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Die Leute von Seldwyla ist ein zweiteiliger Novellenzyklus des Schweizer Dichters Gottfried Keller Die ersten funf Novellen Teil I schrieb Keller 1853 1855 in Berlin nieder sie erschienen 1856 im Vieweg Verlag Weitere funf Teil II entstanden in mehreren Schuben zwischen 1860 und 1875 d h grosstenteils wahrend Kellers Amtszeit als Staatsschreiber in Zurich Das gesamte Werk erschien 1873 1875 in der Goschen schen Verlagsbuchhandlung Es umfasst zehn Lebensbilder so der Arbeitstitel wahrend der Berliner Entstehungszeit die durch einen gemeinsamen Schauplatz die fiktive Schweizer Stadt Seldwyla zusammengehalten werden Bis auf Romeo und Julia auf dem Dorfe eine Adaption der Shakespearschen Tragodie sind die Seldwyler Geschichten Komodien in Novellenform mit stark satirisch groteskem Einschlag Die Leute von Seldwyla gilt als Meisterwerk der deutschsprachigen Erzahlkunst des 19 Jahrhunderts und als reprasentativ fur die Stilrichtung des poetischen Realismus Zwei der Novellen Romeo und Julia auf dem Dorfe und Kleider machen Leute gehoren zur Weltliteratur und den meistgelesenen Erzahlungen der deutschsprachigen Literatur Sie dienten mehrfach als Vorlage fur Filme und Opern wurden in viele Sprachen ubersetzt und sind in einer kaum uberschaubaren Zahl von Ausgaben verbreitet Titelblatt des Erstdrucks 1856 Verlagsanzeige mit der Ankundigung der erweiterten Ausgabe 1873 Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt von Teil I 1 1 Einleitung 1 2 Pankraz der Schmoller 1 3 Romeo und Julia auf dem Dorfe 1 4 Frau Regel Amrain und ihr Jungster 1 5 Die drei gerechten Kammmacher 1 6 Spiegel das Katzchen 2 Inhalt von Teil II 2 1 Einleitung 2 2 Kleider machen Leute 2 3 Der Schmied seines Gluckes 2 4 Die missbrauchten Liebesbriefe 2 5 Dietegen 2 6 Das verlorne Lachen 3 Erlauterungen zu Gehalt und Rezeption 3 1 Literaturgeschichtliches 3 2 Humor 3 3 Realismus 4 Literatur 5 Einzelnachweise 6 WeblinksInhalt von Teil I BearbeitenEinleitung Bearbeiten Seldwyla bedeutet nach der alteren Sprache einen wonnigen und sonnigen Ort und so ist auch in der Tat die kleine Stadt dieses Namens gelegen irgendwo in der Schweiz Sie steckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Turmen wie vor dreihundert Jahren und ist also immer das gleiche Nest die ursprungliche tiefe Absicht dieser Anlage wird durch den Umstand erhartet dass die Grunder der Stadt dieselbe eine gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt zum deutlichen Zeichen dass nichts daraus werden solle Aber schon ist sie gelegen mitten in grunen Bergen die nach der Mittagseite zu offen sind so dass wohl die Sonne herein kann aber kein rauhes Luftchen Deswegen gedeiht auch ein ziemlich guter Wein rings um die alte Stadtmauer wahrend hoher hinauf an den Bergen unabsehbare Waldungen sich hinziehen welche das Vermogen der Stadt ausmachen denn dies ist das Wahrzeichen und sonderbare Schicksal derselben dass die Gemeinde reich ist und die Burgerschaft arm und zwar so dass kein Mensch zu Seldwyla etwas hat und niemand weiss wovon sie seit Jahrhunderten eigentlich leben 1 Mit dieser satirischen Schilderung leitet Keller die Charakteristik seiner Seldwyler ein Sie sind fast schon sudlandisch temperamentvoll stets lustig und zu Vergnugungen aufgelegt und nicht wenig leichtsinnig Was ihnen fehlt ist Sparsamkeit Zielstrebigkeit und ausdauernder Gewerbefleiss Lieber lassen sie andere Leute fur sich arbeiten spekulieren mit Wertpapieren und leben auf Borg Doch das Paradies des Kredits steht ihnen nur offen solange sie jung sind So bildet die Jugend bis Mitte dreissig den eigentlichen Kern und den Glanz des Volkes Danach wenn bei anderen die fruchtbringenden Jahre beginnen sind die Seldwyler fertig zahlungsunfahig fuhren als Falliten Bankrotteure ein Schattendasein und lernen nachtraglich arbeiten und zwar jene krabbelige Arbeit von tausend kleinen Dingen fur die man nicht ausgebildet ist So verdienen sie leidlich ihr Brot und nehmen an den Lustbarkeiten der im Flor stehenden Mitburger nur noch als Zaungaste teil Die Tuchtigsten aber verlassen die Stadt treten nach Schweizer Tradition in fremde Kriegsdienste oder ziehen abenteuernd durch ferne Lander sodass man in den verschiedensten Weltteilen Seldwyler treffen kann die sich alle dadurch auszeichnen dass sie sehr geschickt Fische zu essen verstehen in Australien in Kalifornien in Texas wie in Paris oder Konstantinopel In ihren vielen Wirtshausern betreiben die Seldwyler neben Kegeln und Kartenspiel auch die Politik mit Leidenschaft besonders zu Zeiten der Kreditklemme und wenn der Ruf nach Verfassungsanderung von Seldwyla ausgeht so weiss man im Lande dass im Augenblicke dort kein Geld zirkuliert Da sie die Abwechslung lieben fuhlen sie sich in der Opposition am wohlsten Sind im Lande gerade Fortschrittsleute am Ruder so scharen sie sich um den frommen Stadtpfarrer uber den sie sonst spotteln sind es Konservative halten sie sich zum radikalen Schullehrer sind es liberale Juristen und Geldmanner so stimmen sie fur den nachstbesten Sozialisten Doch wenn sie mit ihren Umtrieben der Landesmehrheit allzu sehr auf die Nerven fallen setzt die Regierung ihnen eine Finanzprufungskommission ins Rathaus worauf sie eine Weile Ruhe geben Am wenigsten taugen die Seldwyler wenn ihr neuer Wein gart am meisten wenn sie aus ihrem gemutlichen Lumpennest herausgerissen und auf sich gestellt sind Damit ist der Erzahler bei seinem Programm In einer so lustigen und seltsamen Stadt kann es an allerhand