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Emil Hans Willi Hennig 20 April 1913 in Durrhennersdorf 5 November 1976 in Ludwigsburg war ein deutscher Biologe Er gilt als Begrunder der phylogenetischen Systematik die heute auch unter dem Namen Kladistik bekannt ist Mit seinen Arbeiten zur Evolution und Systematik revolutionierte er die Sichtweise auf die naturliche Ordnung der Lebewesen Daneben war er vor allem Spezialist fur Zweiflugler Willi Hennig 1972 Inhaltsverzeichnis 1 Leben 1 1 Fruhe Jahre und Studium 1 2 Arbeit als Militarentomologe 1 3 1950er Jahre Grundzuge einer Theorie der phylogenetischen Systematik 1 4 1961 bis 1976 2 Bedeutung des Werkes von Willi Hennig 2 1 Taxonomische Arbeiten 2 2 Bernsteinforschung 2 3 Phylogenetische Systematik 3 Kritik und Wirkung 4 Veroffentlichungen 5 Literatur 6 Weblinks 7 AnmerkungenLeben BearbeitenFruhe Jahre und Studium Bearbeiten Seine Mutter Marie Emma geb Gross 12 Juni 1885 3 August 1965 arbeitete als Dienstmadchen und spater als Fabrikarbeiterin Sein Vater Karl Ernst Emil Hennig 28 August 1873 28 Dezember 1947 war Arbeiter und spater Rottenfuhrer bei der Eisenbahn Willi Hennig hatte zwei Bruder Fritz Rudolf Hennig 5 Marz 1915 24 November 1990 der spater Pfarrer wurde sowie Karl Herbert 24 April 1917 seit Januar 1943 bei Stalingrad vermisst nbsp Dendrophis caudolineolata und Dipsas barnesiiIm Fruhjahr 1919 wurde Willi Hennig in Durrhennersdorf eingeschult besuchte die Volksschule in Taubenheim an der Spree und spater in Oppach Das Familienklima war nach Angaben von Rudolf Hennig ruhig Der Vater war ein ausgeglichener Mensch 1927 wechselte Willi Hennig an das Realgymnasium und Internat in Klotzsche bei Dresden Er wurde dort in die Hande des Lehrers M Rost ubergeben bei dem er auch wohnte Rost war Insektenfreund und machte Willi Hennig mit dem damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter des Dresdner Museums fur Tierkunde Wilhelm Meise bekannt 1930 ubersprang Hennig ein Schuljahr und am 26 Februar 1932 erhielt er sein Reifezeugnis Bereits 1931 verfasste Willi Hennig als Hausaufgabe seinen Aufsatz Die Stellung der Systematik in der Zoologie der 1978 postum veroffentlicht wurde und in dem er bereits sowohl sein Interesse als auch seinen uberlegten Umgang mit systematischen Fragen bewies Neben der Schule arbeitete Hennig freiwillig am Museum und beschaftigte sich dort gemeinsam mit Meise mit einer systematischen und biogeografischen Untersuchung der fliegenden Schlangen der Gattung Dendrophis Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit war 1932 Willi Hennigs erste Veroffentlichung die gemeinsam mit Meise verfasst wurde und unter dem Titel Die Schlangengattung Dendrophis erschien Beginnend mit dem Sommersemester 1932 studierte Willi Hennig an der Universitat Leipzig Zoologie Botanik und Geologie Nebenher war er wahrend des Studiums auch haufig im Dresdner Museum Dort lernte er den Kustos der entomologischen Abteilung und Forscher an Kafern 1 Coleoptera Fritz Isidor van Emden 1898 1958 kennen Hennig besuchte ihn regelmassig bis van Emden 1933 von den Nationalsozialisten wegen seiner judischen Mutter 1 ausgewiesen wurde Zu dessen Nachfolger Klaus Gunther 1907 1975 baute Willi Hennig eine tiefe Freundschaft auf Bereits am 15 April 1936 konnte Willi Hennig betreut von seinem Professor Paul Buchner sein Studium mit der Dissertation Beitrage zur Kenntnis des Kopulationsapparates der cyclorrhaphen Dipteren abschliessen Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Hennig bereits acht wissenschaftliche Publikationen verfasst Davon war die Revision der Tyliden Dipt Acalypt