Die Zerschlagung der Tschechoslowakei war ein Prozess, mit dem das nationalsozialistische Deutschland die Tschechoslowakei seit 1938 destabilisierte und bewirkte, dass sie verkleinert, geteilt und schlieĂlich dem deutschen Machtbereich einverleibt wurde.
In der Sudetenkrise verlangte Adolf Hitler, die von den Sudetendeutschen besiedelten westlichen Grenzgebiete der Tschechoslowakei dem Deutschen Reich anzugliedern (âHeim ins Reichâ). Um den Frieden in Europa nicht zu gefĂ€hrden, gestanden Frankreich, GroĂbritannien und Italien dies schlieĂlich am 29. September 1938 im MĂŒnchner Abkommen zu. Im November 1938 wurden im Ersten Wiener Schiedsspruch die sĂŒdlichen und östlichen Teile der Slowakei, die mehrheitlich von Magyaren bewohnt waren, Ungarn zugesprochen. Hitlers Behauptung, das Sudetenland wĂ€re die letzte territoriale Forderung Deutschlands, war eine LĂŒge: Bereits am 21. Oktober 1938 hatte er die Wehrmacht angewiesen, sich auf die âErledigung der Rest-Tschecheiâ, wie die NS-Terminologie es nannte, vorzubereiten. Nach einem deutschen Ultimatum erklĂ€rte sich die Slowakei am 14. MĂ€rz 1939 fĂŒr unabhĂ€ngig (Slowakischer Staat). Am nĂ€chsten Tag erreichte Hitler durch die Androhung einer Bombardierung Prags, dass der bisherige tschechoslowakische StaatsprĂ€sident Emil HĂĄcha sein Land âdem Schutz des Deutschen Reichesâ unterstellte.
Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag bedeutete das Ende der britischen Appeasement-Politik. GroĂbritannien und Frankreich gaben eine GarantieerklĂ€rung fĂŒr die UnabhĂ€ngigkeit Polens ab, die nach dem deutschen Ăberfall auf Polen zum Beginn des Zweiten Weltkriegs fĂŒhrte. In den tschechisch besiedelten Landesteilen der Tschechoslowakei errichteten die Deutschen das Protektorat Böhmen und MĂ€hren, das bis 1945 Teil des GroĂdeutschen Reiches war.
Vorgeschichte Bearbeiten
SpĂ€testens seit 1937 plante Hitler ein Vorgehen gegen die Tschechoslowakei. Diese Demokratie war als Mitglied der Kleinen Entente und durch den französisch-tschechoslowakischen Vertrag vom 24. Januar 1924 Teil des französischen Sicherheitssystems. Wie die so genannte HoĂbach-Niederschrift dokumentiert, legte Hitler am 5. November 1937 den wichtigsten Vertretern der Wehrmacht dar, dass er spĂ€testens 1943 einen Krieg plante, um Deutschlands angebliche Raumnot zu beheben. Sollten GroĂbritannien und Frankreich vorher in eine Krise geraten, die sie daran hindern wĂŒrde, gegen Deutschland vorzugehen, könne man auch schon 1938 losschlagen: FĂŒr diesen Fall dachte Hitler âzur Verbesserung unserer militĂ€r-politischen Lageâ an eine Eroberung Ăsterreichs und der Tschechoslowakei.