seltsamen Geschichten und Lebenslaufen nicht fehlen da Mussiggang aller Laster Anfang ist Doch nicht die gewohnlichen Begebenheiten halt er fur merkwurdig und erzahlenswert sondern einige sonderbare Abfallsel wie sie allerdings nur zu Seldwyla vor sich gehen konnten Pankraz der Schmoller Bearbeiten nbsp Der Offizier von Algier kommt heim Radierung von Kellers Jugendfreund Johann Salomon Hegi HauptartikelGleich die erste Geschichte handelt von einem Ausreisser Der junge Pankraz weiss in Seldwyla nichts mit sich anzufangen und qualt seine arme Mutter und Schwester mit standigem Beleidigtsein Mit vierzehn lauft er davon wird Soldat in der britischen Kolonialarmee bewahrt sich und verlernt das Schmollen Als er sich jedoch in die Tochter seines Vorgesetzten verliebt Lydia eine schone aber hinterhaltige Salonlowin erleidet er einen Ruckfall Schmollend verlasst er Indien tritt in den Dienst der franzosischen Fremdenlegion und bringt es in Algerien zum Oberst Mit siebenunddreissig Jahren kehrt er zuruck sonnenverbrannt und eine Lowenhaut im Gepack Er erzahlt Mutter und Schwester von Lydia und wie er unter Lebensgefahr zu der Lowenhaut gelangte Auf einsamer Jagd hing er in Gedanken der Verflossenen nach sah sich nicht vor und wurde von dem Lowen gestellt Nach stundenlangem Ausharren in Gluthitze Aug in Auge mit der Bestie entdeckten und retteten ihn Kameraden seit welchem Glucksfall er sich wie neugeboren von Schmollerei und altem Liebeskummer kuriert fuhlt Romeo und Julia auf dem Dorfe Bearbeiten nbsp Sali und Vrenchen nach einem Gemalde von Ernst Stuckelberg HauptartikelAn einen wirklichen Vorfall anknupfend erzahlt Keller Shakespeares Romeo und Julia neu und verlegt dazu die Handlung ins 19 Jahrhundert und in die Schweiz Unweit Seldwylas pflugen zwei reiche Bauern ihre Felder Dabei eignen sie sich Furche um Furche den Acker eines Armen an Im Streit um diesen Besitz werden sie zu erbitterten Feinden geraten in die Hande von Seldwyler Advokaten und ruinieren in jahrelangen Prozessen ihre Hofe Ihr Hass zerstort auch das Leben ihrer Kinder Sali und Vrenchen lieben sich ohne Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft Sie beschliessen zusammen einen einzigen schonen Tag zu verbringen und sich dann zu trennen Doch am Ende dieses Tages konnen sie nicht mehr voneinander lassen und nehmen sich gemeinsam das Leben Frau Regel Amrain und ihr Jungster Bearbeiten HauptartikelDie Geschichte einer Alleinerziehenden Frau Regula Amrain hat von auswarts eingeheiratet Ihr Mann ein echter Seldwyler ist vor seinen Glaubigern nach Amerika entflohen und hat ihr drei Sohne und einen uberschuldeten Steinbruch hinterlassen Diesen rettet sie macht ihn mit Hilfe eines jungen Werkmeisters rentabel und bewahrt ihre Sohne davor die allgemeine Seldwyler Marschrichtung einzuschlagen Hohepunkt der Erzahlung Ihr jungster Sohn Fritz kaum funfjahrig verteidigt sie ritterlich gegen die Zudringlichkeit des Werkmeisters den es nach der schonen Frau und dem gutgehenden Betrieb gelustet Als Fritz heranwachst revanchiert die Mutter sich fur diesen Dienst und befreit den Sohn aus den Handen einiger Seldwylerinnen von zweifelhaftem Ruf eine Lektion uber erotische Erziehung der weitere uber politische Erziehung folgen Zum Schluss gibt es eine Uberraschung Herr Amrain kehrt zuruck Die drei gerechten Kammmacher Bearbeiten nbsp Zus Bunzlin predigt den drei Kammmachern Holzschnitt von Ernst Wurtenberger Hauptartikel Die Leute von Seldwyla haben bewiesen dass eine ganze Stadt von Ungerechten oder Leichtsinnigen zur Not fortbestehen kann im Wechsel der Zeiten und des Verkehrs die drei Kammmacher aber dass nicht drei Gerechte lang unter einem Dach leben konnen ohne sich in die Haare zu geraten 2 Die Rede ist von drei deutschen Handwerksgesellen die es nach Seldwyla verschlagen hat Alle drei gleich fleissig ordentlich und genugsam verfolgt jeder nur das eine Ziel seinem Meister die Kammmacherei abzukaufen Dafur schuften sparen und rennen sie schliesslich miteinander um die Wette Die Hauptrolle in der Geschichte spielt aber die wohlredende Jungfer Zus Bunzlin Besitzerin eines Wertpapiers einer gewissen Bildung und auch sonst nicht ohne Reize Die drei Gesellen liegen ihr zu Fussen und flehen sie an sich fur einen von ihnen zu entscheiden Doch Zus hat ein grausam falsches Herz und treibt zwei von ihnen ins Verderben Der dritte bekommt zwar was er will die Jungfer und die Kammmacherei wird aber unter Zus Pantoffel seines Lebens nicht mehr froh Spiegel das Katzchen Bearbeiten nbsp Spiegel die Eule und die Hexe Kreidezeichnung von Frank Buchser HauptartikelDiese Geschichte tragt den Untertitel Ein Marchen und spielt im spaten Mittelalter Der Kater Spiegel landet nach dem Tode seiner Herrin auf der Strasse Dort begegnet er dem Seldwyler Stadthexenmeister Pineiss der zu seiner Hexerei den Schmer das Fett von Katzen braucht Um nicht zu verhungern schliesst der Kater mit ihm einen Vertrag Pineiss verpflichtet sich Spiegel herauszufuttern Spiegel muss sich dafur zwecks Schmergewinnung schlachten und auskochen lassen sobald er fett genug ist Doch als es ihm an den Kragen geht erzahlt der schlaue Kater dem Hexenmeister die Geschichte von einem Goldschatz den nur er Spiegel heben kann Mit Hilfe seiner Freundin einer Eule gelingt ihm das und am Ende erhalt Pineiss als Preis fur Spiegels Freiheit viel Gold und eine liebliche junge Ehefrau Diese aber verwandelt sich in der Hochzeitsnacht in seine verhasste Nachbarin die fromme Beghine die in Wirklichkeit eine uble Hexe ist