mit 300 Seiten die umfangreichste Hinzu kamen weitere Arbeiten zu Zweifluglern sowie zur Agamen Gattung der Flugdrachen Draco Nach seinem Studium bekam Hennig eine Stelle als Volontar am Museum fur Tierkunde Dresden Am 1 Januar 1937 erhielt er ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG und eine Festanstellung am Deutschen Entomologischen Institut der Kaiser Wilhelm Gesellschaft in Berlin Dahlem Am 13 Mai 1939 heiratete Willi Hennig seine ehemalige Kommilitonin Irma Wehnert Bis 1945 bekamen sie drei Sohne Wolfgang 1941 Bernd 1943 und Gerd 1945 Arbeit als Militarentomologe Bearbeiten nbsp MalariamuckeWilli Hennig wurde im Winter 1938 zur Infanterie einberufen und absolvierte bis zum Fruhjahr 1939 eine Kurzausbildung Seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er als Infanterist in Polen Frankreich Danemark und Russland eingesetzt 1942 wurde er durch einen Granatsplitter verletzt und nachfolgend als Entomologe Insektenkundler mit der Bezeichnung eines Sonderfuhrers Z am Berliner Institut fur Tropenmedizin und hygiene der Militararztlichen Akademie eingesetzt Kurz vor Kriegsende ging er in dieser Funktion nach Italien zur 10 Armee Heeresgruppe C zur Seuchen beziehungsweise Malariabekampfung Bei Kriegsende im Mai 1945 kam er als Mitglied eines Malaria Lehrtrupps am Golf von Triest in Oberitalien in britische Kriegsgefangenschaft und wurde erst im Herbst wieder entlassen Durch seine aktive Beteiligung am Zweiten Weltkrieg als Soldat und Wissenschaftler geriet Hennig spater vor allem durch den italienischen Biologen und Begrunder der Panbiogeographie Leon Croizat in den Verdacht Nationalsozialist gewesen zu sein Diese Vorwurfe wies er nach dem Krieg vehement zuruck zudem gibt es keine Hinweise die diese Behauptung stutzen konnten Hennig war nicht Mitglied der NSDAP und hatte die Ideologien des Nationalsozialismus auch nicht offentlich unterstutzt oder vertreten Wahrend seiner Militarzeit und Kriegsgefangenschaft entstand der Entwurf fur Hennigs bedeutendstes Werk zur biologischen Systematik das er allerdings erst 1950 veroffentlichte Die Rohfassung schrieb er in ein DIN A4 Buch mit Bleistift und Kugelschreiber sie umfasste 170 Seiten Wahrend der Kriegszeit entstanden ausserdem 25 wissenschaftliche Veroffentlichungen Die Korrespondenz und die Literaturrecherche ubernahm dabei grosstenteils seine Frau 1950er Jahre Grundzuge einer Theorie der phylogenetischen Systematik Bearbeiten nbsp Kladogramm der LandwirbeltiereVom 1 Dezember 1945 bis zum 31 Marz 1947 ubernahm Willi Hennig als Oberassistent von Friedrich Hempelmann 1878 1954 an der Universitat Leipzig die Vertretung seines Doktorvaters Paul Buchner und gab vor allem Vorlesungen in allgemeiner Biologie Zoologie und in spezieller Zoologie der Insekten Zum 1 April 1947 wurde er erneut am Deutschen Entomologischen Institut in Berlin angestellt und gab seine Stelle in Leipzig auf Ab dem 1 November 1949 war er Leiter der Abteilung fur systematische Entomologie sowie stellvertretender Direktor des Instituts Am 1 August 1950 habilitierte er sich an der Brandenburgischen Landeshochschule in Potsdam im Fach Zoologie Am 10 Oktober des gleichen Jahres erhielt er eine Professur mit Lehrauftrag den er mit Vorlesungen zur speziellen Zoologie der Wirbellosen systematischen Zoologie und zu Bestimmungsubungen erfullte Im gleichen Jahr veroffentlichte er die Grundzuge einer Theorie der phylogenetischen Systematik weitere Arbeiten zur Methode der phylogenetischen Systematik folgten in den nachfolgenden Jahren neben zahlreichen taxonomischen Arbeiten uber Zweiflugler Besonders erfolgreich wurde sein