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Unter dem nicht zeitgenossischen Sammelbegriff der germanischen Stammesrechte werden mehrere Rechtsaufzeichnungen zusammengefasst die neben dem vornehmlich in Gallien und im rechtsrheinischen Raum geltenden frankischen Recht in verschiedenen germanischen Nachfolgereichen des Imperium Romanum von der Mitte des 5 bis ins 9 Jahrhundert entstanden sind Die im Uberblick haufig als germanisches Recht aufgerufenen Kodizes reprasentieren in ihrem historischen Auftreten je einzelne germanische Stamme und Volker diese wohnhaft an verschiedenen Orten und in verschiedenen Landern Insoweit kann kein germanisches Ur Recht ausgemacht werden bei dem alle Entwicklungen ihren Ausgangspunkt gehabt hatten im Gegenteil sind zahlreiche scharfe Gegensatze zu konstatieren In den Stammesrechten verschmolzen mit wechselndem Gewicht germanische romische und christliche Rechtsvorstellungen Die Aufzeichnungen sind in Latein verfasst und mit germanischen Ausdrucken durchsetzt Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung 2 Uberblicksliste 3 Geprage 4 Begrifflichkeit 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseEntstehung Bearbeiten nbsp Der frankische Konig Chlodwig diktiert die Lex Salica Miniatur 14 Jahrhundert Uber Quellen darstellen lassen sich die Rechte der west und ostgermanischen Hauptstamme der Goten und der Burgunden soweit sie die Volkerwanderung uberdauert haben Geschichtsschreiber Geographen Rhetoren oder Dichter hinterlassen ein sehr unzureichendes Bild Sie geben allenfalls gelegentlichen Aufschluss und dies haufig erst im Zusammenspiel mit Inschriften und archaologischen Befunden Grosse Lucken uber die Rechtszustande verbleiben die auch nicht durch Aussagen der von den Germanen geschaffenen Denkmaler geschlossen werden konnen Die Forschung ist auf sonstige geschichtliche Quellen angewiesen vornehmlich handelt es sich um nationale und kirchliche Literatur 1 Da die Germanen uber ihre Gesellschaft und ihre Gewohnheitsrechte nichts aufgeschrieben hatten muss als ausgiebigste Quelle uber ihre Lebensgewohnheiten die streitbare Schrift Germania des Geschichtsschreibers Tacitus im 1 Jahrhundert angesehen werden Tacitus schreibt nicht nur uber die Sitten und Gebrauche der Germanen er schreibt auch uber deren Konige lasst dabei aber die dort vorhandenen segmentaren Grundstrukturen erkennen Die Quelle gibt Anlass fur Interpretationen wenn sie mit anderen quellentechnisch gesicherten Fruhformen stammesgesellschaftlichen Rechts verglichen wird Insbesondere ist von Belang dass Tacitus die Territorien der West und Ostgermanen nicht aus eigener Anschauung kannte 2 Das anderte sich dann ab etwa Mitte des 5 Jahrhunderts Auf dem Boden des zerfallenen spatantiken westlichen Imperiums entstanden germanisch romanische Nachfolgereiche die die Rechtskultur des mittelalterlichen Europas pragen sollten Erstmals wurden dabei Vorschriften aufgeschrieben Es entstand eine gesammelte Aufzeichnung von Recht Es handelte sich zwar nicht um originares eigenstandiges Recht viel zu stark noch waren die Einflusse des prominenten romischen Rechts Aber parallel setzte sich christliches Gedankengut immer weiter durch Das paganistisch gepragte romische Recht begegnete einem in den Gesetzeswerken einem neuen Wertekanon 3 Die Gesetze wurden in der Literatursprache der Rhetoren Kleriker und gebildeten Laien in Latein abgefasst 4 was begriffliche Probleme bereiten konnte soweit germanische Rechtsbegriffe eingepflegt werden mussten Latinisierungen Glossen 5 Die Verwendung des Worts germanisch weist insoweit lediglich auf die Entstehung der Texte unter germanischer Herrschaft hin Spatestens seit der romischen Landnahme auf germanischem Boden waren die Kulturkreise gezwungen gewesen in Austausch zueinander zu treten Die Germanen hatten sich mit dem Recht der romischen Invasoren auseinandersetzen Das romische Recht durchdrang ihre anfanglich mundlich uberlieferten Stammesrechte sukzessive Die Stamme der Wanderungszeit beispielhaft die Goten Vandalen oder Franken bildeten ursprunglich keine ethnischen Einheiten Sie waren Zweckgemeinschaften von Sippenverbanden die sich in Zeiten von Umbruchen auch auflosen oder neu zusammensetzen konnten Als tatsachliches Staatsvolk standen ihnen allenfalls die Romer beziehungsweise Romanen gegenuber Die Romer waren vornehmlich katholische Christen und oftmals wollten sie sich von den heidnischen oder arianischen Germanen getrennt