Mit viel Kunst hat Keller Spiegels Erzahlung vom Goldschatz als klassische Liebesnovelle im Stile des Decamerone ausgefuhrt Inhalt von Teil II BearbeitenEinleitung Bearbeiten Seit die erste Halfte dieser Erzahlungen erschienen streiten sich etwa sieben Stadte im Schweizerlande darum welche unter ihnen mit Seldwyla gemeint sei 3 und da nach alter Erfahrung der eitle Mensch lieber fur schlimm glucklich und kurzweilig als fur brav aber unbeholfen und einfaltig gelten will so hat jede dieser Stadte dem Verfasser ihr Ehrenburgerrecht angeboten fur den Fall dass er sich fur sie erklare Der angetragenen Ehrung mit der die Stadte angeblich hartnackig fortfahren sich ihres Homers schon bei dessen Lebzeiten versichern zu wollen entzieht sich der Verfasser ironisch diplomatisch indem er rat Seldwyla als eine ideale Stadt zu betrachten welche nur auf den Bergnebel gemalt sei und mit ihm weiterziehe auch uber die Grenzen des Vaterlandes hinaus Im Ubrigen habe der rasche Wandel der Welt die Auffalligkeit Seldwylas beseitigt Besonders sei es die uberall verbreitete Spekulationsbetatigung in bekannten und unbekannten Werten welche den Seldwylern ein Feld eroffnet hat das fur sie wie seit Urbeginn geschaffen schien und sie mit Einem Schlage Tausenden von ernsthaften Geschaftsleuten gleichstellt Mit heutigen Begriffen Seldwyla globalisiert sich indem der Globus sich seldwylisiert Allerdings fahrt Keller fort gehe dabei gerade das was die Seldwyler sympathisch macht verloren Sie verlernen das Lachen zum Lustigsein fehlt ihnen die Zeit und zur Politik der Mut Denn Schon sammelt sich da und dort einiges Vermogen an welches bei eintretenden Handelskrise zwar zittert wie Espenlaub oder sich sogar still wieder auseinander begibt wie eine ungesetzliche Versammlung wenn die Polizei kommt Kurz die Seldwyler sehen immer mehr wie andere Leute aus Grund fur den Verfasser mit dem zweiten Band aus den guten lustigen Tagen der Stadt noch eine kleine Nachernte zu halten Dabei geraten auch andere Stadte in sein Blickfeld zunachst das solide und gediegene Goldach 4 Kleider machen Leute Bearbeiten nbsp Keller als Kunststudent im Strapinski schen Radmantel HauptartikelNach Goldach wandert der schlesische Schneidergeselle Wenzel Strapinski nachdem er bei einem Seldwyler Konkurs Arbeitsplatz und ausstehenden Lohn verloren hat Da er in einer herrschaftlichen Kutsche eintrifft ein mitleidiger Kutscher hat ihn aufgeladen und wegen seiner guten Kleider und Manieren halten die Goldacher ihn fur einen polnischen Grafen im Exil Mehrmals versucht Strapinski sich der aufgedrungenen Rolle durch Flucht zu entziehen Doch dann verliebt er sich in Nettchen die hubsche Tochter des Goldacher Amtsrats Als das Paar zur Feier seiner Verlobung einen Ball gibt erscheint ein Fastnachtszug aus Seldwyla Motto Kleider machen Leute und entlarvt den falschen Grafen Wenzel flieht in die Winternacht hinaus Doch Nettchen folgt ihm zieht ihn halb erfroren aus dem Schnee und bekennt sich zu ihm nachdem sie sich uberzeugt hat dass er sie liebt Die beiden fliehen nach Seldwyla den dortigen Narren zum Trotz und setzen gegen heftigen Goldacher Widerstand ihre Heirat durch Fast bricht laut Erzahler uber der Affare ein neuer Trojanischer Krieg aus als namlich die Goldacher mit Polizeikraften heranrucken und die Seldwyler sich zusammenrotten um sich Nettchens grosses Vermogen nicht entgehen zu lassen Mit diesem grundet Wenzel tatsachlich ein Atelier schneidert den Seldwylern feine Kleider und lasst sie zu ihrem Missfallen ordentlich dafur bezahlen Der Schmied seines Gluckes Bearbeiten HauptartikelMit wenigen gezielten Meisterschlagen schmiede der rechte Mann sein Gluck meint Hans Kabis und andert seinen Namen in John Kabys um sich einen angelsachsisch unternehmenden Nimbus zu geben Doch das Gluck bleibt aus und nach einigen weiteren Fehlschlagen findet sich John in einem Winkel Seldwylas als Inhaber einer kleinen Barbierstube wieder Dort erfahrt er eines Tages dass in Augsburg ein steinreicher alter Vetter von ihm lebt Er schliesst sein Geschaft reist hin und gewinnt das Vertrauen des Herrn Litumley Da dieser schon zum dritten Mal kinderlos verheiratet ist erklart er John testamentarisch zu seinem naturlichen Sohn und Erben Nun konnte der Barbier zufrieden sein Doch um sein Gluck recht an die Wand zu nageln lasst er sich mit der jungen Ehefrau seines Gonners ein Eines Tages ist der Alte besonders guter Laune und schickt Kabys auf eine Studienreise er soll sich in Fragen vornehmer Kindererziehung kundig machen Als John nach ein paar Monaten zuruckkehrt quakt im Haus ein Baby Strahlend teilt Litumley ihm mit dass seine Frau ihm einen Stammhalter geschenkt hat und dass das Testament vernichtet ist John protestiert bezichtigt Madame Litumley des Ehebruchs worauf der Alte ihn hinauswirft Mit dem Rest seines Reisegeldes kehrt der Glucksschmied nach Seldwyla zuruck kauft dort eine kleine Schmiede und lernt Nagel machen Die missbrauchten Liebesbriefe Bearbeiten HauptartikelDer erfolgreiche Gemischtwarenhandler und Freizeitliterat Viggi Storteler hat die Idee seine Frau zur Muse auszubilden Wahrend einer Geschaftsreise schickt er ihr hochtrabende Liebesbriefe und befiehlt ihr diese im selben Stil zu beantworten Gritli kann das nicht und verfallt in ihrer Not darauf die Briefe abzuschreiben und an den Schulmeister Wilhelm zu richten Dieser ein schwarmerischer junger Mensch wundert sich zwar uber das geschwollene Zeug halt sich aber fur geliebt und antwortet mit feurigen Wortergussen welche Gritli