zweibandiges Taschenbuch der Zoologie in dem er die phylogenetische Systematik erstmals bei Wirbellosen einsetzte Er arbeitete weiterhin im Deutschen Entomologischen Institut in Berlin Friedrichshagen im sowjetischen Sektor Berlins Dabei wohnte er mit seiner Familie in Berlin Steglitz im amerikanischen Sektor West Berlins Auf einer Reise mit seinem Sohn erfuhr er am 13 August 1961 in Frankreich vom Bau der Berliner Mauer und kehrte nach Berlin zuruck um seinen Dienst zu quittieren Ein Umzug nach Ost Berlin kam fur ihn nicht in Frage da er selbst anti kommunistisch eingestellt war und mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands SED der Deutschen Demokratischen Republik massive Probleme hatte Er hatte wiederholt Mitarbeitern des Institutes einen beruflichen Start in der Bundesrepublik vermittelt Im Jahr 1959 wurde er zum Mitglied der Leopoldina gewahlt 1961 bis 1976 Bearbeiten nbsp Willi Hennig um 1970 In West Berlin erhielt Hennig eine vorlaufige Stelle an der Technischen Universitat Berlin als ausserplanmassiger Professor Ein Angebot des U S Department of Agriculture in Washington D C in der Entomology Research Division zu arbeiten lehnte er ebenso ab wie das Angebot seines Freundes Dilbert Elmo Hardy als Research Fellow an die University of Hawaii nach Honolulu zu kommen Er begrundete seinen Entschluss mit der Ausbildung seiner Sohne und dem Bedurfnis die kulturellen Zeugen des antiken griechisch romischen Europas in erreichbarer Nahe zu haben Stattdessen nahm er eine Stellung am Staatlichen Museum fur Naturkunde in Stuttgart an wo er Leiter der Abteilung fur stammesgeschichtliche Forschung wurde Im April 1963 zog er nach Ludwigsburg Pflugfelden um Die wissenschaftlichen Sammlungen des Museums waren seit dem Krieg provisorisch in Ludwigsburg aufbewahrt und verblieben dort bis sie 1985 im Neubau des Museums am Lowentor untergebracht wurden In Stuttgart befasste er sich fast ausschliesslich mit der Forschung an Zweifluglern die er taxonomisch bearbeitete Fur die Stuttgarter Beitrage zur Naturkunde in denen er einen Grossteil seiner Arbeiten veroffentlichte schrieb er bis zu seinem Tod insgesamt 29 Hefte Bedeutsam sind vor allem seine Ubersichtsartikel die er in den Buchern Fliegen der palaarktischen Region von Erwin Lindner und im Handbuch der Zoologie veroffentlichte Zur kladistischen Methode verfasste er ebenfalls mehrere Arbeiten allen voran den Artikel Cladistic analysis or cladistic classification A reply to Ernst Mayr 1975 als internationale Antwort auf die Kritik des einflussreichen Evolutionsbiologen Ernst Mayr an seiner phylogenetischen Systematik Willi Hennig besuchte nur zweimal internationale Einrichtungen im Ausland obwohl er zahlreiche Einladungen zu Gastvortragen erhielt Vom 1 September bis zum 30 November 1967 arbeitete er am Entomology Research Institute des Canada Department of Agriculture in Ottawa und nahm vom 22 bis 30 August 1972 am Internationalen Entomologenkongress in Canberra teil Gemeinsam mit seiner Frau besuchte er bei dieser Reise auch Bangkok Neuguinea und Singapur Seinen Aufenthalt in Kanada nutzte er auch fur Besuche verschiedener entomologischer Museumssammlungen in den USA etwa in Cambridge Chicago Washington D C und New York auf der Suche nach Bernsteineinschlussen von Zweifluglern die einen grossen Anteil seiner Forschungsarbeit in den spaten 1960ern und fruhen 1970ern darstellten Auf Vorschlag von Klaus Gunther der mittlerweile an der Freien Universitat Berlin einen Lehrstuhl innehatte wurde Hennig am 4 Dezember 1968 die Ehrendoktorwurde der Universitat verliehen aus gesundheitlichen Grunden