemeine Gesetzmassigkeiten abzuleiten 9 Zu ihren Vertretern zahlten Bronislaw Malinowski Argonauts of the Western Pacific 1922 Alfred Radcliffe Brown Andaman Islanders 1922 und Edward E Evans Pritchard Letzterer verglich in der zusammen mit Meyer Fortes verfassten Einfuhrung des sozialanthropologischen Klassikers African Political Systems 1940 zwei in Afrika ausgemachte unterschiedliche gesellschaftliche Kategorien miteinander Ihre Grundannahme war nicht mehr die historische Abfolge sondern die gleichzeitige Existenz zentralisiert organisierter und segmentarer auf einem Verwandtschaftssystem beruhender Gesellschaften Evans Pritchard zeigte die integrative Kraft von Stammeseinheiten Lineages die keine ubergeordnete politische Herrschaftsstruktur kannten bei den sudanesischen Nuer und den Azande parallel forschte sein Kollege Godfrey Lienhardt bei den Dinka Der Stamm wurde nicht als Verwandtschaftsgruppe und ohne einheitliche Definition als eine gesellschaftliche Einheit aufgefasst die souveran uber ein bestimmtes Gebiet Macht ausubt Fur Evans Pritchard lag der Gruppenzusammenhalt der Hirtenvolker vor allem in der wirtschaftlichen Notwendigkeit begrundet sich im Kampf um Weidegebiete gegen andere Gruppen behaupten zu mussen Lienhardt betonte die Wirkmacht der Rituale bei diesen Auseinandersetzungen um die naturlichen Ressourcen Beide beschrieben die politische Rolle des Stammes als einer Kampfgemeinschaft die von ihren Mitgliedern Solidaritat einfordert 10 Primordialismus BearbeitenDie Theorie der ursprunglichen Bindung Primordialismus von der ersten Ordnung her sieht das Individuum durch bestimmte Pragungen seit ewiger Zeit mit einer Gruppe unveranderlich verbunden Unabhangig vom raumlichen und zeitlichen Umfeld soll die als statisch gedachte ethnische Zugehorigkeit des Einzelnen zu einer Gruppe bei der Betrachtung von aussen erkennbar sein Zu den verbindenden Elementen gehoren Verwandtschaftsbeziehungen biologische Merkmale sowie eine gemeinsame Sprache und Geschichte Anhand dieser objektiv festgelegten Kriterien die als quasi naturgegeben betrachtet werden erfolgt die ethnische Zuordnung Zu den Hauptvertretern der strengen soziobiologischen Richtung des Primordialismus gehoren Pierre L van de Berghe 1933 und Richard Dawkins 1941 die den Ethnien einen biologisch genetischen Ursprung unterstellen 11 Den ursprunglichen kulturhistorischen Ausgangspunkt der Ethnizitat vertritt auch der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz der in den 1960er und 1970er Jahren in der marokkanischen Kleinstadt Sefrou Feldforschungen betrieb Zur selben Zeit entwickelte ebenfalls in Marokko sein Gegenspieler Ernest Gellner das Modell einer segmentaren Stammesorganisation 12 Der pragenden Bedeutung der unilinearen Deszendenz der Herkunft aus einer Abstammungslinie mass Gellner wenig Bedeutung bei seine Theorie ist eine eigene Weiterentwicklung des von Evans Pritchard bei den schwarzafrikanischen Nuer entwickelten Konzepts der Segmentation Einschrankend wird darauf hingewiesen dass die Ideologie des abgeschlossenen Stammes kein objektives Kriterium sondern nur ein kunstliches von den Stammesmitgliedern selbst beschworenes Modell ist das den tatsachlichen Beziehungen nur unzureichend entspricht k 3 Begriffskritik BearbeitenEin grundsatzlicher Kritikpunkt am Stammesbegriff bezog sich auf die unscharfe Definition und mangelnde Abgrenzung gegenuber Volk Clan oder Sippe Morton Fried zahlte nach seiner ersten Untersuchung einer chinesischen Gesellschaft Fabric of Chinese Society A Study of the Social Life of a Chinese county Seat 1967 in The Notion of Tribe 1975 die bisherige Begriffsverwendung als Sprachgruppe Verwandtschaftsgruppe kulturelle okonomische oder politische Einheit auf Er zog als der am weitesten gehende Kritiker die Schlussfolgerung dass die Stammesdefinitionen schlicht Konstruktionen von Anthropologen fur unterhalb von