erneut abschreibt und an Viggi richtet Schon hat der Literat einen Buchtitel fur die taglich dicker werdende Briefsammlung ausgedacht da fliegt der Schwindel auf Viggi tobt verlangt die Scheidung und verliert unter dem Gelachter der Seldwyler seine hubsche Frau samt ihrem Zugebrachten Der arme Wilhelm aber verliert seine Stelle Beschamt zieht er sich in die Einsamkeit zuruck um die Geliebte zu vergessen Doch bei Gritli hat es ebenfalls gezundet Sie sucht ihn stellt ihn auf die Probe und die beiden werden ein Paar Viggi findet eine neue Muse in Katter Ambach einem stadtbekannten Blaustrumpf Sie hilft ihm den Rest seines Vermogens durchzubringen weiss dafur aber seine Geistesgrosse zu schatzen Dietegen Bearbeiten nbsp Der Armbrustschutze Holzschnitt von Ernst Wurtenberger HauptartikelDie Geschichte fuhrt wieder ins spate Mittelalter zuruck Am Nordhang des Seldwyler Waldgebirges liegt die finstere Stadt Ruechenstein Deren ganzer Stolz ist eine eigene Blutgerichtsbarkeit Diese uben die Ruechensteiner fleissig aus und machen dabei gern kurzen Prozess so mit Dietegen einem Waisenknaben den sie des Diebstahls einer silbernen Kanne bezichtigen die dieser gegen eine Armbrust eingetauscht hatte Just am Tage als sie mit den Seldwylern die Beilegung einer langen Fehde feiern fuhren sie den Elfjahrigen zum Galgen Den Gasten vergeht die Frohlichkeit Sie brechen auf und begegnen unterwegs dem Karren mit dem Armesundersarglein Da entdeckt die siebenjahrige Kungolt dass der Knabe noch lebt Seldwyla erhalt ihn zum Geschenk und Kungolts Familie nimmt ihn an Kindesstatt an Zusammen wachsen Dietegen und Kungolt prachtig heran er liebt sie und macht ihr den Beschutzer obwohl sie ihn ofters krankt denn sie betrachtet ihn als ihr personliches Eigentum wie sie uberhaupt Anlagen zur Herrsch und Gefallsucht zeigt Als sie damit grosses Unheil anrichtet und neuen Unfrieden zwischen den Nachbarstadten stiftet gibt Dietegen sie fur verloren und sturzt sich in wilde Kriegsabenteuer Im Feldlager erreicht ihn die Nachricht dass die Ruechensteiner Kungolt gefangen haben und sie der Hexerei anklagen Ohne Zogern macht er sich auf den Weg und rettet sie nach altem Rechtsbrauch indem er sie vom Schafott weg heiratet Nun stehen die beiden auf gleichem Fusse und werden ein gluckliches Paar Das verlorne Lachen Bearbeiten HauptartikelAnders als in der Einleitung angekundigt spielt die letzte Geschichte im modernen Seldwyla Das Lachen das verloren geht und wiedergefunden wird ist Ausdruck des frohlichen Naturells zweier wohlgearteten und glucklichen Menschen Jukundus und Justine er Offizier im Schweizer Heer und Fahnentrager des Seldwyler Sangervereins sie Tochter der schwerreichen Familie Glor Seidenfabrikanten in Schwanau 5 Auf einem Sangerfest verlieben sie sich und heiraten nachdem Jukundi den jungsten Sohn der Glors in einer Duellaffare klug beraten und so die Bedenken der Familie gegen seine Mittellosigkeit und Herkunft aus dem Lumpennest zerstreut hat Im Kontor der Seidenfabrik aber zeigt sich dass es ihm an kaufmannischer Schlaue und Harte fehlt Uberdies verhalt er sich kuhl gegen die kirchliche Reformbewegung fur die Justine sich engagiert Es kommt zum Ehestreit Er kann ein Wort das ihr dabei herausrutscht nicht ertragen und verlasst auf der Stelle das Glorsche Haus Fortan verschwindet aus beider Zugen das gewinnende Lacheln Getrennt gehen sie ihrer Wege sie religiose er politische und erkennen diese erst als Irrwege als zwei offentliche Erschutterungen eintreten Eine Handelskrise bringt das Glorsche Unternehmen an den Rand des Ruins und Justine zur Einsicht dass ihr das Reformchristentum keinen Halt bietet Eine Volksbewegung der Jukundus sich gutglaubig angeschlossen hat artet zu einer Verleumdungskampagne aus und zeigt dabei ihr wahres Gesicht Erschreckt macht jedes sich auf Gewissheit uber sein Tun und Selbst zu erlangen und dabei kreuzen sich zufallig ihre Wege Unverhofft stehen sie voreinander und fallen sich in die Arme Wahrend ihrer Aussprache stellt sich auch das Lachen wieder ein als er sie namlich bittet das trennende Schimpfwort zu wiederholen Sie spricht es als Kosewort aus und sagt zu ihm Lumpazi Erlauterungen zu Gehalt und Rezeption BearbeitenLiteraturgeschichtliches Bearbeiten Seldwyla auf den Bergnebel gemalt gehort mit Nephelokokkygia und Laputa zu den Stadten zwischen Himmel und Erde Eine civitas dei helvetica nannte es Walter Benjamin 6 wohl weil es Ziel heftiger Sehnsucht ist ungeachtet der mangelnden Gottseligkeit seiner Bewohner Deren bedenkliche Eigenschaften hindern indessen nicht dass die Stadt im Wechsel der Zeiten und des Verkehrs fortbesteht als walte darin jene unsichtbare Hand welche die Lebenskraft eines Gemeinwesens aus der moralischen Unzulanglichkeit seiner Burger erwachsen lasst Georg Lukacs fuhlte sich durch Seldwyla an den Gegenentwurf zum tugendreichen Utopia erinnert Mandevilles paradoxen Bienenstaat aus der Fruhzeit der liberalen Gesellschaftstheorie 7 Mit Abdera Schilda etc gehort Seldwyla auch zu den Narrenstadten In jeder der zehn Novellen attackiert der Erzahler eine oder mehrere Narrheiten meist durch satirische Zeichnung oder ironischen Kommentar selten lehrhaft moralisch 8 Der Zyklus stellt sich somit als spater Nachfahre der Narrenliteratur dar 9 Zugleich beansprucht er einen Platz in der Geschichte der erotischen Literatur Alle Seldwylergeschichten sind Liebesgeschichten oder enthalten solche im Kern Dass beide Gattungen zusammenhangen belegt seit dem Mittelalter die Vielzahl von Facetien Schwanken