konnte er die Urkunde jedoch nicht entgegennehmen so dass sie ihm am 21 Marz 1969 in Stuttgart von Klaus Gunther ausgehandigt wurde Am 27 Februar 1970 wurde Hennig auf Bestreben der Studierenden zum Honorarprofessor an der Universitat Tubingen ernannt wo er mehrere Seminare zu einzelnen Tiergruppen durchfuhrte In der Nacht zum 5 November 1976 verstarb Willi Hennig an einem Herzinfarkt Er hatte bereits im Vorfeld immer wieder Vortrage mit dem Hinweis auf seine angeschlagene Gesundheit abgesagt und schon wahrend der Reise nach Ottawa einen Infarkt erlitten Am 10 November wurde er auf dem Bergfriedhof in Tubingen beigesetzt Bedeutung des Werkes von Willi Hennig BearbeitenIm Zentrum des Werkes von Willi Hennig stehen seine Arbeiten zur Phylogenetik die ihn international bekannt gemacht haben Neben diesen Grundlagenarbeiten war Hennig allerdings auch als Entomologe im Bereich der Dipterologie sowie in anderen taxonomischen Forschungsgebieten ausserst produktiv Taxonomische Arbeiten Bearbeiten nbsp Mannliche Schnake Tipula luna Den Arbeitsschwerpunkt der taxonomischen Forschung von Willi Hennig bildeten die Insekten hier vor allem die Zweiflugler Diptera Willi Hennig bearbeitete diese Tiergruppe akribisch und wurde zum Erstbeschreiber einer grossen Anzahl neuer Arten Dabei beschrankte er sich anders als in der klassischen Entomologie ublich nicht auf die rein morphologische Beschreibung der Tiere sondern stellte seine Ergebnisse grundsatzlich in einen phylogenetischen und biogeografischen Kontext Als sehr guter Zeichner und Beobachter hat er alle Beschreibungen mit detaillierten Illustrationen versehen Bis 1945 beschrieb Hennig allein fur das von Erwin Lindner herausgegebene Sammlungswerk Fliegen der palaarktischen Region 13 klassische Familien der Zweiflugler in zwolf Teilen und insgesamt 431 Seiten illustriert mit 26 Bildtafeln Aufbauend auf seiner Bearbeitung der Zweiflugler sowie verschiedener anderer Tiergruppen wie den Reptilien entwickelte Hennig eine Anzahl wichtiger Grundsatzfragen die spater zur Entwicklung der Phylogenetischen Systematik fuhren sollten So widmete er sich der Frage warum die unabhangige Merkmalsbetrachtung bei Larven und Adulten erwachsenen Tieren verschiedener Insektengruppen haufig zu unterschiedlicher Einordnung in die Systematik fuhrte Als Losung entwickelte er vor allem in seinem Werk Die Larvenformen der Dipteren das Konzept nach dem nur solche Merkmale taxonomisch genutzt werden durfen die sich in der Evolution neu herausgebildet haben Apomorphien wahrend unveranderte Merkmale Plesiomorphien keine Anwendung finden Damit stellte er heraus dass morphologisch ahnliche Organismen nicht zwingend naher miteinander verwandt sind als morphologisch unterschiedliche Organismen Bernsteinforschung Bearbeiten nbsp Bernstein mit EinschlussAls eine Moglichkeit seine Ideen und Konzepte zu uberprufen sah Willi Hennig die Untersuchung von Bernsteinfossilien Hennig untersuchte die Merkmale im Bernstein konservierter Zweiflugler und veroffentlichte die Ergebnisse 1938 in seiner ersten Arbeit zu diesem Thema 1964 erhielt er Zugang zur Bernsteinsammlung der Georg August Universitat Gottingen In den folgenden Jahren schrieb Hennig 17 Arbeiten zu Zweifluglern in baltischem Bernstein und drei Arbeiten uber Einschlusse in Bernstein aus dem Libanon In seinem Werk Stammesgeschichte der Insekten versuchte Hennig die Merkmalsentwicklungen und Artspaltungsprozesse auf der Basis von Bernsteineinschlussen zeitlich einzuordnen Hennig betonte allerdings immer dass fur die Entwicklung von Hypothesen zu Verwandtschaft und Evolution keine Fossilien