Die MĂŒnchener Konferenz (29./30. September 1938), einberufen infolge der vom Deutschen Reich provozierten Sudetenkrise, brachte der Tschechoslowakei in ihren Ergebnissen und Folgen betrĂ€chtliche Gebietsverluste. Diese ĂŒberwiegend von Deutschen bewohnten Gebiete umfassten unter anderem auch die starken tschechoslowakischen Grenzverteidigungsstellungen gegen Deutschland, welche fĂŒr die Wehrmacht damals nach eigener EinschĂ€tzung militĂ€risch nicht zu ĂŒberwinden gewesen wĂ€ren. Dennoch zeigte sich Hitler mit dem Erreichten unzufrieden. Schon zehn Tage spĂ€ter legte er Wilhelm Keitel einen geheimen Fragenkatalog ĂŒber die militĂ€rischen Möglichkeiten zur Besetzung des ârestlichenâ tschechischen Territoriums vor, obwohl er zuvor in mehreren Reden ein Streben nach tschechischen Gebieten verneint und in MĂŒnchen eine Garantie der Grenzen des tschechoslowakischen Reststaats in Aussicht gestellt hatte. Am 21. Oktober 1938 wies er die Wehrmacht an, sich darauf vorzubereiten, âdie Rest-Tschechei jederzeit zerschlagen zu können, wenn sie etwa eine deutsch-feindliche Politik betreiben wĂŒrdeâ.
Ohne an der einberufenen MĂŒnchner Konferenz beteiligt gewesen zu sein, besetzte die Republik Polen Anfang Oktober das Teschener Olsagebiet und erhielt spĂ€ter weitere Gebietsteile zugesprochen. Auch Ungarn trachtete danach, Gebiete zurĂŒckzuerlangen, was im Ersten Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938 teilweise umgesetzt wurde.
Die Vorbereitungen auf den Einmarsch der Wehrmacht blieben auf französischer Seite nicht unbemerkt. Am 12. MĂ€rz meldete Frankreichs Generalkonsul in Leipzig, am 15. oder 16. MĂ€rz werde Deutschland eine âblitzartige MilitĂ€raktion gegen die Tschechoslowakeiâ starten. In GroĂbritannien dagegen blieb Premierminister Neville Chamberlain, fĂŒr die Franzosen unverstĂ€ndlich, bis zuletzt optimistisch. Eine konzertierte Aktion der WestmĂ€chte, Hitler vor den Folgen zu warnen, unterblieb daher.
UnabhÀngigkeitserklÀrung der Slowakei Bearbeiten
Ab Februar 1939 wurden sieben Armeekorps zusammengezogen, die auf den Einmarsch warteten. Die Hoffnung, von den Slowaken um Hilfe gerufen zu werden, erfĂŒllte sich jedoch nicht. Nach der Besetzung der autonomen Slowakei am 9. MĂ€rz 1939 durch tschechische Truppen drĂ€ngte Hitler den am 13. MĂ€rz nach Berlin bestellten abgesetzten bisherigen slowakischen MinisterprĂ€sidenten Jozef Tiso, eine vorgefertigte slowakische UnabhĂ€ngigkeitserklĂ€rung zu unterzeichnen, andernfalls wĂŒrde das slowakische Territorium zwischen Polen und Ungarn aufgeteilt werden. Laut ReichsauĂenminister Joachim von Ribbentrop wĂŒrden sich bereits ungarische Truppen der slowakischen Grenze nĂ€hern. Tiso weigerte sich aber, diese Entscheidung allein zu treffen. Es wurde ihm daher erlaubt, sich mit den Mitgliedern des slowakischen Parlamentes zu beraten.
Das am nĂ€chsten Tag zusammengetretene Parlament beschloss einmĂŒtig, die Slowakei fĂŒr unabhĂ€ngig zu erklĂ€ren. In PreĂburg wurde das UnabhĂ€ngigkeitsmanifest des Slowakischen Staates verlesen, womit er sich von der Tschecho-Slowakei abspaltete. Der neue Staat wurde bis zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges von mehreren europĂ€ischen Staaten, insbesondere von Frankreich, GroĂbritannien, der Sowjetunion, Ungarn, Spanien, Polen sowie der Schweiz und dem Vatikan anerkannt.
Inzwischen wurde in der deutschen Presse eine Kampagne inszeniert, in der vom âtschechischen Terrorregimeâ gegen Deutsche und Slowaken die Rede war. Hitler legte den Einmarsch deutscher Truppen fĂŒr den 15. MĂ€rz auf 6 Uhr frĂŒh fest. Hermann Göring wurde am 13. MĂ€rz per Brief Hitlers von seinem Urlaubsort San Remo nach Berlin zurĂŒckbeordert, wo er am Nachmittag des 14. MĂ€rz eintraf.
