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Melancholie ist der Titel eines Gedichts des Schweizer Dichters Gottfried Keller Es entstand 1848 wahrend Kellers Studienaufenthalt in Heidelberg und erschien 1851 in der Sammlung Neuere Gedichte Damals umfasste es nur die ersten vier Strophen Die funfte Strophe die explizit auf Albrecht Durers Kupferstich Melencolia I Bezug nimmt war erstmals in Kellers 1883 erschienenen Gesammelten Gedichten enthalten Inhaltsverzeichnis 1 Text 2 Uber das Werk 2 1 Zur Form 2 2 Zum Inhalt 2 3 Zur Entstehung 2 4 Zur Rezeption 3 EinzelnachweiseText BearbeitenSei mir gegrusst Melancholie Die mit dem leisen Feeenschritt Im Garten meiner Phantasie Zu rechter Zeit ans Herz mir tritt Die mir den Mut wie eine junge Weide Tief an den Rand des Lebens biegt Doch dann in meinem bittern Leide Voll Treue mir zur Seite liegt Die mir der Wahrheit Spiegelschild Den unbezwungnen halt empor Dass der Erkenntnis Trane schwillt Und bricht aus dunklem Aug hervor Wie hebst das Haupt du streng und strenger immer Wenn ich dich mehr und mehr vergass Ob larmendem Gerausch und Flimmer Die doch an meiner Wiege sass Wie hangt mein Herz an eitler Lust Und an der Torheit dieser Welt Oft mehr als eines Weibes Brust Ist es von Aussenwerk umstellt Und selbst den Trost dass ich aus eignem Streben Was leer und nichtig ist erkannt Nimmst du und hast mein stolz Erheben Zu Boden allsobald gewandt Wenn du mir lachelnd zeigst das Buch Des Konigs den ich oft verhohnt Aus dem es wie von Erz ein Fluch Dass alles eitel sei ertont Und nah und ferne hor ich dann erklingen Gleich Narrenschellen ein Geton O Gottin lass mich dich umschlingen Nur du nur du bist wahr und schon Noch fuhl ich dich so edel nicht Wie Albrecht Durer dich geschaut Ein sinnend Weib von innerm Licht Erhellt des Fleisses schonste Braut Umgeben reich von aller Werke Zeichen Mit milder Trauer angetan Sie sinnt der Damon muss entweichen Vor des Vollbringens reifem Plan 1 Uber das Werk BearbeitenZur Form Bearbeiten Jede der funf Strophen besteht aus acht durch Kreuzreime verbundene Verszeilen Betonte und unbetonte Silben Hebungen und Senkungen alternieren gleichmassig Jede Zeile beginnt mit einer Senkung der bestimmende Versfuss ist daher der Jambus Ausser der funften und siebenten bestehen alle Zeilen aus genau vier Jamben enden also mannlich Die funfte Zeile jeder Strophe ist funfhebig und endet weiblich mit einer Senkung Die siebente wieder vierhebig endet des Reimes wegen ebenfalls weiblich Diese Auflockerung macht die Rede lebendig dramatisch eindringlich zumal die funften Zeilen jambische Funfheber darstellen die dem im klassischen Drama ublichen Blankvers gleichen Zum Inhalt Bearbeiten Das lyrische Ich begrusst im selbst erschaffenen Phantasiegarten ein Phantasiewesen Fee oder Gottin das einen wohlklingenden Namen tragt der freilich auch ein schweres seelisches Leiden bezeichnet Melancholie Dieses Wesen tritt ihm nahe sehr nahe beschleicht mit leisen Schritten sein Herz neckisch wie eine heimliche Geliebte zugleich bedrohlich wie ein Damon Der Uberfall oder Anfall geschieht jedoch zu rechter Zeit also weder unerwartet noch unwillkommen obwohl Melancholie mit dem Ich geradezu lebensgefahrlich umgeht namlich wie der Sturmwind mit einem Baumchen Dann aber lasst sie das gebeugte zu Boden gedruckte Ich in seiner Not nicht allein sondern legt sich ihm wie eine treue Geliebte zur Seite nbsp Athene Ausschnitt aus dem Deckenfresko von Paul Troger im Stift Gottweig Wie das zusammenstimmt zeigt die zweite Strophe Melancholie verhalt sich zum Ich wie eine Erzieherin oder Arztin Gebieterisch halt sie ihm den Spiegel vor konfrontiert