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Der Ausdruck lyrisches Ich manchmal auch generisches Ich bezeichnet in einer Traditionslinie der Literaturwissenschaft den fiktiven Sprecher oder die Stimme eines Gedichts oder Liedes Lyrik Ursprunglich eingefuhrt zur Unterscheidung des formalen bzw lyrischen Ichs von einem realen bzw empirischen Ich ist es bis in die Gegenwart immer wieder gleichgesetzt worden mit der Identitat des Autors mit der Authentizitat des Ausgesagten sowie mit dem rezeptiven Nacherleben desselben 1 Der Begriff wurde und wird noch immer ausserst kontrovers behandelt 2 Inhaltsverzeichnis 1 Begriffsgeschichte 2 Auseinandersetzung mit dem Begriff der Literaturwissenschaft 3 Beispiel 4 Bedeutung und Kritik des Begriffs in der Literaturwissenschaft 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseBegriffsgeschichteUrsprunglich wurde der Begriff 1910 von Margarete Susman in Das Wesen der modernen deutschen Lyrik als Abgrenzung vom Autor bzw empirischen Ich eingefuhrt Das lyrische Ich bezeichnet bei Susman die Form eines Ichs die der Autor aus seinem gegebenen Ich erschafft Das lyrische Ich ist also kein Ich im real empirischen Sinne sondern Ausdruck Form eines Ich 3 Das lyrische Ich die objektive Form des Ich sein wird also vom empirischen Ich dem Subjekt dem Autor geschaffen 4 Susmans Verstandnis des lyrischen Ichs tendiert bereits in Richtung zukunftiger Versuche die Trennung von empirischem und lyrischen Ich begrifflich zu erfassen 5 In den 1920er Jahren wurde der Begriff von Oskar Walzel ubernommen und differenziert Er hat die Bedeutung des Ich in der Lyrik relativiert indem er auf die Rolle der anderen Personalpronomina hinweist und von einer Du oder Er Lyrik spricht 6 Je nachdem ob Lyrik in Einzahl oder Mehrzahl spricht und in welcher Person der ersten zweiten oder dritten ergeben sich verschiedene Moglichkeiten 7 Gegen diese Sichtweise wendet sich Kate Hamburger in den 1950er Jahren mit Emil Staiger in der idealistischen Tradition des Erlebnis und Stimmungsbegriffs und der Orientierung an klassisch romantischer Lyrik Sie definiert den Begriff des lyrischen Ichs als Erlebnissubjekt des Autors als Authentizitat des poetischen Ichs und des Erlebten und als reales Nacherleben dieser Beziehung von Subjekt und Objekt durch den Rezipienten 8 Auseinandersetzung mit dem Begriff der LiteraturwissenschaftFur die Literaturwissenschaft bedeutete die Einfuhrung des Begriffs des lyrischen Ichs daher ursprunglich eine Abwendung von der biographischen Lesart von Literatur durch eine Unterscheidung von Autor und fiktivem Sprecher siehe Susman Allerdings hat sich diese Bedeutung auch in ihr Gegenteil gewandelt und verweist dann gerade auf eine im erlebnisasthetischen Sinn dichterische d h gefuhlsbetonte scheinbar besonders authentische Stimmung des Autor und Gedicht Ichs siehe Hamburger Burdorf rat diesen Begriff fallenzulassen und das Problem mit einer neuen Begrifflichkeit anzugehen 9 Uber die strukturalistischen Ansatze und spatere Versuche einer systematischen Bestimmung formaler und inhaltlicher Elemente von Erzahltexten sind inzwischen differenziertere Analysemittel vorgeschlagen worden um den bzw die Sprecher eines Textes zu bestimmen und einen textexternen Autor von textinternen Figuren zu unterscheiden Beispielsweise schlagt Burdorf ein Schema der Instanzen vor Dabei trennt er den empirischen Autor vom Gedicht Innerhalb des Gedichts unterscheidet er das Textsubjekt bzw den abstrakten Autor vom artikulierten Ich 10 Alternativbegriffe wie das sprechende Ich oder das artikulierte Ich sollten nur dann eingesetzt werden wenn das Personalpronomen ich oder entsprechende Deklinationsformen im Text auftauchen und in keinem Zusammenhang mit dem Autor der jeweiligen Texte stehen 11 BeispielAn Luise Ich wollt in Liedern oft dich preisen Die wunderstille Gute Wie du ein halbverwildertes Gemute Dir liebend hegst und heilst auf tausend susse Weisen Des Mannes Unruh und verworrnem Leben Durch Tranen lachelnd bis zum Tod ergeben Doch wie den Blick ich dichtend wende So schon still in stillem Harme Sitzt du vor mir das Kindlein auf dem Arme Im blauen Auge Treu und Frieden ohne Ende Und alles lass ich wenn ich dich so schaue Ach wen Gott lieb