und Fastnachtsspielen Auch im Decamerone und im Don Quijote Kellers Lieblingsbuch gehen Narrheit und Verliebtheit Hand in Hand Dank Kellers ausgedehnten Lekturestreifzugen in die Literatur des 17 und 18 Jahrhunderts standen viele Werke dieser Epoche bei der Entstehung der Leute von Seldwyla Pate Im Zeitalter der Aufklarung und der beginnenden Romantik hatte sich nicht zuletzt unter dem Eindruck der Narrenfiguren Cervantes und Shakespeares das Bild des Narren grundlich gewandelt Die derb witzige Narrenschelte nach dem Vorbild von Sebastian Brants Narrenschiff war aus der Mode gekommen und mit ihr die grobschlachtige an den Katalog der Todsunden angelehnte Einteilung der Narrheiten Der Narr als Phantast der die Moglichkeiten der Welt tiefer erkennt indem er ihre Wirklichkeit scheinbar verkennt beanspruchte philosophisches Interesse 10 Die Gesellschaftskritiker des 18 Jahrhunderts Erben der humanistischen Moralistik entdeckten die phantastische Erzahlung als Mittel der Satire Mit Vorliebe schlupften sie in das Gewand von Reisenden wie Gulliver erkundeten darin imaginare Lander und absurde Stadte wie Laputa um von solchermassen ver ruckten Standorten aus die Sitten und Einrichtungen ihrer Heimat zu beleuchten Die Scharfe ihrer Kritik richtete sich nun gegen die scheinbar Klugen und Gerechten die ihre Wohlangepasstheit an vernunftwidrige Verhaltnisse mit Heuchelei und Bigotterie d h mit dem Opfer von Verstand und Menschenwurde erkaufen In diesem Geiste dem Swifts und Molieres schuf Keller die drei gerechten Kammmacher die Jungfer Bunzlin ein weibliches Pendant zum Tartuffe den Hexenmeister Pineiss den Erbschleicher Kabys den Mochtegern Patrizier Litumley den schriftstellernden Erznarren Storteler Keller war ein Literatursatiriker von hohen Graden 11 die Ruechensteiner Finsterlinge und den intellektuell unredlichen Reformgeistlichen im Verlornen Lachen Mehrere dieser Figuren erinnern auch ans Muster der romantischen Satire auf den Philister Der hofliche Kater Spiegel dagegen als Anti Philister stilisiert tragt Zuge eines honnete homme im Sinne des aufklarerischen Personlichkeitsideals Wieder eine andere oft ubersehene Richtung aufklarerischer Gesellschaftskritik die Wirtschaftssatire kommt zum Zuge wo sich der Erzahler uber den Schlendrian der Seldwyler lustig macht Indem er ihrem faulen Kreditverkehr den auf wirkliche Produktion gegrundeten Erwerb Frau Amrains gegenuberstellt folgte er einem von Pestalozzi und Gotthelf angesponnenen Faden Uber das politische Treiben der Seldwyler fallt sein Spott in Teil I vergleichsweise milde aus 1856 ist Keller mit den vaterlandischen Zustanden im Grossen und Ganzen noch zufrieden 12 Umso freier lasst er ihm in der Schlussnovelle des Zyklus 1874 unter gewandelten Verhaltnissen die Zugel schiessen Nicht alles was in den Leuten von Seldwyla als Narrheit gegeisselt wird ist zum Lachen Wahrend der Erzahler mit torichten Verliebten meist glimpflich verfahrt kennt er der Besitzwut gegenuber keine Nachsicht Dies gilt besonders fur Romeo und Julia auf dem Dorfe der einzigen Geschichte mit tragischem Ausgang Hier figurieren die Vater als Narren jedoch im Sinne des mittelalterlichen Narrenbildes als ruchlose Narren 13 deren Handeln so lacherlich es ist angesichts seiner absehbaren Folgen jede Heiterkeit im Keim erstickt Umgekehrt ist nicht alles was in den Leuten von Seldwyla Heiterkeit erregt narrisches oder auch nur unkluges Verhalten Uber den kleinen Amrain wenn er den zudringlichen Werkmeister in die Flucht schlagt lacht man aber man lacht ihn nicht aus Man erfreut sich an der Schelmerei Vrenchens wenn es einer Bauersfrau vorschwindelt Sali sei sein Brautigam und habe das grosse Los gewonnen oder an der Koketterie von Gritlis attraktiver Freundin wenn sie Wilhelm auf die Feuerprobe stellt Geradezu chaplinesk wirkt Wenzel Strapinski wenn er der Goldacher Hautevolee ein nicht ganz stubenreines Liedchen vortragt dessen polnische Worte er selber nicht versteht Uber dieser Art von Komik frei von aggressivem Spott wird oft die andere maliziose Seite des Kellerschen Humors ubersehen was eine Klarung notig macht Humor Bearbeiten Ich sage Ihnen das grosste Ubel und die wunderlichste Komposition die einem Menschen passieren kann ist hochfahrend bettelarm und verliebt zu gleicher Zeit zu sein und zwar in eine elegante Personnage Keller 1855 an Hermann Hettner 14 dd Dem Autor der Leute von Seldwyla auf den Leib geschrieben scheint Freuds Bestimmung des Humors als der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs 15 Von Nahrungs und Kleidungssorgen Schulden und Schuldgefuhlen gepeinigt in standigem Kampf mit seinem Verleger 16 schwer an der Schweizerkrankheit Heimweh leidend und endlich gar noch hoffnungslos verliebt schrieb Keller wahrend seines funfjahrigen Berliner Aufenthaltes den autobiographischen Roman Der grune Heinrich In den Pausen dieser schmerzhaften Beschaftigung mit dem eigenen Ich erfand er sich zur Erholung eine heimatliche Stadt bevolkerte sie mit anderen Ichs versetzte diese in allerlei prekare Lagen und beobachtet interessiert ihre Auftritte ihr Gebaren die Weise wie sie sich den Gesetzen des Weltlaufs widersetzten oder fugten Keller war nach Berlin gekommen um Stuckeschreiber zu werden sein Interesse war das des Dramatikers Kaum lag der letzte Band des Romans im Fruhjahr 1855 druckfertig vor brachte der Dichter das zumeist nur gedanklich Ausgesponnene in wenigen Monaten zu Papier Teil I der Seldwyler Geschichten Selbsterlebtes findet sich stark verhullt darin zuhauf