HĂĄcha in Berlin Bearbeiten
Ebenfalls am 14. MĂ€rz 1939 traf am Abend der bisherige tschechoslowakische StaatsprĂ€sident Emil HĂĄcha zusammen mit AuĂenminister FrantiĆĄek ChvalkovskĂœ in der Neuen Reichskanzlei in Berlin ein. HĂĄcha hatte um dieses GesprĂ€ch nachgesucht. Die GĂ€ste wurden mit allen protokollarischen Ehren empfangen, aber erst nach einer langen Wartezeit zwischen ein und zwei Uhr nachts vorgelassen. HĂĄcha dankte Hitler, neben dem Göring und Keitel saĂen, fĂŒr den Empfang. Er distanzierte sich von seinen VorgĂ€ngern TomĂĄĆĄ Garrigue Masaryk und Edvard BeneĆĄ, bat aber gleichwohl darum, seinem Volk das Recht auf eine eigenstĂ€ndige Existenz einzurĂ€umen.
Hitler antwortete mit einer langen Rede, in der er unter anderem eine vielfach bezeugte Feindseligkeit der Tschechen und den fortexistierenden BeneĆĄ-Geist kritisierte, gegen den die gegenwĂ€rtige Regierung im eigenen Lande ohnmĂ€chtig sei. Er erklĂ€rte, seine Geduld sei nun erschöpft, und um sechs Uhr werde die deutsche Armee âin die Tschecheiâ einrĂŒcken. Wenn sich das EinrĂŒcken der deutschen Truppen zu einem Kampf entwickle, werde dieser Widerstand gebrochen werden. Sollte sich der Einmarsch der deutschen Truppen in ertrĂ€glicher Form abspielen, könnten ein groĂzĂŒgiges Eigenleben, Autonomie und eine gewisse Freiheit gewĂ€hrt werden.
Als HĂĄcha fragte, wie er innerhalb von vier Stunden das gesamte tschechische Volk vom Widerstand zurĂŒckhalten sollte, verwies ihn Hitler an seine Prager Dienststellen. Nach zwei Uhr verlieĂen HĂĄcha und ChvalkovskĂœ Hitlers Arbeitszimmer und versuchten, die telefonische Verbindung nach Prag herzustellen. Es folgten GesprĂ€che mit Ribbentrop und Göring. Bei dieser Gelegenheit drohte Göring mit einem Luftangriff auf Prag und schilderte dessen verheerende Folgen. Dabei erlitt HĂĄcha einen Herzanfall. Durch eine Injektion von Hitlers Leibarzt Theo Morell konnte sein Gesundheitszustand stabilisiert werden. Somit konnte HĂĄcha die Unterwerfungsurkunde unterzeichnen, nach der er âdas Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die HĂ€nde des FĂŒhrers des Deutschen Reichesâ lege. Hitler seinerseits sagte in demselben Dokument zu, die Autonomie der Tschechen zu gewĂ€hrleisten. HĂĄcha und ChvalkovskĂœ wiesen in dieser frĂŒhen Stunde die Prager Stellen an, dem bevorstehenden deutschen Einmarsch keinen Widerstand zu leisten. Unmittelbar darauf gab sich Hitler gegenĂŒber seiner Umgebung Ă€uĂerst erfreut ĂŒber HĂĄchas Unterschrift, ganz anders als nach dem Zustandekommen des MĂŒnchner Abkommens.
Einmarsch der Wehrmacht und SS-VerfĂŒgungstruppe Bearbeiten
Der Slowakei und der Karpatenukraine waren zwischenzeitlich die jahrelang verweigerte Autonomie gewĂ€hrt worden, doch die nun unabhĂ€ngige Slowakische Republik âstellte sich unter den Schutz des Reichesâ; sie war fortan ein Satellitenstaat des nationalsozialistischen Deutschlands. Ungarn besetzte die Karpatenukraine.