es schonungslos mit schmerzhafter Wahrheit Es erscheinen an ihr Zuge und Attribute der Athene Stadtgottin des kriegs und politikerfahrenen kunst und wissenschaftsstolzen Athen die den Beinamen die Unbezwungene fuhrte und jenen Spiegelschild besass der die furchtbare Medusa versteinerte Therapeutisch angewandt bewirkt der Wahrheitsspiegel jedoch das Gegenteil er erweicht das Ich zu Tranen veranlasst es zum Eingestandnis ob larmendem Gerausch und Flimmer wegen gehaltloser Ausserlichkeiten die Gottin vergessen zu haben was diese ihm vorwirft Denn Athene alias Melancholie sass an seiner Wiege wie Feen tun wenn sie einem Neugeborenen Gaben verleihen Das erklart die Situation Feen wachen eifersuchtig uber den Gebrauch den die Beschenkten von solchen Gaben machen In der dritten Strophe setzt das Ich seine Selbstbezichtigung fort an eitler Lust und Torheit dieser Welt hange sein Herz Das klingt recht allgemein Doch dann Mehr als eines Weibes Brust ist es von Aussenwerk umstellt Als Metapher fur die Befangenheit des Herzens in Ausserlichem wahlt der Dichter ausgerechnet einen Frauenbusen samt dem umgebenden seine Wirkung hervorhebenden Mieder ein gewagtes in so ernstem Zusammenhang fast ungehoriges Bild Indessen verrat es uns nicht wenig uber die Natur der Note in denen das Ich steckt Offenbar handelt es sich um ein mannliches trotz aller Zerknirschung erotisch interessiertes Ich welches nach dem gleichsam verstohlen riskierten Seitenblick freilich sofort wieder mit der schmerzhaften Selbstbetrachtung fortfahrt Seine Klage gipfelt darin dass ihm sogar der Trost aus eigener Kraft erkannt zu haben was leer und nichtig ist genommen wird wenn der Satz uberspannt die Grenze zur vierten Strophe wenn die gestrenge Lehrmeisterin ihm lachelnd das Buch zeigt in dem seine vermeintlich originelle Erkenntnis schon langst enthalten ist das Buch Kohelet verfasst vom sagenhaften Konig Salomo in dem es heisst Alles ist ganz eitel Koh 1 2 LUT Selbst das Streben nach der Wahrheit betrachtet Salomo als Haschen nach Wind Koh 1 17 LUT Doch seltsam mit der Erwahnung dieses hochst widerspruchsvollen Mannes des tiefsten Melancholikers zugleich aber auch ausschweifendsten Erotikers der Bibel 1 Kon 11 3 LUT eines Befurworters von heiterem Lebensgenuss obendrein Koh 9 9 LUT schlagt die Stimmung des Ichs um Der Totpunkt der Selbsterniedrigung ist uberschritten die tief gebeugten Lebensgeister schnellen empor aus Mutlosigkeit wird Mutwillen ja Ubermut Wenn alles nur nach Wind hascht wenn die ganze Welt von Narrenschellen widerhallt warum sollte das Ich dann nicht sei s auch narrischerweise nach dem einzig verbliebenen Schonen und Wahren greifen und Gottin Fee oder sonst ein Phantasiegebilde als Geliebte umarmen nbsp Albrecht Durer Melencolia I Kupferstich aus dem Jahre 1514 Eine pointierte dialektisch humorvolle Schlusswendung wenn auch keine geradezu noble Dieser Meinung scheint auch der Dichter gewesen zu sein Er erkannte dass dem Gedicht noch etwas fehlt eine funfte Strophe funf ist uberhaupt die magische Zahl Kellerscher Kompositionen 2 So beginnt die letzte Strophe mit den leise selbstkritischen Worten Noch fuhl ich dich so edel nicht Was folgt ist eine Auslegung des Durerschen Blattes worin der um 30 Jahre gealterte Dichter dem jugendlichen Ich Einsichten eines erfahrenen Kunstverstandes in den Mund legt Wie das lyrische Ich bleibt auch das Genre des Gedichts Ode Huldigung eines geliebten hoheren Wesens erhalten nur dass die sturmische Liebeserklarung jetzt in eine kunstphilosophische Betrachtung mundet In der Vision des Kunstlers Albrecht Durer erscheint Melancholie als des Fleisses schonste Braut Fleiss