Biographischer Stoff der nicht ins Romankonzept passte wurde ausgegliedert mit Gehortem und Gelesenem kombiniert durch freie Erfindung erganzt pointiert und den Novellen einverleibt so die Liebesenttauschung in Pankraz der Schmoller die einzige Ich Erzahlung des Zyklus mit Zugen eines kurzgefassten Entwicklungsromans so Kellers schon langer zuruckliegendes Abenteuer als Freischarler in Frau Regel Amrain er lasst es dem zwanzigjahrigen Fritz zur Lehre dienen so auch die qualende Auseinandersetzung mit dem Verleger in Spiegel das Katzchen der Autor verkauft um nicht zu verhungern sein Leben einem nur auf Schmer erpichten Hexenmeister Auch Teil II des Zyklus enthalt Kellerschen Lebenstoff andeutungsweise und subtil in Kleider machen Leute die Gefuhle eines unfreiwilligen Hochstaplers bei der Entlarvung konnte Keller nachvollziehen hatte er seinen Zurcher Forderern doch hochfahrend angekundigt in Berlin Theaterruhm zu erwerben und war damit gescheitert massiv und unubersehbar im Verlornen Lachen fast ein Schlusselroman in welchem der Politiker Keller Erfahrungen niederlegte die er wahrend seiner Amtszeit gemacht hatte Im Grunen Heinrich schildert der Erzahler die Befriedigung die es ihm als Kind gewahrte Schicksal zu spielen Der Knabe Heinrich zeichnet auf einen Papierbogen die vier Weltgegenden Zonen und Pole Himmelsraume Menschen und Geister Erde Holle Zwischenreich Seine Lieben und sich selbst lasst er in heiteren Gefilden spazieren seine Widersacher aber verbannt er in die Holle Je nach dem Verhalten der Menschen veranderte ich ihre Stellungen beforderte sie in reinere Gegenden oder setzte sie zuruck wo Heulen und Zahneklappern herrschte Manchen liess ich prufungsweise im Unbestimmten schweben sperrte auch wohl zwei die sich im Leben nicht ausstehen mochten zusammen in eine abgelegene Region indessen ich zwei Andere die sich gern hatten trennte um sie nach vielen Prufungen zusammenzubringen an einem gluckseligeren Orte Ich fuhrte so ganz im Geheimen eine genaue Ubersicht und Schicksalsbestimmung aller mir bekannten Leute jung und alt 17 Nicht viel anders verfahrt der Autor Keller mit Seldwylern und Seldwylerinnen wenn er ihnen je nach Verdienst das passende Gespons zuteilt dem Hexenmeister die Hexe dem Schneidergesellen die Amtsratstochter Wieder liefert eine Bemerkung Freuds hierzu den Kommentar Der Erwachsene kann sich darauf besinnen mit welchem hohen Ernst er einst seine Kinderspiele betrieb und indem er nun seine vorgeblich ernsten Beschaftigungen jenen Kinderspielen gleichstellt wirft er die allzuschwere Bedruckung durchs Leben ab und erringt sich den hohen Lustgewinn des Humors 18 Dem Schriftsteller fur den das Ausdenken von Lebenslaufen alltaglicher Berufsernst ist bietet der Humor uber die private Lustpramie hinaus noch einen weit grosseren Vorteil Er ermoglicht ihm uber seinen Schatten als modern subjektiver sentimentalischer Dichter zu springen und wieder auf antike Weise homerisch naiv zu dichten 19 Wie sehr sich Keller dessen bewusst war zeigt die Anspielung auf Homer in der Einleitung zum Teil II des Zyklus Fur einen Augenblick tritt hier der Autor vor den Vorhang und bekennt sich ironisch als allwissender objektiver in einem wohlgefugten Kosmos heimischer Erzahler Sonst treibt er sein Wesen eher hinter den Kulissen Unauffalliger noch als das Kind im Marchen von des Kaisers neuen Kleidern aber ebenso aufmerksam fasst er die Szene ins Auge erkennt was gespielt wird und spricht es ungeniert aus Die unvergleichliche Frische der Leute von Seldwyla 20 ihre Lebenswahrheit und Aktualitat verdankt sich dieser humoristisch erzeugten Naivitat In der Mehrzahl lobten die zeitgenossischen Rezensenten der Leute von Seldwyla Kellers Humor 21 Wo er seine unversohnliche Seite hervorkehrte ging allerdings manchem der Spass zu weit 22 Tiefer in das bedenkliche Grotten und Hohlensystem im Untergrund der Texte drang erst Benjamin vor und offnete damit den Blick fur das Groteske bei Keller 23 Die verbreitete Tendenz sich allein an die sonnige goldene Seite seines Humors zu halten und von der dunklen abzusehen kritisierte Lukacs Der Humor Kellers ist mit der Unerbittlichkeit seiner Moral und seiner kunstlerischen Kompositionsweise eng verknupft Er ist kein ruhrseliges Verstandnis fur menschliche Schwachen keine lachelnde Verschonerung der Hasslichkeit der Prosa des Lebens wie bei den meisten seiner deutschen Zeitgenossen Kellers Humor grabt das Wesen bestimmter Typen aus deren verborgene Lacherlichkeit dadurch enthullt und ins Monumentale gesteigert wird Und Keller gibt jede auf diese Weise entlarvte Wesenlosigkeit oder Niedrigkeit einem schonungslosen homerischen Gelachter preis In dieser Art ist Keller ebenso grausam wie Shakespeare Cervantes oder Moliere Und er ahnelt ihnen auch darin dass er die komischen Seiten sonst tuchtiger sonst von ihm bejahter Figuren ebenfalls schonungslos dem Gelachter preisgibt mag die betreffende Figur ihm noch so sehr ans Herz gewachsen sein Denn diese Sympathie beruht ebenso auf der Wirklichkeit auf miterlebten Handlungen einer solchen Figur auf in diesen offenbar werdenden menschlichen Eigenschaften wie jene komischen Zuge deren unerbittliche Darstellung unser Lachen hervorruft Gerade die allseitige und realistische Darstellung des Menschen ermoglicht eine solche widerspruchsvoll vielseitige Stellung des Lesers zu den dichterischen Gestalten 24 Realismus Bearbeiten Im Streit ums literarische Erbe des 19 Jahrhunderts der nach 1945 zwischen Literaturwissenschaftlern der verfeindeten politischen