staatlichen Organisationen liegenden zweitrangigen sozialen Phanomene seien Daneben gabe es den Stamm als eine romantische mythenbehaftete Vorstellung von edlen Wilden Fried stellte den Stammesbegriff im gesellschaftspolitischen Diskurs als unbrauchbar bloss ohne jedoch eine Alternative anbieten zu konnen 13 Ab Mitte der 1960er Jahre geriet die Gegenuberstellung von traditionellem Stamm und modernem Staat allgemein in Verruf der Stamm wurde als anthropologischer Terminus uberwiegend fur unbrauchbar und ideologisch behaftet erklart Gelegentlich fullte ein anderer Terminus etwa tribale Gesellschaft zur Beschreibung desselben Sachverhalts die Lucke Besonders die mitschwingende Auffassung von Stamm als einer ursprunglichen Gesellschaftsform stiess auf Ablehnung weil in ihr das evolutionare Geschichtsbild weiterhin tradiert wurde k 4 Zur sozialwissenschaftlichen Kritik am Begriff gehorte dessen Verwendung im kolonialen Zusammenhang Besonders in Afrika sind durch die Installation lokaler Fuhrer Stammeseinheiten geschaffen worden die es vorher so nicht gab Traditionell zeitlich befristete wenig und nur in Teilbereichen einflussreiche Hauptlinge einer Gemeinschaft wurden als Ansprechpartner der Kolonialverwaltung mit einer Macht ausgestattet die zu strukturellen Machtverschiebungen fuhren konnten Ein Beispiel ist Marokko das 1912 vertraglich unter franzosische Protektoratsverwaltung kam Die uberwiegend in den Bergen des Atlas lebenden Berber erhielten gegenuber der arabischen Mehrheitsbevolkerung eine rechtliche Bevorzugung die 1930 mit dem dahir berbere Berberdekret erneut bestatigt wurde Damit sollten Berberstamme die ihren Widerstand gegen die franzosische Herrschaft aufgegeben hatten assimiliert werden Die Schuld an den gesellschaftlichen Problemen vieler unabhangig gewordener afrikanischer Staaten wurde in der Weiterexistenz vorkolonialer Stammesidentitaten gesehen deren Konservierung den Kolonialmachten angelastet wurde Das Wort Tribalismus fasste praktisch samtliche Fehlentwicklungen zusammen Aus der marxistischen Sicht Maurice Godeliers in den 1970er Jahren war das grundsatzliche Problem die Bedeutung die den Verwandtschaftsbeziehungen fur die Bildung der Gesellschaften beigemessen wurde Dies wurde den Blick auf die strukturellen Zusammenhange verstellen die fur die gesellschaftlichen Beziehungen verantwortlich seien und die durch ein neo strukturalistisches Konzept offengelegt werden konnten Insgesamt verschwand der Stamm aus der gesellschaftspolitischen Diskussion wahrend das Wort bis heute weiterhin haufig in den Medien in seiner alten vorurteilsbehafteten Bedeutung als griffige Erklarung fur alle Arten von Wirtschaftskrisen und Strukturproblemen in Drittweltlandern verwendet wird k 5 insbesondere auch im Zusammenhang mit den arabischen Revolutionen seit Anfang des Jahres 2011 14 Nutzlichkeit des Stammesbegriffs BearbeitenIn der anthropologischen Diskussion um den Ursprung und die Entwicklungsstufen von Gesellschaften hat sich der Stammesbegriff als wenig brauchbar und ideologisch behaftet erwiesen uberdies wurden vermeintlich eindeutige Abgrenzungen gesellschaftlicher Einheiten als problematisch erkannt Eine ahnliche Bedeutungsunscharfe besitzt jedoch auch der Begriff der Ethnizitat Beidesmal wird die von der Gruppe selbst vorgenommene Grenzziehung und behauptete kollektive Identitat zusammen mit der Fremdzuschreibung Aussenwahrnehmung untersucht Ethnizitat beschreibt die kulturellen Eigenheiten als Entwicklungsprozess innerhalb der jeweiligen Tradition die den spezifischen Rahmen bildet k 6 Die Beschreibung bestimmter lokaler Gesellschaftsformen als Stamme besitzt nach wie vor eine in Fachkreisen weitgehend unbestrittene Bedeutung 15 Sinnvoll ist die Verwendung des Stammesbegriffs unter anderem fur islamische Gesellschaften in Nordafrika und im Nahen Osten fur Sudasien und fur die Indianer Nordamerikas Mit dem