Am 15. MĂ€rz 1939 um sechs Uhr rĂŒckten deutsche WehrmachtsverbĂ€nde und SS-VerfĂŒgungstruppen ĂŒber die Grenze vor und erreichten gegen neun Uhr die Hauptstadt Prag. Die deutsche Armee entwaffnete das tschechische Heer. Die Leibstandarte SS Adolf Hitler besetzte das Industriegebiet von MĂ€hrisch-Ostrau und ĂŒbernahm zusammen mit der SS-VT-Standarte âGermaniaâ âWachaufgabenâ auf der Prager Burg. Mit Wehrmacht und SS-VerfĂŒgungstruppe rĂŒckte auch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) ein und begann mit der Verfolgung deutscher Emigranten und tschechischer Kommunisten. WĂ€hrend dieser Aktion, die als âAktion Gitterâ bekannt wurde, wurden einige Tausend Personen verhaftet. Hitler verlieĂ um acht Uhr Berlin, traf am Abend in Prag ein und verbrachte die Nacht auf dem Hradschin.
Am 16. MĂ€rz verkĂŒndete er, die Tschecho-Slowakei habe aufgehört zu bestehen. Die böhmisch-mĂ€hrischen LĂ€nder seien wieder in ihre alte historische Umgebung eingefĂŒgt worden. Ein gleichzeitig veröffentlichter Erlass proklamierte das nun unter deutscher Gebietshoheit stehende und einem Reichsprotektor unterstellte Protektorat Böhmen und MĂ€hren. Dort wurde eine deutsche Gerichtsbarkeit geschaffen. Zum Reichsprotektor wurde am gleichen Tag Konstantin Freiherr von Neurath ernannt.
GoldaffÀre Bearbeiten
Die Tschechoslowakische Nationalbank hatte schon vor dem Einmarsch der Wehrmacht in die Resttschechei begonnen, ihr Gold gröĂtenteils ins Ausland zu transferieren. Beim Einmarsch lagen 88,4354 Tonnen bereits im Ausland, 6,3366 Tonnen noch im Inland. Der Sonderbeauftragte der Reichsbank beim Heeresgruppenkommando III Dr. MĂŒller erzwang durch Drohung mit Exekution, dass die Direktoren der Tschechischen Nationalbank zwei Orders an die Bank von England sandten, das in England deponierte Gold zu transferieren. Mit der ersten Order wurde gefordert, 26,793 Tonnen an die Bank fĂŒr Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zu transferieren, die zweite Order forderte 23,0873 Tonnen direkt fĂŒr die Deutsche Reichsbank. Gleichzeitig gaben sie der britischen Botschaft zu verstehen, dass diese Orders erzwungen wurden und ungĂŒltig seien. Die zweite Order mit den 23 Tonnen wurde am 22. MĂ€rz 1939 von der Bank von England umgehend durchgefĂŒhrt, die erste derweil zurĂŒckgehalten mit dem Vermerk âpending clarificationâ. Die juristischen Klauseln der BIZ ermöglichten die AusfĂŒhrung der zweiten Order, da sie einen Verzicht auf TransferbeschrĂ€nkungen oder Beschlagnahme auch im Falle eines Krieges vorschrieben. Als wenig spĂ€ter die britische Presse von dem Transfer erfuhr, erhob sich in einer Sitzung des Unterhauses am 18. Mai 1939 ein Sturm der EntrĂŒstung. Es wurde nicht nur das Vorgehen der Bank von England kritisiert, sondern auch dem Schatzamt und der Regierung vorgeworfen, mit tschechischem Gold die Deutschen besĂ€nftigen zu wollen. Winston Churchill empörte sich, dass mit dem Gold die deutsche AufrĂŒstung gestĂ€rkt und die britische geschwĂ€cht wĂŒrde. Der Historiker Herbert Reginbogin urteilt:
âTrotzdem erstaunt es, dass das Vermögen eines souverĂ€nen Staates ohne einen einzigen Protest der britischen Regierung an seinen Eroberer ausgeliefert wurde. Juristische Klauseln alleine können dafĂŒr nicht ausschlaggebend gewesen sein. Eine ErklĂ€rung fĂŒr diese Verhaltensweise liegt in der Interessenlage der britischen Regierung gegenĂŒber Deutschland im Zusammenhang mit der Economic Appeasement-Politik und der daraus resultierenden Haltung gegenĂŒber dem Stillhalteabkommen von 1931 und gegenĂŒber den Londoner Banken.â
Folgen Bearbeiten
Der Einmarsch bedeutete fĂŒr die britische Regierung einen Schock. Ihre Appeasement-Politik lag in TrĂŒmmern. AuĂenminister Halifax fand laut einem Bericht des französischen Botschafters Charles Corbin einzig in der Tatsache Trost, dass er sich nun ĂŒber die Ausgestaltung der Garantie, die GroĂbritannien der Tschechoslowakei fĂŒr den Fall eines unprovozierten Angriffs gegeben hatte, nun keine Gedanken mehr machen mĂŒsse. Am 17. MĂ€rz sprach Chamberlain von einer ErschĂŒtterung, die schwerer sei als jemals zuvor, verwies auf die zahlreichen WortbrĂŒche Hitlers und rief Botschafter Nevile Henderson fĂŒr unbestimmte Zeit aus Berlin zurĂŒck.
Als am 18. MĂ€rz Henderson und der französische Botschafter Robert Coulondre in Berlin Protestnoten ĂŒberreichten, hatte Hitler Prag schon wieder in Richtung Wien verlassen. Die Zerschlagung der Tschechoslowakei wurde als offener Bruch des MĂŒnchner Abkommens angesehen und hatte eine Zuspitzung der internationalen Lage zur Folge. Das Vereinigte Königreich, Frankreich, Polen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion erkannten die faktische Annexion Tschechiens nicht an. GroĂbritannien wich von seiner bisherigen Appeasement-Politik ab und erteilte am 31. MĂ€rz gemeinsam mit Frankreich dem polnischen Staat eine GarantieerklĂ€rung, die spĂ€ter zum Kriegseintritt der beiden Staaten gegen Deutschland fĂŒhrte.
Die USA reagierten mit einem am 17. MĂ€rz 1939 verhĂ€ngten Strafzoll in Höhe von 25 % auf alle deutschen Importe. Dies kam fĂŒr die deutsche Regierung der ErklĂ€rung eines Wirtschaftskrieges gleich. Die Stimmung in den USA fĂŒr eine UnterstĂŒtzung des Vereinigten Königreichs und Frankreichs stieg wegen Hitlers Wortbruch und befeuerte die Diskussion um die Revision des NeutralitĂ€tsgesetzes und die Cash-and-carry-Klausel.
Bedeutung fĂŒr das deutsche MilitĂ€rpotential Bearbeiten
Nach Darstellung von Walther Hofer fĂŒhrte die Zerschlagung der Tschechoslowakei zu einem gewaltigen Kraftzuwachs des deutschen MilitĂ€rpotentials. Die Tschechoslowakei galt damals als ein Land mit einer starken und fortschrittlichen Maschinenbauindustrie. Das Land strebte seit 1918 (also seit seiner GrĂŒndung) nach EigenstĂ€ndigkeit bei der AusrĂŒstung seines MilitĂ€rs (siehe z. B. die ÄeskĂĄ zbrojovka; dt.: Tschechische Waffenfabrik).
Der deutschen Wehrmacht fiel die AusrĂŒstung von 40 Divisionen der aufgelösten tschechoslowakischen Armee in die HĂ€nde. In seiner Rede vor dem Reichstag vom 28. April 1939 nannte Hitler als Beute unter anderem:
- 1582 Flugzeuge,
- 501 FlakgeschĂŒtze,
- 2175 GeschĂŒtze,
- 785 Minenwerfer,
- 469 Panzer,
- 43.876 Maschinengewehre,
- 114.000 Pistolen,
- 1.090.000 Gewehre.