Lager schwelte wurde auch der Schweizer Homer verhandelt Es ging dabei um den Abbildcharakter von Dichtung die Widerspiegelungstheorie und damit zusammenhangend die Erklarungskraft des Begriffes Realismus Im Osten verstand man zumindest Teil I der Leute von Seldwyla als Abbild von weitreichender Typik und tiefem Wirklichkeitsgehalt 25 Es zeige die noch vorwiegend kleinstadtische halb landliche Welt der Schweiz und weiter Teile Deutschlands in dem Augenblick da erste Wirkungen des in den Metropolen entfesselten kapitalistischen Prozesses sie erreichten Anders als seine deutschen Zeitgenossen zeichne Keller den Kleinburger jedoch nicht als kauzigen Individualisten der dem schwindenden Idyll nachtrauert Vielmehr stelle er das Kleinburgertum als gesellschaftliches Phanomen dar als Klasse in Bewegung mit dem fur sie typischen Hin und Hergerissensein zwischen Fortschritt und Reaktion 26 Dank seiner Wurzeln in der urwuchsigen Schweizer Demokratie Lukacs 27 und als Citoyen einer weltoffenen Republik mit regem politischen Leben 28 sei er weit davon entfernt eine romantisch antikapitalistische Position zu beziehen und ebenso weit davon die kapitalistische Gesellschaftsform kritiklos zu bejahen oder gar literarisch zu glorifizieren 29 Keller war damit als kritischer burgerlicher Realist eingeordnet der in seinem fruhen Schaffen alle Moglichkeiten eines vormarxistischen Geschichtsverstandnisses wahrgenommen habe 30 Im Westen pflegte man unterdessen die werkimmanente Interpretation sah von biographischen und gesellschaftlichen Bezugen weitgehend ab und untersuchte dafur Strukturen von Dichtungen und die Funktion der dichterischen Einbildungskraft Die Befunde der ostlichen Germanistik stiessen auf das Argument dass der Dichter die Wirklichkeit nicht einfach widerspiegle Mimesis sie vielmehr erst erzeuge Poesis indem er im Dargestellten das Uberzeitliche allgemein Menschliche zur Geltung bringe und dabei mit dem Unvollkommenen Allzumenschlichen humorvoll versohne Keller war damit als poetischer Realist eingeordnet ein Etikett welches geeignet war die Scharfe seiner Zeit und Gesellschaftskritik vergessen zu lassen 31 Der Autor der Leute von Seldwyla selbst hat seine Auffassung vom Poetischen in einer knappen Vorbemerkung zu Romeo und Julia auf dem Dorfe niedergelegt Dichter erfinden viel weniger als gemeinhin angenommen sie finden vor Die dichterischen Fabeln der grossen alten Werke sind nicht der Phantasie entsprungen sie ereignen sich draussen im wirklichen Menschenleben und zwar immer wieder neu in zeitbedingt wechselnder Verkleidung Aufgabe des Poeten ist sie zu entdecken und festzuhalten wozu es allerdings Phantasie braucht Uber dichterische Figuren etwa den Don Quijote dachte er nicht anders 32 Es gibt diese Typen die Fauste die Don Juans die Falstaffs in Wirklichkeit Wenn die Dichter sie nicht beschrieben hatten existierten sie genauso nur die Literatur ware dann armer und wahrscheinlich auch die Sprache Die Kellerschen Leute sind kleine Leute leben auf kleinem Fusse und wie immer sie sich benehmen heldenhaft oder schurkisch grossmutig oder kleinkariert sie passen in das fur sie entworfene Gehause die Kleinstadt Seldwyla Der Autor hat seine Version der menschlichen Komodie eben nicht romanhaft breit sondern novellenhaft schlank abgeliefert Dafur hatte er didaktisch und politisch gefarbte kunstlerische Grunde 33 Diese analysierte wog und billigte gerade der von Hegel Marx Balzac und Tolstoi an grosse historische Massstabe gewohnte Georg Lukacs 34 Dagegen sahen manche Kritiker in Kellers Hinwendung zum Kleinen nicht die Beschrankung des Meisters sondern Unvermogen aus kleinburgerlicher kleinmeisterlicher Befangenheit So nach Kellers Worten Conrad Ferdinand Meyer Es ist schade um Ihre Gabe des Stils Sie verschwenden ihn an niedrige Stoffe an allerlei Lumpenvolk Ich arbeite nur mit der Historie kann nur Konige Feldherren und Helden brauchen Dahin sollten Sie streben 35 Keller liess sich davon nicht beirren Einem Schriftstellerkollegen der meinte ihn ermutigen zu mussen antwortete er Die Ermahnung am Schlusse wichtigere oder grossere Gegenstande zu besingen will ich zu befolgen suchen obgleich mir allmahlig alles gleich gross vorkommt 36 Literatur BearbeitenGottfried Keller Die Leute von Seldwyla Goschen Stuttgart 1873 74Textausgaben Gottfried Keller Die Leute von Seldwyla Text und Kommentar Hrsg von Thomas Boning Deutscher Klassiker Verlag suhrkamp insel Frankfurt am Main 2006 ISBN 978 3 618 68010 9 Gottfried Keller Die Leute von Seldwyla Hrsg von Bernd Neumann Reclam Verlag Ditzingen 1993 ISBN 978 3 15 006179 4Darstellungen Walter Benjamin Gottfried Keller Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke 1927 In Gesammelte Schriften Bd 4 Hrsg von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser Werkausgabe edition suhrkamp Frankfurt am Main 1980 Georg Lukacs Gottfried Keller 1939 In Die Grablegung des alten Deutschland Essays zur deutschen Literatur des 19 Jahrhunderts Rowohlt rde Reinbek 1967 Hans Richter Gottfried Kellers fruhe Novellen Rutten und Loening Berlin 1960 Wolfgang Preisendanz Humor als dichterische Einbildungskraft Studien zur Erzahlkunst des poetischen Realismus Eidos Verlag Munchen 1963 Gerhard Kaiser Gottfried Keller Das gedichtete Leben Insel Verlag Frankfurt am Main 1981 Studienausgabe 1995 ISBN 978 3 458 32726 4 Hans Joachim Hahn und Uwe Seja Hrsg Gottfried Keller Die Leute von Seldwyla Kritische Studien Lang Verlag Bern u a 2007 ISBN 978 3 03911 000 1Einzelnachweise Bearbeiten In