erforderlich sind da diese allein auf der Prasenz von Merkmalen rezent lebender Organismen aufbauen sollte Nach Schmitt 2002 ist ein Dialog zwischen Hennig und dem Berliner Palaontologie Professor Walter Gross am Museum fur Naturkunde in Berlin uberliefert Nachdem Gross wiederholt behauptet hatte dass Fossilien fur die phylogenetische Beweisfuhrung essenziell seien sagte Hennig Ihre Fossilien interessieren mich nicht Dann interessieren mich Ihre Theorien auch nicht entgegnete Gross und verliess wutend den Horsaal Phylogenetische Systematik Bearbeiten Das Hauptwerk von Willi Hennig ist wie bereits in seiner Biografie dargestellt die Entwicklung einer streng phylogenetischen Systematik sowie der dafur anwendbaren Methodik Er ersetzte damit eine Taxonomie die massgeblich auf Ahnlichkeiten und Formverwandtschaften beruhte durch eine Systematik die der genealogischen also der evolutionaren Verwandtschaft folgte Dabei baute Hennig auf fruhere Arbeiten auf etwa von Walter Zimmermann die bereits eine Systematik aufgrund der evolutionaren Verwandtschaft forderten Der wesentliche Beitrag von Hennig war hier zu vor allem die Entwicklung der Methodik und der theoretischen Hintergrunde mit der diese Forderung realisiert werden konnte In seinen fruhen Werken forderte Hennig zwar die Einhaltung der phylogenetischen Beziehungen der Organismen in der Systematik er selbst lieferte jedoch noch keine Moglichkeit diese festzulegen 1936 stellte er fest dass sich allein uber Homologien und Konvergenzen die Verwandtschaft nicht feststellen lasst 1943 forderte er eine Wertung morphologischer Ahnlichkeiten zur Feststellung der Verwandtschaft Wie diese Wertung auszusehen habe formulierte Hennig allerdings erst in seinem 1950 erschienenen Werk Grundzuge einer Theorie der phylogenetischen Systematik Hier unterschied er erstmals in unabhangig bewahrtes Erbe Plesiomorphien und fortschrittliche Merkmale Apomorphien Wahrend die Plesiomorphien bereits bei den Ahnenformen der jeweils zu betrachtenden Organismen vorhanden sind werden letztere erst als evolutionar neue Merkmale gebildet und stellen die alleinige Grundlage des Systems dar Ausserdem sind die in der heutigen Organismenwelt unterscheidbaren Arten nach Massgabe ihrer Entstehung durch den Zerfall alterer Stammarten derart zusammengefasst dass die jeweils hoheren Kategorien mehrere niedere Artengruppen umfassen von denen angenommen wird dass sie durch den Zerfall einer Stammart entstanden sind von der ausser ihnen keine anderen lebenden Arten abzuleiten sind aus Probleme der biologischen Systematik 1947 Mit dieser Forderung formuliert Willi Hennig die monophyletische Gruppe als Zusammenfassung aller von einer gemeinsamen Stammart abstammenden Organismen die bereits Ernst Haeckel in seinem Werk Generelle Morphologie der Organismen implizit beschrieb Mit dem Begriff der Homologie ursprunglich von Richard Owen als morphologische Ahnlichkeit eingefuhrt und von Adolf Remane als Verwandtschaftsmerkmal mit spezifischen Merkmalen Homologiekriterien gepragt setzte sich Hennig 1953 auseinander und bemangelte vor allem das Fehlen der konkreten Definition des Begriffes Zum besseren Verstandnis fuhrt er die Begriffe Synapomorphie fur ein gemeinsames apomorphes Merkmal zweier Schwestergruppen und Autapomorphie als neu erworbenes Merkmal einer monophyletischen Gruppe ein Als Argument fur eine Verwandtschaft kann dabei nur die Synapomorphie gelten Im Vergleich zur Konvergenz also den unabhangig voneinander erworbenen ahnlichen Merkmalen zweier Organismen schrieb Hennig ausserdem Ein wenig Uberlegung zeigt aber leicht dass die phylogenetische