Drei der zehn deutschen Panzerdivisionen, die 1940 im Westfeldzug den Sichelschnitt genannten VorstoĂ durch Belgien und Frankreich zur KanalkĂŒste ausfĂŒhrten, waren mit tschechischen Panzern ausgerĂŒstet. Die Wehrmacht verfĂŒgte kaum ĂŒber schwere Artillerie. Die erbeuteten schweren ArtilleriegeschĂŒtze aus tschechischer Produktion stĂ€rkten ihre Kampfkraft.
Hinzu kam die Erbeutung der tschechoslowakischen RĂŒstungsindustrie, besonders der Ć koda-Werke in Pilsen, deren Produktion nach den Worten von Winston Churchill âvon August 1938 bis September 1939 allein fast ebenso groĂ war wie die der ganzen britischen RĂŒstungsindustrieâ. Zusammenfassend schreibt Hofer:
âOhne diese Beute wĂ€re also der âBlitzkriegâ und damit der âBlitzsiegâ von 1940 nicht möglich gewesen.â
Daneben waren die Tschechoslowakischen Staatsbahnen â auch in Verbindung mit den 1938 eingegliederten Ăsterreichischen Bundesbahnen â eine wertvolle und kriegswichtige Beute.
Politische Bedeutung Bearbeiten
Die âErledigung der Rest-Tschecheiâ gilt als Selbstdemaskierung Hitlers. Golo Mann schrieb, damit habe er âvor aller Welt [âŠ] als Wortbrecher und LĂŒgnerâ dagestanden. Joachim Fest bemerkte in seiner Hitler-Biografie: âHatte er bis dahin immer nur Doppelrollen ĂŒbernommen und als Widersacher den heimlichen BĂŒndnispartner gespielt oder die Herausforderung eines Zustands im Zeichen seiner Verteidigung begonnen, so gab er jetzt ohne alle AusflĂŒchte sein innerstes Wesen zu erkennen.â Der âGriff nach Pragâ sei Hitlers erster schwerwiegender auĂenpolitischer Fehler gewesen. Zuvor habe er die Taktik verfolgt, allen kritischen Situationen einen derart mehrdeutigen Charakter zu geben, dass der Widerstandswille seiner Gegner zerbrach. Nun aber gab er âerstmals in aller Deutlichkeit sein innerstes Wesen preisâ. Hitler selber habe spĂ€ter diesen verhĂ€ngnisvollen Fehler erkannt.
Der Historiker Hans-Ulrich Thamer sieht in der Besetzung Prags insofern einen Wendepunkt der nationalsozialistischen AuĂenpolitik, als Hitler erstmals ein fremdes Volk unterworfen hatte: Die Legitimierungen der vorherigen Expansionsschritte als Revision des Versailler Vertrags und Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts waren nun nicht mehr anwendbar. Laut Otto Dann sprengte die Expansion in Gebiete, die mehrheitlich nicht von Deutschen besiedelt waren, den Charakter des Deutschen Reichs als Nationalstaat. Der Historiker Klaus Hildebrand urteilt, dass Hitler mit dem Einmarsch âden Zenit seiner unglaublichen Erfolge, mit Gewalt, aber ohne Krieg Beute zu machen, ĂŒberschrittenâ hat.
Sonstiges Bearbeiten
Hitler hatte den italienischen Duce Mussolini nicht ĂŒber die Zerschlagung der âRest-Tschecheiâ informiert (obwohl die beiden sich zwei Tage zuvor persönlich getroffen hatten); laut einem Tagebuch von AuĂenminister Galeazzo Ciano war Mussolini darĂŒber deutlich verĂ€rgert.