Schragschrift Zitat aus Gottfried Keller Samtliche Werke Bd 7 und 8 hrsg von Jonas Frankel Rentsch Verlag Erlenbach Zurich und Munchen 1927 Samtliche Werke Bd 7 S 259 Sieben griechische Stadte stritten sich nach Homers Tod um die Ehre als dessen Geburtsort zu gelten Eine weitere fiktive Stadt nicht zu verwechseln mit Goldach Hallbergmoos und Goldach St Gallen Nicht zu verwechseln mit Schwanau Baden Wurttemberg Walter Benjamin Gottfried Keller Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke 1927 S 284 Georg Lukacs Gottfried Keller 1939 S 46 Eine langere moralisierende Nachbemerkung zu Romeo und Julia strich Keller fur die Ausgabe von 1874 bis auf den ersten Satz Vgl Friedrich Theodor Vischers Rezension von 1874 online auf der Gottfried Keller Homepage von Walter Morgenthaler unter Besprechung zeitgenossisch So stattet der Erzahler des Grunen Heinrich seinen Helden ofters mit Narrenattributen aus Zum Lob der Schatze von Weisheit und Edelsinn in der Figur des Don Quijote vgl das 12 Kapitel des vierten Bandes Der gefrorne Christ Gerhard Kaiser Gottfried Keller Das gedichtete Leben 1981 S 316 Wie auch noch 1860 im Fahnlein der sieben Aufrechten vgl Gottfried Keller Selbstbiographie S 5 Vgl Klaus Jeziorkowski Romeo und Julia auf dem Dorfe als Modell jeder neuen Gegenwart Nachwort zur Insel Taschenbuchausgabe des Kellerschen Textes Frankfurt am Main 1984 S 126 Brief vom 2 November 1855 In Gottfried Keller Gesammelte Briefe hrsg von Carl Helbling Benteli Verlag Bern 1950 54 Bd 1 S 418 Sigmund Freud Der Humor 1927 in Gesammelte Werke S Fischer Hamburg 1961 Bd 14 S 385 Uber diesen Kampf vgl unter Gottfried Keller Lebensumstande Veroffentlichungen Konzepte Erstfassung Bd 1 Kap 7 Endgultige Fassung Bd 1 Kap 10 Das spielende Kind Der Dichter und das Phantasieren 1908 In Gesammelte Werke S Fischer Hamburg 1961 Bd 7 S 215 Vgl Wolfgang Preisendanz Humor als dichterische Einbildungskraft S 152 f Vgl auch Theodor W Adorno Uber epische Naivetat in Noten zur Literatur Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1958 S 50 60 Friedrich Sengle Biedermeierzeit Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815 1848 Metzler Stuttgart 1971 Bd 1 S 264 So Vischer 1874 1 2 Vorlage Toter Link www gottfriedkeller ch Seite nicht mehr abrufbar festgestellt im April 2018 Suche in Webarchiven nbsp Info Der Link wurde automatisch als defekt markiert Bitte prufe den Link gemass Anleitung und 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Verwerfung anfangt was an menschlicher Unvollkommenheit und Hinfalligkeit noch versohnlich in Kauf genommen und was verurteilt und gezuchtigt wird Humor als dichterische Einbildungskraft S 205 Hans Richter Gottfried Kellers fruhe Novellen 1960 S 185 Im Kapitel Seldwyla und die Wirklichkeit entzifferte Richter aus Kellers Einleitung zu Teil I die politisch sozialen Grundverhaltnisse wahrend der Vorbereitungszeit und den ersten Jahren des modernen Schweizer Bundesstaates 1830 50 Hans Richter S 186 f In der Tat gleichen Kellers Kleinburger Karikaturen mehr den Daumierschen als den Spitzwegschen S 35 leitmotivisch wiederkehrend Vgl Autorenkollektiv unter Leitung von Kurt Bottcher Geschichte der Deutschen Literatur Bd 8 1 von 1830 bis zum Ausgang des 19 Jahrhunderts Verlag Volk und Wissen Berlin 1975 S 573 Der eklatante Unterschied zwischen den politischen Verhaltnissen in der Schweiz und in Deutschland als Grundvoraussetzung fur Kellers Schaffen wurde von DDR Germanisten nur zogernd anerkannt Richter distanzierte sich 1960 noch ausdrucklich von Lukacs Uberschatzung der schweizerischen Republik S 6 Hans Richter S 189 Zu Kellers Kapitalismuskritik vgl auch Uwe Seja Seldwyla A Microeconomic Inquiry In Hans Joachim Hahn Hrsg Gottfried Keller Die Leute von Seldwyla Critical Essays Lang Verlag Bern u a 2007 S 93 117 Geschichte der Deutschen Literatur Bd 8 1 S 578 Als in der weiteren Entwicklung der westlichen Literaturwissenschaft die werkimmanente Interpretationsmethode durch sozial und medienwissenschaftliche Verfahren verdrangt wurde fand man neue Wege der kellerschen Gesellschaftskritik ihren Stachel zu nehmen So deutet Gerhard Kaiser 1980 in seiner dekonstruktivistischen Lekture des kellerschen Gesamtwerks den Schluss der Kammmacher Novelle als die menschenfeindliche furchterliche Satire des Muttersohnes und Junggesellen Keller dem ein Geselle die Mutter in zweiter Ehe weggenommen hat S 329 Zum Nachweis der fehlerhaften Voraussetzungen auf denen diese Lekture beruht vgl Rainer Wurgau Der Scheidungsprozess von Gottfried Kellers Mutter Thesen gegen Adolf Muschg und Gerhard Kaiser Niemeyer Verlag Tubingen 1994 Vgl Kellers An Hettner 26 Juni 1854 Gesammelte Briefe Bd 1 S 400 Hauptsachlich niedergelegt in Kellers zwischen 1849 und 1855 erschienenen Rezensionen der Romane von Jeremias Gotthelf Vgl Lukacs S 54 70 Keller an Theodor Storm 29 Dezember 1881 Gesammelte Briefe Bd 3 1 S 471 An Jakob Frey 20 Marz 1875 Gesammelte Briefe Bd 4 S 97f Weblinks Bearbeiten nbsp Wikisource Die Leute von Seldwyla Quellen und Volltexte Die Leute von Seldwyla 1874 Volltext bei Zeno org Die Leute von Seldwyla 1856 Diese Erstausgabe enthalt die ersten funf Novellen in ihrer ursprunglichen Form und ist daher von besonderem Interesse fur Keller Kenner Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv Werke von Gottfried Keller RomaneDer grune Heinrich Martin SalanderNovellenzyklenDie Leute von Seldwyla Teil IPankraz der Schmoller Romeo und Julia auf dem Dorfe Frau Regel 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