meint hier Kunstfleiss Studium und kunstlerische Ubung Erst wo Kunstfleiss sich mit Inspiration paart entsteht ein Kunstwerk Die Quelle der Inspiration die Muse des Kunstlers ist aber die Melancholie dargestellt als weibliches Wesen mit milder Trauer angetan ernst in versunkener Haltung tief in sich gekehrt dasitzend umgeben reich von aller Werke Zeichen inmitten geheimnisvoller Gebilde die mathematische Ratsel verkorpern und wohlbekannter wie von unschlussigen Bauleuten liegen gelassener Werkzeuge In diesem Durcheinander dem schopferischen Chaos reift der Plan zum Werk tritt jah die Illumination ein wie es zu vollbringen ist Der Augenblick der Inspiration 3 ist im ausserlich verschatteten Antlitz der Frauengestalt festgehalten Es erscheint von innerem Licht erhellt die wachen Augen blicken mit hochster Konzentration sie sinnt der Damon muss entweichen das dustere Bruten und selbstqualerische Grubeln findet ein Ende hebt sich mit jenem vampirhaften Wesen Trager der Bilduberschrift MELENCOLIA auf Fledermausflugeln davon Die mit Engelsschwingen ausgestattete Melancholie behauptet den Platz auf der Erde Phasen des kreativen Prozesses Kellers Auslegung des Durerschen Blattes steht somit in der Tradition einer Umwertung der Melancholie die mit dem Traktat De triplici vita des Florentiners Marsilio Ficino beginnt und an der Albrecht Durer selbst Teil hat Gegen die Verurteilung der Melancholie durch die mittelalterlichen Theologen als Hauptlaster der Herzenstragheit und Ursache von Todsunde setzten die Gelehrten und Kunstler der Renaissance ihre neue hohe Auffassung von der melencolia generosa als eines leidvollen Seelenzustands der den musisch inspirierten schopferischen Menschen heimsucht ihn aber auch auszeichnet Zur Entstehung Bearbeiten Vieles spricht dafur dass bereits die erste im Dezember 1848 in Heidelberg entstandene Fassung des Gedichts von der Durerschen Melencolia angeregt war Wahrend seines Heidelberger Studienaufenthaltes Oktober 1848 bis April 1850 war der Dichter haufig zu Besuch bei dem Maler Christian Philipp Koester 4 dem Restaurator der Boissereeschen Gemaldesammlung und hervorragenden Kenner altdeutscher Malerei und Graphik Koester gab eine Reihe von Heften mit dem Titel Zerstreute Gedanken Blatter uber Kunst heraus zu welchen er zusammen mit seinem Freund dem Berliner Antiquar Gustav Parthey einen Dialog uber Durers Kupferstiche beigetragen hatte 5 Diesem Text und wahrscheinlich den Gesprachen mit Koester verdankte Keller die Grundzuge seiner Auffassung des Bildes 6 Zur Rezeption Bearbeiten Kellers Melancholie in den meisten Ausgaben auch Auswahl Ausgaben seiner Gedichte abgedruckt seltener in Anthologien wurde kaum je als einzelnes Werk kommentiert interpretiert kritisiert oder in anderer Form besprochen Umso mehr fallt die Wurdigung ins Gewicht die es durch Jonas Frankel den Herausgeber der ersten textkritischen Gesamtausgabe von Kellers Werken an hervorgehobener Stelle im Vorwort zu deren erstem Band erfahren hat Dieser schweizerischste Dichter ist auch der deutscheste Will man eine wesensverwandte Erscheinung beschworen so drangt sich Albrecht Durer auf wie sein Bild seit der Romantik im Bewusstsein des Jahrhunderts lebte Beide wurzeln in einer freien Stadtrepublik deren Atem im Zurich Gottfried Kellers noch spurbar war Beider Kunst nahrt sich von einer reichen Phantasie die durch Anschauung des Realen gebandigt wird In der Kunst beider sind Volksgut und Bildungselemente bei Durer die Renaissance bei Keller der Goethesche Humanismus eine unzertrennliche harmonische Verbindung eingegangen Beide sind von jener altmeisterlichen Art die dem Kleinen gleiche Liebe