Der Tschechoslowakische Wall war ein ausgedehntes Grenzbefestigungssystem der (geographisch langgestreckten) Tschechoslowakei entlang der Landesgrenzen zum Deutschen Reich, zu Ăsterreich, Polen und Ungarn, wobei weitere Linien im Landesinnern verliefen. Er galt als eines der besten Festungsbausysteme des 20. Jahrhunderts. Er wurde nicht vollstĂ€ndig fertiggestellt und gelangte fĂŒr seinen ursprĂŒnglichen Zweck nie zum Einsatz. Vorbild fĂŒr diesen FestungsgĂŒrtel war die Maginot-Linie. Zahlreiche Anlagen dienten der Wehrmacht als Objekte von Beschuss- und Bombardierungs-Tests. Mit diesen Tests wurden die Angriffe auf die Maginot-Linie wĂ€hrend des Frankreichfeldzuges im Juni 1940 trainiert. Die Panzerkuppeln und -glocken hatten sehr gute Materialeigenschaften und waren dadurch relativ beschussfest. Sie wurden teilweise hier ausgebaut und im Westwall wiederverwendet.
Siehe auch Bearbeiten
Literatur Bearbeiten
- Joachim Fest: Hitler. Eine Biografie (2 BĂ€nde). Zweiter Band: Der FĂŒhrer. Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1976, ISBN 3-548-03274-5.
- Martin Broszat: Die Reaktion der MĂ€chte auf den 15. MĂ€rz 1939. In: Bohemia. Band 8, 1967, S. 253â280 (Digitalisat).
- Emil HĂĄcha: Aufzeichnung Dr. HĂĄchas ĂŒber die Verhandlungen mit Hitler am 15. MĂ€rz 1939. 20. MĂ€rz 1939, Prag. Aus dem Tschechischen von Karl HavrĂĄnek. In: Koloman Gajan, Robert KvaÄek (Hrsg.): Deutschland und die Tschechoslowakei 1918â1945. Dokumente ĂŒber die deutsche Politik. Orbis, Prag 1965, S. 162â166.
Weblinks Bearbeiten
- Claudia Prinz: Die âZerschlagung der Rest-Tschecheiâ auf LeMO (2. Mai 2002)
- JĂŒrgen Langowski: Der Fall âGrĂŒnâ â Die Zerschlagung der Tschechoslowakei auf ns-archiv.de
- Vor sechzig Jahren: «Wer im Ausland wallfahrten gehtâŠÂ» â Schweizer Reaktionen zur Zerschlagung der Tschechoslowakei, in: Neue ZĂŒrcher Zeitung / NZZ Nr. 61 vom 15. MĂ€rz 1999 (auf: haGalil, 9. April 1999)
Einzelnachweise Bearbeiten
- â NS-Archiv: Erledigung der Rest-Tschechei vom 21. Oktober 1938.
- Vertrag ĂŒber das SchutzverhĂ€ltnis zwischen dem Deutschen Reich und dem Slowakischen Staat vom 18./23. MĂ€rz 1939, RGBl. 1939 II, S. 607.
- Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche AuĂenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871â1945. Oldenbourg, MĂŒnchen 2008, ISBN 978-3-486-58605-3, S. 636Â f.
- Jean-Baptiste Duroselle: La dĂ©cadence (1932â1939), Imprimerie nationale, Paris 1979, S. 403 f.
- Vgl. Rudolf Chmel: Zum nationalen SelbstverstĂ€ndnis der Slowaken im 20. Jahrhundert, in: Alfrun Kliems (Hrsg.): Slowakische Kultur und Literatur im Selbst- und FremdverstĂ€ndnis, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2005, S. 36â38.
- Oliver Dörr: Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession, Duncker & Humblot, 1995, S. 334, Anm. 953 mit weiteren Nachweisen.
- 15. MĂ€rz 1939 â Der deutsche Einmarsch in die Tschecho-Slowakei, mit Abbildung der Gemeinsamen AbsichtserklĂ€rung vom 15. MĂ€rz 1939 auf der Website des Politischen Archivs des AuswĂ€rtigen Amts (2019), Zugriff am 7. Dezember 2020; Hans-Ulrich Thamer: VerfĂŒhrung und Gewalt. Deutschland 1933â1945. Siedler, Berlin 1994, S. 603.