hat gab er solche Fraue 12 In diesem Gedicht wird vier Mal ich gesagt einmal mir Eine biographische Interpretationsweise wurde nun im Leben des Dichters nach einer Luise suchen und das Gefuhl das im Gedicht zum Ausdruck kommt auf eine bestimmte Situation im Leben des Dichters zu ubertragen versuchen Dies ware an und fur sich eine mogliche Interpretationsweise da Luise der Kosename von Eichendorffs Frau Aloysia war Diese heiratete er 1815 und sie gebar im selben Jahr ihr erstes gemeinsames Kind Isoliert man jedoch das lyrische Ich von der realen Person des Autors wird auch eine andere Interpretationsweise moglich Denn das lyrische Ich spricht davon seine Angebetete in Liedern oft preisen zu wollen doch wie den Blick ich dichtend wende alles lass ich wenn ich dich so schaue Dies konnte bedeuten dass das lyrische Ich die Dichtung angesichts der angebeteten Frau aufgibt die das halbverwilderte Gemut des Sprechers hegt und heilt Nicht so der Autor Eichendorff Er schreibt ein Gedicht und ware schon deshalb nicht mit dem lyrischen Ich des Gedichts identisch Zugespitzt gesagt Hatte Eichendorff in diesem Moment getan was das lyrische Ich sagt Und alles lass ich wenn ich dich so schaue hatte er das Gedicht nicht geschrieben Da man den Autor selbst nicht fragen kann sollte man das lyrische Ich zunachst vom Autor trennen und als eine fiktive Figur ansehen die dazu dient die Figur des Dichters der ebenso fiktiven Figur der Frau gegenuberzustellen Dadurch wird der Dichtung eine bestimmte Rolle und Haltung zugewiesen Damit ist uber Eichendorffs eigenes Verhalten und uber die reale Rolle der Dichtung noch nichts gesagt Es kann jedoch auch wieder auf den historischen Autor ruckbezogen werden wenn man sich seiner Biographie annimmt Bedeutung und Kritik des Begriffs in der LiteraturwissenschaftDie autorbezogene biographische Ausdeutung von Literatur war insbesondere in der idealistischen Literaturwissenschaft des 19 Jahrhunderts haufig anzutreffen und auch im 20 Jahrhundert verbreitet auf eine philosophisch theoretische Grundlage gestellt wurde sie beispielsweise durch Wilhelm Dilthey Speziell Gedichte aber auch andere Kunstgattungen wurden in dieser Lesart primar als Ausdruck eines authentischen biographischen Erlebnisses des Autors interpretiert und dieses daran oft mit biographischen Fakten zu rekonstruieren versucht ohne dass der literarische Kunstcharakter Metrik innere Selbstbezuglichkeit intertextuelle und gattungstheoretische Ruckbindung usw ausreichend im Sinne einer Eigenkennzeichnung von Fiktionalitat also Kunstlichkeit statt Authentizitat berucksichtigt wurde 11 Diese biographistische Textinterpretation lasst sich aus kulturhistorischer und soziologischer Perspektive beispielsweise zuruckfuhren auf den europaischen Humanismus der fruhen Neuzeit auf gesellschaftliche Differenzierung Individualisierung und Subjektivierung Autorzentrierung Genieasthetik Schleiermachers divinatorische Hermeneutik und das postklassische Epigonentum waren als exemplarische Folgen dieser Entwicklung in der Rezeption von Literatur zu nennen und damit als Teilursachen der institutionalisierten biographischen Literaturinterpretation Biographische Deutungen von Literatur sind nicht per se abwegig werden ihr jedoch als Kunstform bzw als kulturelles Artefakt selten gerecht Eine systematische Kritik der biografischen Interpretation von Literatur wurde zuerst von den russischen Formalisten zu Beginn des 20 Jahrhunderts entwickelt Der strukturalistischen Auffassung nach lasst sich Literatur in ihrer Eigenart nur begreifen wenn man sich in erster Linie ihren Kunstcharakter vor Augen fuhrt Kunst ware demnach eben deshalb Kunst weil sie vom biographisch alltaglichen Erleben abhebt und dieses formal umgestaltet Infolge des Strukturalismus wird Literatur heute als potentiell weitgehend autonome Kunstform verstanden Naturlich konnen und werden in ein literarisches Werk Elemente aus dem Leben und insbesondere aus dem Erleben des Autors einfliessen aber weder sollte der vom Autor mehr oder weniger bewusst gewahlte Kunstcharakter unterschatzt werden noch die kulturelle Pragung und soziale Fremdbestimmtheit des Autors die weder dieser noch sein Kunstwerk vollig unterlaufen konnen und die das Werk daher