Systematik allen Boden unter den Fussen verlieren wurde wenn sie alle Synapomorphien zunachst als Konvergenzen auffassen und in jedem Falle den Beweis des Gegenteils verlangen wollte aus Kritische Bemerkungen zum phylogenetischen System der Insekten 1953 Bis in die 1960er Jahre wurden die Theorien von Willi Hennig beinahe ausschliesslich im deutschsprachigen Raum und fast nur von Entomologen zur Kenntnis genommen wenngleich bereits 1952 der Botaniker Warren Herbert Wagner 1920 2000 anhand einer Untersuchung uber die Farngattung Diellia erstmals die spater nach ihm benannte Wagner Parsimonie vorstellte Vor allem durch den schwedischen Dipterologen Lars Zakarias Brundin 1907 1993 konnte sich Hennigs Sichtweise allerdings auch unter Insektenforschern im englischsprachigen Raum verbreiten Erst ungefahr 1960 wurde Hennig von Dwight Davis 1908 1965 gebeten seine Theorien in englischer Sprache zu publizieren er selbst bot sich fur die Ubersetzung an Dies geschah in Zusammenarbeit mit Rainer Zangerl der dies nach dem Tod von Davis allein weiterfuhrte Als Ergebnis resultierte 1966 Phylogenetic Systematics als deutsche Version Phylogenetische Systematik postum 1982 von Wolfgang Hennig veroffentlicht Gemeinsam mit der bereits 1965 erschienenen Zusammenfassung unter demselben Titel in der Annual Review of Entomology sorgte dieses Werk fur den internationalen Durchbruch der phylogenetischen Methodik nach Willi Hennig Die Begriffe wie etwa apomorph und plesiomorph gehoren mittlerweile zur Standardterminologie der modernen Evolutionstheorie Hennigs Terminologie wird bei vielen Autoren konsequent eingesetzt so etwa auch bei dem bekannten Biologen Stephen Jay Gould ohne dass deren Urheber explizit erwahnt wird Kritik und Wirkung BearbeitenWie viele andere Neuerungen in der Wissenschaft wurden auch Hennigs Theorien nicht kritiklos in der Wissenschaftswelt angenommen Dabei ist es weniger die Feststellung dass die Taxonomie und die Bewertung der Verwandtschaftsverhaltnisse immer der Evolution zu folgen haben die zur Kritik fuhrte Dies wurde in Forscherkreisen allgemein angenommen und stiess nur bei traditionsverhafteten Biologen aufgrund der sehr schwierigen Erkennbarkeit von Homologien und der Lesrichtung auf Ablehnung Vor allem die Aufgabe von klassischen taxonomischen Einheiten die definitiv nicht als monophyletisch zu erweisen sind wurde und wird bis heute nicht allgemein anerkannt sondern kritisch hinterfragt Einer der Hauptgegner dieser Praxis war der Evolutionsbiologe Ernst Mayr Mayr betonte dabei ausdrucklich dass er die Ermittlung der phylogenetischen Verwandtschaft mit Hennigs Methode der phylogenetischen Systematik die er Kladistik nannte richtig und ausserst wichtig findet und die Rekonstruktion der Kladogenese mit den zugrunde liegenden Artspaltungen befurwortet Jedoch mussten neben der reinen Folge von Artspaltungs Ereignissen auch andere wichtige Gesichtspunkte berucksichtigt werden vor allem die Frage der okologischen Rolle und des evolutionaren Erfolgs eines Taxon Die daraus resultierende Klassifikation der Organismen sollte weiterhin in Form von kategorialen Rangen stattfinden und von der phylogenetischen Analyse getrennt werden Mayr propagierte eine Trennung der phylogenetischen Analyse und der Erstellung eines Systems Das Ergebnis der phylogenetischen Analyse konne in Form eines grafischen Verzweigungsschemas Kladogramm dargestellt werden es sei aber redundant die ermittelten phylogenetischen Beziehungen eins zu eins in ein System zu uberfuhren Er pladierte fur die Beibehaltung paraphyletischer Taxa die zwar nur Nachkommen einer Stammart aber