und Hingabe widmet wie dem Grossen weil sie weiss dass an sich nichts klein und nichts gross ist und dass im Kleinsten sich das Grosste spiegeln kann Unter den Werken des Nurnberger Meisters war besonders ein Blatt Gottfried Keller ans Herz gewachsen Melancholie In jungen Jahren rief er die ernste Frau in einem Gedicht als seinen Schutzgeist an der schon an seiner Wiege gesessen und immer bei ihm erschien sooft die Eitelkeit der Welt Macht uber ihn bekommen wollte Im Alter nimmt er das Gedicht wieder vor und fugt ihm eine neue Strophe an Nicht mehr ist Melancholie seine Gottin Das sinnende geflugelte Weib mit dem Kranz im Haar umgeben von milder Trauer preist er jetzt als des Fleisses schonste Braut vor deren strengem Auge die gespenstische Fledermaus mit Namen Melencolia sich fluchtet Als Gottfried Kellers rechtmassige Muse stehe des Fleisses schonste Braut unsichtbar vor dieser Bandefolge den Sinn seines Lebens deutend der Damon muss entweichen Vor des Vollbringens reifem Plan 7 Einzelnachweise Bearbeiten Zitiert nach der textkritischen Ausgabe von Jonas Frankel Hrsg Gottfried Keller Samtliche Werke Band 2 I Verlag Benteli Bern und Leipzig 1937 S 157 f Die beiden Bande von Kellers Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla enthalten je funf Erzahlungen ebenso die Zuricher Novellen und sofern nur die Hauptnovellen gezahlt werden Das Sinngedicht Unter Berucksichtigung der im Gedicht unerwahnten Bildelemente Regenbogen und strahlender Himmelskorper beschreibt Wolfgang Florey diesen Augenblick so Die plotzliche Blendung des Bewusstseins durch einen beinahe katastrophisch auf das Bewusstsein einsturzenden ubermachtigen Gedanken der dem schopferischen Menschen oft zeitlebens als Leitstern seinen Weg weist dieses uberwaltigende innere Erleben wird hier als kosmisches Ereignis sichtbar Uber Durers Melencolia I PDF 1 5 MB S 9 Jakob Baechtold Gottfried Kellers Leben Seine Briefe und Tagebucher 3 Bande Verlag Wilhelm Hertz Berlin 1894 1897 Bd 1 S 336 f In Heft 4 1840 S 49 56 Wie tief diese Anregung Keller beeindruckte geht aus einem Brief hervor den er zur Zeit der Entstehung der funften Strophe an seinen Freund Paul Heyse sandte Heyse hatte ihm uber seine depressive Stimmung geklagt Keller antwortete es scheine ihm diese Melancholie dem Albrecht Durerschen Frauenzimmer gleichen Namens so ahnlich zu sehen wie ein Ei dem andern in dem Sinne wie sie der selige Doktor Parthey in Berlin in einem verschollenen Kunstbuchlein gar artlich und verstandig interpretiert hat namlich als die Mutter einer unaufhorlichen Tatigkeit umgeben von allen Attributen der Kunst und Wissenschaft Brief vom 2 Juli 1878 In Gesammelte Briefe 4 Bande Hrsg von Carl Helbling Benteli Bern 1950 1954 Bd 3 I S 31 Bd 1 S XXXI f Werke von Gottfried Keller RomaneDer grune Heinrich Martin SalanderNovellenzyklenDie Leute von Seldwyla Teil IPankraz der Schmoller Romeo und Julia auf dem Dorfe Frau Regel Amrain und ihr Jungster Die drei gerechten Kammmacher Spiegel das KatzchenDie Leute von Seldwyla Teil IIKleider machen Leute Der Schmied seines Gluckes Die missbrauchten Liebesbriefe Dietegen Das verlorene LachenSieben LegendenZuricher NovellenHadlaub Der Narr auf Manegg Der Landvogt von Greifensee Das Fahnlein der sieben Aufrechten UrsulaDas SinngedichtVon einer torichten Jungfrau Regine Die arme Baronin Die Geisterseher Don Correa Die BerlockenGedichte Neuere Gedichte Melancholie Gesammelte Gedichte Die offentlichen Verleumder Prolog zur Feier von Beethovens hundertstem Geburtstag in ZurichGemaldeHeroische Landschaft Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Melancholie Gottfried Keller amp oldid 217020460