Wort Stamm im Sinne von abgegrenzten Gesellschaftsgruppen die sich meist in patrilinearer Abstammung auf einen gemeinsamen Vorfahren beziehen werden aus den Sprachen der Region ubersetzt arabisch qabila oder ʿasira daraus turkisch asiret und kurdisch esiret turkisch persisch il sowie das in mehreren Turksprachen vorkommende tayfa Menschen bezeichnen sich als Angehorige eines Stammes dem sie sich neben der Identifikation uber eine Abstammungslinie in kultureller religioser und politischer Hinsicht verbunden fuhlen Um die historische Entwicklung zu verstehen wie in einer durch Stamme organisierten gesellschaftlichen Lebensform Staaten entstehen und wieder zerfallen konnen braucht man jedoch uber die Selbstzuschreibungen der Stamme hinausgehende theoretische Erklarungsmodelle k 7 Die Stamme existieren seit Jahrhunderten und definieren uber deutlich benannte Kriterien ihre kollektive Identitat Die Macht der Stamme kann so weit gehen dass sie innerhalb ihres Gebietes den Einfluss des Staates auf ein Minimum zuruckgedrangt haben und der Staat nach dem Prinzip des indirect rule mit den Stammesaltesten kooperiert Die pakistanische Provinz Belutschistan ist ein Musterbeispiel fur eine Stammesherrschaft 16 In den kurdischen Gebieten in der Turkei und im Irak hat der Einfluss der Stammesfuhrer trotz der gleichzeitigen Urbanisierung seit den 1980er Jahren zugenommen 17 In Nordafrika und im Nahen Osten mit einer uberwiegend islamischen Bevolkerung sind es in den meisten Fallen Muslime die sich mit Stammeseinheiten identifizieren wahrend die christlichen Minderheiten in zahlreiche Sekten zersplittert sind die fur ihre Mitglieder den gesellschaftlichen Zusammenhalt bilden Der vom Islam erhobene universale religiose und politische Fuhrungsanspruch vertragt sich ideologisch nicht mit dem Streben der Stamme nach politischer Selbstbestimmung Dennoch sehen sich auch streng islamische Gemeinschaften wie die Paschtunen in Pakistan und Afghanistan in der Lage ihre Stammesidentitat mit den Forderungen ihrer Religion zu verbinden In der Rechtsprechung mussen Gewohnheitsrecht und Scharia vereinbart werden Auch in den ubrigen gesellschaftlichen Bereichen gilt es das universale Glaubenssystem den lokalen Gegebenheiten anzupassen Vielfach erweist sich der Islam dabei als absorbierend pragmatisch und flexibel 18 Literatur BearbeitenFriedrich Engels Der Ursprung der Familie des Privateigenthums und des Staats In Marx Engels Werke Band 21 Berlin 1973 S 25 173 original Zurich 1884 Morton Herbert Fried The notion of tribe Cummings Menlo Park 1975 englisch Jonathan Friedman Tribes States and Transformations In Maurice Bloch Hrsg Marxist Analyses and Social Anthropology Association of Social Anthropologists Studies Band 3 Wiley New York 1975 S 161 202 Sarah C Humphreys Anthropology and the Greeks Routledge London u a 1978 englisch insbesondere Kapitel 8 Wolfgang Kraus Islamische Stammesgesellschaften Tribale Identitaten im Vorderen Orient in sozialanthropologischer Perspektive Bohlau Wien u a 2004 ISBN 3 205 77186 9 PDF Downloadangebot auf oapen org Bruno Kruger Stamm und Stammesverband bei den Germanen in Mitteleuropa In Zeitschrift fur Archaologie Band 20 Nr 1 1986 S 27 37 Adam Kuper The invention of primitive society Transformations of an illusion Routledge London 1988 englisch Reinhard Wenskus Stammesbildung und Verfassung Das Werden der fruhmittelalterlichen gentes Bohlau Koln Graz 1961 Siehe auch Bearbeiten f Themenliste Politikethnologie Ubersicht im Portal Ethnologie Tuath und Irische Hochkonige Kleinkonig bzw Stammesfuhrer Herzogtum bzw Stammesherzogtum Weblinks Bearbeiten Commons Stamme tribes Sammlung von Mediendateien Wiktionary Stamm Wiktionary Volksstamm Bedeutungserklarungen Wortherkunft Synonyme Ubersetzungen Wikiquote Volksstamm ZitateEinzelnachweise Bearbeiten k Wolfgang Kraus Islamische Stammesgesellschaften Tribale Identitaten im