nicht alle enthalten in bestimmten Fallen Als Beispiel fuhrte Mayr die Reptilien an Obwohl die letzte Stammart aller Reptilien auch Stammart der Vogel und der Saugetiere ist werden letztere Taxa nicht als Teilgruppen der tradierten Gruppe der Reptilien aufgefasst Reptilien sollten so Mayr als Einheit erhalten bleiben und weiterhin gegenuber den Vogeln abgegrenzt werden da letztere etwas evolutionar Neues und Erfolgreiches darstellten 2 Gegen diese Heraushebung einzelner Taxa aus grosseren Gruppen wehrte sich Hennig weil dafur keine objektiven Kriterien angegeben werden konnen Zwei verschiedene Einteilungsprinzipien in einem System gleichermassen umzusetzen hielt Hennig fur nicht durchfuhrbar Der Grad phylogenetischer d h genealogischer Verwandtschaft hingegen kann eindeutig und objektiv gemessen werden namlich mit der Zahl der ausschliesslich gemeinsamen Vorfahren zwei fragliche Taxa sind dann und nur dann naher miteinander verwandt als eines davon mit einem dritten wenn sie mindestens einen Vorfahren gemeinsam haben den sie nicht mit dem dritten Taxon teilen 3 Die Durchsetzung der phylogenetischen Systematik nach Hennig zog sich im Wissenschaftsbetrieb uber mehrere Jahrzehnte hin die Methode hat sich auch heute wegen der oben genannten Kritikpunkte sowie wegen des Festhaltens an der bekannten klassischen Systematik noch nicht vollstandig durchsetzen konnen Hinzu kommt dass die Diskussion sowie die Anwendung der Kladistik sich bislang beinahe ausschliesslich in der Forschung abspielt und kaum nach aussen dringt Darauf zuruckzufuhren ist das Fehlen der kladistischen Systematik in den gangigen Lehrbuchern und allgemeinen Darstellungen in Lexika und anderen Nachschlagewerken In der wissenschaftlichen Systematik gibt es allerdings heute keine ernstzunehmende Alternative zu den Hennigschen Methoden Es wird davon ausgegangen dass sich diese in weiterentwickelter Form in Zukunft allgemein durchsetzen werden Vor allem die internationalen Fortfuhrungen der Ansatze Hennigs etwa durch Wiley 1981 Watrous amp Wheeler 1981 und einer Reihe weiterer Autoren fuhren zu einer immer weiter um sich greifenden Akzeptanz der Kladistik Hinzu kommen die Untersuchungen der Molekularbiologie und anderer datenintensiver Forschungen deren Analyse auf Auswertungssoftware beruhen Diese Computerprogramme wenden modifiziert die von Hennig formulierten Methoden an und werten das Ergebnis auf der Basis des Sparsamkeitsprinzips aufgrund der geringsten anzunehmenden Merkmalsveranderungen aus Eines der ersten dieser kladistisch arbeitenden Programme wurde 1986 entwickelt und nach Willi Hennig Hennig86 benannt Veroffentlichungen Bearbeitenmit W Meise Die Schlangengattung Dendrophis In Zoologischer Anzeiger 99 1932 S 273 297 Revision der Gattung Draco Agamidae In Temminckia 1 1936 S 153 220 Beziehungen zwischen geographischer Verbreitung und systematischer Gliederung bei einigen Dipterenfamilien ein Beitrag zum Problem der Gliederung systematischer Kategorien hoherer Ordnung In Zoologischer Anzeiger 116 1936 S 161 175 Probleme der biologischen Systematik In Forschungen und Fortschritte 21 23 1947 S 276 279 Die Larvenformen der Dipteren 3 Bande Akademie Verlag Berlin 1948 1952 Grundzuge einer Theorie der phylogenetischen Systematik Deutscher Zentralverlag Berlin 1950 Kritische Bemerkungen zum phylogenetischen System der Insekten Beitrage zur Entomologie Band 3 Sonderheft 1953 S 1 85 Phylogenetic Systematics Univ Illinois Press Urbana 1966 Die Stammesgeschichte der Insekten Waldemar Kramer Frankfurt am Main 1969 Cladistic analysis or cladistic classification A reply to Ernst Mayr In