- Vgl. Vertrauliches Protokoll vom 23. MĂ€rz 1939 ĂŒber wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und dem Staat Slowakei.
- ErlaĂ des FĂŒhrers und Reichskanzlers ĂŒber das Protektorat Böhmen und MĂ€hren vom 16. MĂ€rz 1939, RGBl. 1939 I, S. 485 ff.
- Nach drei grundsĂ€tzlichen Normen vom 14. April 1939 â âVerfĂŒgung ĂŒber die deutsche Gerichtsbarkeit im Protektorat Böhmen und MĂ€hrenâ, âVerfĂŒgung ĂŒber die Strafgerichteâ und ĂŒber die âHandlungsweise der Gerichte in zivilrechtlichen Fragenâ â waren deutsche StaatsbĂŒrger im Protektorat der reichsdeutschen Gerichtsbarkeit unterstellt und die ĂŒbrige Bevölkerung im Protektorat, die aus dieser Regelung ausgenommen war, wurde nur in Straf- und Zivilsachen in allen Angelegenheiten, welche die Sicherheit im Reich betrafen, nach diesen Normen behandelt. Hierzu Jan Gebhart, Die tschechische Bevölkerung wĂ€hrend der Okkupation und des Zweiten Weltkrieges, in: Heiner Timmermann, Emil VorĂĄÄek, RĂŒdiger Kipke (Hrsg.): Die BeneĆĄ-Dekrete. Nachkriegsordnung oder ethnische SĂ€uberung: Kann Europa eine Antwort geben?, Lit Verlag, MĂŒnster 2005, S. 162â171, hier S. 166.
- Zur Einverleibung vgl. Daniel-Erasmus Khan: Die deutschen Staatsgrenzen. Mohr Siebeck, TĂŒbingen 2004 (Jus Publicum, Bd. 114), ISBN 3-16-148403-7, S. 90Â f.
- Walther Hofer, Herbert Reginbogin: Hitler, der Westen und die Schweiz. ZĂŒrich 2001, S. 478â481; vgl. Marcus Theurer: Bank of England verkaufte Nazi-Gold, FAZ vom 31. Juli 2013; vgl. ferner Ben Quinn: How Bank of England Ê»helped Nazis sell gold stolen from Czechsâ, The Guardian vom 31. Juli 2013.
- Hofer, Reginbogin: Hitler, der Westen und die Schweiz. S. 481.
- Jean-Baptiste Duroselle: La dĂ©cadence (1932â1939), Imprimerie nationale, Paris 1979, S. 404.
- Adam Tooze: Ăkonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. MĂŒnchen 2007, S. 359.
- Ronald E. Powaski: Toward an Entangling Alliance. American Isolationism, Internationalism, and Europe, 1901â1950 (=Â Contributions to the Study of World History, Bd. 22). Greenwood Press, New York/Westport 1991, ISBN 0-313-27274-3, S. 82Â f. und 90.
- Walther Hofer, Herbert R. Reginbogin: Hitler, der Westen und die Schweiz. NZZ, ZĂŒrich 2001, ISBN 3-85823-882-1, S. 418Â ff.
- Teil V des Versailler Vertrags.
- Zit. nach Hofer, Reginbogin: Hitler, der Westen und die Schweiz. ZĂŒrich 2001, S. 422.
- Hofer, Reginbogin: Hitler, der Westen und die Schweiz. ZĂŒrich 2001, S. 421.
- Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1958, S. 885.
- Joachim C. Fest: Hitler, 5. Aufl. 1973, S. 787.
- Hans-Ulrich Thamer: VerfĂŒhrung und Gewalt. Deutschland 1933â1945. Siedler, Berlin 1994, S. 604.
- Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770â1990. 2. Auflage, C.H. Beck, MĂŒnchen 1994, S. 297.
- Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche AuĂenpolitik von Bismarck bis Hitler. Oldenbourg, MĂŒnchen 2008, S. 676Â f.
- Hubert Neuwirth: Widerstand und Kollaboration in Albanien 1939â1944. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-447-05783-7, S. 26.