auch immer unabhangig von etwaiger Autorintention mitgestalten LiteraturWolfgang G Muller Das lyrische Ich Erscheinungsformen gattungseigentumlicher Autor Subjektivitat in der englischen Lyrik Winter Heidelberg 1979 ISBN 3 533 02815 1 Anglistische Forschungen 142 Zugleich Mainz Univ Habil Schr Bernhard Sorg Das lyrische Ich Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis Benn Niemeyer Tubingen 1984 ISBN 3 484 18080 3 Studien zur deutschen Literatur 80 Zugleich Bonn Univ Habil Schr Mario Andreotti Die Struktur der modernen Literatur Neue Wege in der Textanalyse Einfuhrung Epik und Lyrik 2 uberarbeitete Auflage Haupt Bern u a 1990 ISBN 3 258 04253 5 UTB fur Wissenschaft Uni Taschenbucher Moderne deutsche Literatur 1127 Horst Joachim Frank Wie interpretiere ich ein Gedicht Eine methodische Anleitung 4 unveranderte Auflage Francke Tubingen u a 1998 ISBN 3 8252 1639 X UTB fur Wissenschaft Uni Taschenbucher Literaturwissenschaft 1639 Margret Karsch Das Dennoch jedes Buchstabens Hilde Domins Gedichte im Diskurs um Lyrik nach Auschwitz transcript Verlag Bielefeld 2007 ISBN 978 3 89942 744 8 Lettre Zugleich Gottingen Univ Diss 2006 Dieter Burdorf Einfuhrung in die Gedichtanalyse 3 aktual und erweit Aufl Stuttgart 2015 S 167 215 Kate Hamburger Die Beschaffenheit des lyrischen Ich In Kate Hamburger Die Logik der Dichtung 2 uberarb Aufl Stuttgart 1968 S 217 232 Matias Martinez Das lyrische Ich Verteidigung eines umstrittenen Begriffs In Heinrich Detering Hrsg Autorschaft Positionen und Revisionen Stuttgart 2002 S 376 389 Karl Pestalozzi Die Entstehung des lyrischen Ich Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik Berlin 1970 Margarete Susman Das Wesen der modernen deutschen Lyrik Hrsg von W von Oettingen Stuttgart 1910 Oskar Walzel Schicksale des lyrischen Ichs In Das literarische Echo Halbmonatsschrift fur Literaturfreunde Hrsg von Ernst Heilborn 18 Jahrgang Heft 11 15 Februar 1916 S 593 600 Eva Muller Zettelman Lyrik und Narratologie In Erzahltheorie transgenerisch intermedial interdisziplinar Hrsg von Vera Nunning amp Ansgar Nunning Trier 2002 S 129 153 WeblinksJorg Schonert Forschergruppe Narratologie Hamburg Empirischer Autor Impliziter Autor und Lyrisches Ich Auf Universitat Hamburg Abgerufen am 15 April 2014 PDF Beitrag Lyrisches Ich Auf KinderundJugendmedien de Abgerufen am 13 Januar 2019 Hans Losener Subjektivierung und Artikulation Zum Begriff des lyrischen Ichs Auf loesener de Abgerufen am 15 April 2014 PDF ursprunglich erschienen in Jutta Schlich und Sandra Mehrfort Hrsg Individualitat als Herausforderung Identitatskonstruktionen in der Literatur der Moderne 1770 2006 Universitatsverlag Winter Heidelberg 2006 S 1 17 Einzelnachweise Vgl Matias Martinez Das lyrische Ich Verteidigung eines umstrittenen Begriffs In Heinrich Detering Hrsg Autorschaft Positionen und Revisionen Stuttgart 2002 S 377 Vgl Dieter Burdorf Einfuhrung in die Gedichtanalyse 3 aktual und erweit Auflage Stuttgart 2015 S 192 Margarete Susman Das Wesen der modernen deutschen Lyrik Hrsg W von Oettingen Stuttgart 1910 S 18 Margarete Susman Das Wesen der modernen deutschen Lyrik Hrsg W von Oettingen Stuttgart 1910 S 19 20 vgl Dieter Burdorf Einfuhrung in die Gedichtanalyse 3 aktual und erweit Auflage Stuttgart 2015 S 189 190 vgl Dieter Burdorf Einfuhrung in die Gedichtanalyse 3 aktual und erweit Auflage Stuttgart 2015 S 190 vgl Oskar Walzel Schicksale des lyrischen Ich In Ernst Heilborn Hrsg Das literarische Echo Halbmonatszeitschrift fur Literaturfreunde Nr 11 Februar 1916 S 598 vgl Kate Hamburger Die Beschaffenheit des lyrischen Ich In Kate Hamburger Hrsg Die Logik der Dichtung 2 uberarb Auflage Stuttgart 1968 S 217 232 Dieter Burdorf Einfuhrung in die Gedichtanalyse 3 aktualisierte und erweiterte Auflage Stuttgart 2015 S 182 184 Vgl Dieter Burdorf Einfuhrung in die Gedichtanalyse 3 aktualisierte und erweiterte Auflage Stuttgart 2015 S 194 196 a b Dieter Burdorf Einfuhrung in die Gedichtanalyse 3 aktualisierte und erweiterte Auflage Stuttgart 2015 S 182 194 Joseph von Eichendorff An Luise In Wolfdietrich Rasch Hrsg Joseph von Eichendorff Werke in einem Band Munchen und Wien 1977 S 437 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Lyrisches Ich amp oldid 226991788