Systematic Zoology 24 1975 S 244 256 Stammesgeschichte der Chordaten Parey Berlin 1983 Aufgaben und Probleme stammesgeschichtlicher Forschung Parey Berlin 1984 Taschenbuch der Speziellen Zoologie Teil 1 und 2 Wirbellose I und II Teil 3 Wirbeltiere I Teil 4 Wirbeltiere II Fischer Jena Deutsch Frankfurt Thun Zurich Neuere Auflagen herausgegeben bzw bearbeitet von Wolfgang Hennig Sohn und Gerhard Mickoleit Literatur BearbeitenGunther Peters Uber Willi Hennig als Forscherpersonlichkeit In Sitzungsberichte der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin Berlin 34 1995 S 3 10 Wolf Ernst Reif Problematic issues of cladistics 2 Hennigian species concept Neues Jahrbuch Geol Palaont Abh Band 231 2004 S 37 65 aus derselben Reihe Teil 9 Hennig s phylogenetic systematics Band 235 2005 S 289 342 Teil 22 Hennig s understanding of phylogenetic trees Band 242 2006 S 371 383 Dieter Schlee In Memoriam Willi Hennig 1913 1976 Eine biographische Skizze In Entomologica Germanica Fischer Stuttgart 4 1978 ISSN 0340 2266 S 377 391 Michael Schmitt Willi Hennig in Ilse Jahn Michael Schmitt Hrsg Darwin amp Co II Die Geschichte der Biologie in Portrats Beck Munchen 2001 ISBN 3 406 44642 6 S 316 343 541 546 Michael Schmitt Willi Hennig als akademischer Lehrer in J Schulz Hrsg Fokus Biologiegeschichte Zum 80 Geburtstag der Biologiehistorikerin Ilse Jahn Akadras Berlin 2002 ISBN 3 00 009209 9 S 53 64 Michael Schmitt Willi Hennig and the Rise of Cladistics In A Legakis S Sfenthourakis R Polymeni M Thessalou Legaki Hrsg The New Panorama of Animal Evolution Proceedings of the 18th International Congress of Zoology Pensoft Publ Sofia Moskau 2003 ISBN 954 642 164 2 S 369 379 Michael Schmitt From Taxonomy to Phylogenetics Life and Work of Willi Hennig XVI 208 S Brill Leiden Boston 2013 ISBN 978 90 04 21928 1 Jurgen Vogel Willi R Xylander Willi Hennig Ein Oberlausitzer Naturforscher mit Weltgeltung Recherchen zu seiner Familiengeschichte sowie Kinder und Jugendzeit Berichte der naturforschenden Gesellschaft Oberlausitz 7 8 1999 ISSN 0941 0627 S 131 141 Quentin Wheeler et al Heed the father of cladistics In Nature Band 496 Nr 7445 2013 S 295 296 doi 10 1038 496295aWeblinks BearbeitenLiteratur von und uber Willi Hennig im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Literatur von und uber Willi Hennig im Katalog der Virtuellen Fachbibliothek Biologie vifabio Willi Hennig englisch Michael Schmitt Willi Hennig 1913 1976 Greifswald 2012 ausfuhrlich PDF 976 kB Geschichte des Deutschen Entomologischen Instituts DEI Memento vom 27 August 2006 im Internet Archive Anmerkungen Bearbeiten a b Schmitt 2013 S 24 Ernst Mayr Cladistic analysis or cladistic classification In Zeitschrift fur zoologische Systematik und Evolutionsforschung Journal of Zoological Systematics and Evolutionary Research 12 Jahrgang Nr 1 1 September 1974 S 94 128 doi 10 1111 j 1439 0469 1974 tb00160 x englisch Willi Hennig Cladistic Analysis or Cladistic Classification A Reply to Ernst Mayr In Systematic Zoology 24 Jahrgang Nr 2 1975 S 244 256 doi 10 2307 2412765 englisch nbsp Dieser Artikel wurde am 19 Februar 2005 in dieser Version in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen Normdaten Person GND 134247736 lobid OGND AKS LCCN n79006599 VIAF 29616224 Wikipedia Personensuche PersonendatenNAME Hennig WilliALTERNATIVNAMEN Hennig Emil Hans Willi vollstandiger Name KURZBESCHREIBUNG deutscher Zoologe und PhylogenetikerGEBURTSDATUM 20 April 1913GEBURTSORT DurrhennersdorfSTERBEDATUM 5 November 1976STERBEORT Ludwigsburg Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Willi Hennig amp oldid 236661062