Vorderen Orient in sozialanthropologischer Perspektive Bohlau Wien Koln Weimar 2004 ISBN 3 205 77186 9 PDF Downloadangebot auf oapen org S 28 31 S 34 36 S 138 139 sowie 143 144 S 19 und 371 S 38 42 S 42 und 371 S 43 44 und 48 49 Sonstige Belege Roy Richard Grinker Houses in the Rainforest Ethnicity and Inequality Among Farmers and Foragers in Central Africa University of California Press 1994 S 12 There is already a vast and critical literature on the theoretical and methodological problems of tribe and tribalism and the replacement of these terms with ethnic group and ethnicity Zusammenfassend auch beispielsweise Wolfgang Kraus Islamische Stammesgesellschaften Tribale Identitaten im Vorderen Orient in sozialanthropologischer Perspektive Bohlau Wien u a 2004 S 27 ff Beispielsweise Colin Renfrew Paul G Bahn Archaeology Theories Methods and Practice Thames and Hudson New York 2008 englisch Beispielsweise Malcolm Todd The Early Germans 2 Auflage Wiley Blackwell 2004 englisch Wolfgang Kraus Zum Begriff der Deszendenz Ein selektiver Uberblick In Anthropos Band 92 Heft 1 3 1997 S 139 163 vgl Christa Schafer Lichtenberger Stamm Stammesgesellschaft Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet Marz 2011 Jukka Jari Korpela Nationen und Stamme im mittelalterlichen Osteuropa Ihre Bedeutung fur die Konstituierung eines nationalen Bewusstseins im 19 Jahrhundert In Karl Kaser Dagmar Gramshammer Hohl u a Hrsg Wieser Enzyklopadie des europaischen Ostens Band 12 Wieser Klagenfurt 2002 S 696 761 PDF 507 kB 66 Seiten auf uni klu ac at Walter Hirschberg Hrsg Worterbuch der Volkerkunde Kroners Taschenausgabe Band 205 Kroner Stuttgart 1965 DNB 455735204 S 416 Christian Flatz Kultur als neues Weltordnungsmodell Oder die Kontingenz der Kulturen Lit Munster 1999 ISBN 978 3 8258 4257 4 S 83 84 Wilhelm Milke Der Funktionalismus in der Volkerkunde In Carl August Schmitz Hrsg Kultur Akademische Reihe Auswahl reprasentativer Originaltexte Akademische Verlagsgesellschaft Frankfurt am Main 1963 S 95 114 hier S 98 Erstveroffentlichung 1937 Christian Sigrist Regulierte Anarchie Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentaren Gesellschaften Afrikas Kulturelle Identitat und politische Selbstbestimmung in der Weltgesellschaftm Band 12 Lit Munster 2005 ISBN 978 3 8258 3513 2 S 83 Denis Gruber Zuhause in Estland Eine Untersuchung zur sozialen Integration ethnischer Russen an der Aussengrenze der Europaischen Union Lit Munster 2008 ISBN 978 3 8258 1396 3 S 30 32 Wolfgang Kraus Contestable Identities Tribal Structures in the Moroccan High Atlas In The Journal of the Royal Anthropological Institute Band 4 Nr 1 Marz 1998 S 1 22 hier S 2 englisch Peter T Suzuki Tribe Chimeric or Polymorphic In Stud Tribe Tribals Band 2 Nr 2 2004 S 113 118 hier S 114 PDF 33 kB 6 Seiten auf krepublishers com Ingrid Thurner Die Auferstehung von Karl May im arabischen Fruhling In DiePresse com 7 September 2011 abgerufen am 14 Januar 2020 Wolfgang Kraus Segmentierte Gesellschaft und segmentare Theorie Strukturelle und kulturelle Grundlagen tribaler Identitat im Vorderen Orient In Sociologus Neue Folge New Series Band 45 Nr 1 1995 S 1 25 hier S 2 Boris Wilke Governance und Gewalt Eine Untersuchung zur Krise des Regierens in Pakistan am Fall Belutschistan SFB Governance Working Paper Series Nr 22 November 2009 S 20 PDF 731 kB 56 Seiten auf sfb governance de Memento vom 22 Dezember 2009 im Internet Archive Martin van Bruinessen Innerkurdische Herrschaftsverhaltnisse Stamme und religiose Bruderschaften epd Dokumentation In Evangelischer Pressedienst Juli 2003 S 9 14 ISSN 0935 5111 PDF 80 kB 9 Seiten auf vol at Clifford Geertz Religiose Entwicklungen im Islam Beobachtet in Marokko und Indonesien Suhrkamp Frankfurt Main 1988 S 34 Normdaten Sachbegriff GND 4138634 6 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Stamm Gesellschaftswissenschaften amp oldid 228285402