verstanden wissen Dieser religiose Gegensatz bedingte lange Zeit auch ein Gefuhl der Fremdheit zwischen den Volksgruppen Uberblicksliste BearbeitenDie wichtigsten germanischen Stammesrechte sind in der Folge ihrer Entstehung Foederaten auf ehemals romischem Boden Mitte des 5 bis Mitte des 7 Jahrhunderts Edictum Theoderici Mitte des 5 Jahrhunderts alteste gotische und uberhaupt germanische GesetzessammlungCodex Euricianus Um 475 auf den westgotischen Herrscher Eurich zuruckgehende VorschriftenLex Burgundionum Zwischen 480 und 501 am Codex Euricianus und Codex Theodosianus orientiertes Recht der BurgundenLex Salica Zwischen 507 und 511 alteste frankische RechtssammlungEdictum Rothari Um 643 langobardische RechtsaufzeichnungLiber Iudiciorum oder Lex Visigothorum Um 654 dauerhafte westgotische Rechtskodifizierung des Konigs ReccesvinthSuddeutsche Germanenstamme 7 8 Jahrhundert Pactus legis Alamannorum 1 Halfte des 7 Jahrhunderts alteste alemannische RechtsaufzeichnungLex Alamannorum Ab 725 Neugliederung des Pactus Legis AlamannorumLex Baiuvariorum Nach 740 nach dem Vorbild des Codex Eurianus und der Lex AlamannorumFrankische Randgebiete 9 Jahrhundert Lex Ribuaria 802 803 Rechtssammlung der Rheinfranken um Koln einschliesslich der Rechte der Friesen Lex Frisionum Sachsen Lex Saxonum und Thuringer Lex Thuringorum Gemass dem germanischen Personalitatsprinzip das im Gegensatz zum Territorialitatsprinzip davon ausgeht dass ein Individuum demjenigen Herrschafts bzw Rechtssystem unterworfen ist dem es personlich angehort sei es als Stammesmitglied oder als Burger entstanden in Erganzung zu den Stammesrechten auch Gesetzessammlungen die das bestehende Vulgarrecht aus der Endphase des westromischen Reiches zuhanden der autochthonen romanischen Bevolkerung bestatigten Romisch rechtliche ErlasseLex Romana Visigothorum oder Breviarium Alarici anum 506 weitestgehend romisch gepragte Gesetzessammlung des westgotischen Konigs Alarich II Lex Romana Burgundionum Um 500 Datierung umstritten Auszug aus romischen RechtsquellenGeprage BearbeitenDas Geprage der verschriftlichten Gesetze folgt im Wesentlichen einer Dreiteilung Gewohnheitsrecht Zivilrecht und Satzungen der jeweiligen Herrscher Staatsrecht daneben Regelungen zur Stellung der Kirche Kirchenrecht In den Texten wird sowohl der weltliche Machtanspruch der neuen Herrschaft wie auch der friedensstiftende Wille Pax Romana in Nachfolge des romisch christlichen Kaisertums greifbar Der Ersatz archaischer Gewohnheitsrechte wie Rache und Fehdebrauche zwischen Individuen und Familien durch obrigkeitlich normierte Strafkataloge Suhnevertrage Wergeld versteht sich als Ausdruck des zivilisatorischen Anspruchs an die germanische Fuhrungsschicht die eine zunehmende Romanisierung erfuhr Ubernahme des Vulgarlateins und des katholischen Glaubens Sie waren allerdings keine Kodifikationen mit umfassendem oder gar abschliessendem Charakter sondern trafen Regelungen meist nur nach Bedarf soweit Rechtsubertretungen eben Sanktionen oder Satisfaktionen erforderten Zwischen den verschiedenen germanischen Stammesrechten bestehen Beruhrungspunkte oder Abhangigkeiten wobei diese und allfallige gemeinsame Ursprunge nicht vollig geklart sind Die Beeinflussung durch das romische Recht ist bei denjenigen Stammen am starksten die als Foederaten Bundesgenossen innerhalb des Imperiums angesiedelt worden waren Goten und Burgunden Deren Heerkonige waren zugleich kaiserliche Magistrate ihr Recht zur Gesetzgebung leitete sich aus der Reichsgewalt und damit aus romischen Rechtsnormen ab Ahnliches gilt auch fur die Franken Zwar verliessen sie niemals vollstandig ihr ursprungliches Siedlungsgebiet siedelten aber auch auf Reichsgebiet und eroberten spater erhebliche Teile des ehemals romischen Galliens und schliesslich Italiens so dass sie in Gebiete eindrangen in denen das romische Recht immer noch in erheblichem Masse galt Die frankischen Rechtsaufzeichnungen beginnend ab Ende des 5 Jahrhunderts leges Barbarorum und endend am Anfang des 9 Jahrhunderts bilden das Zentrum der fruhmittelalterlichen Stammesrechte Mit dem Niedergang der frankischen Herrschaft setzt die schriftliche Uberlieferung des Rechts aus und beginnt erst wieder im 12 Jahrhundert mit den Rechtsspiegeln und Stadtrechtsbuchern die das mittlerweile territorial ausgepragte Gewohnheitsrecht fixierten Die Gesetze entstanden auf Initiative der germanischen Fursten In Spannung dazu stand die uberkommene Vorstellung dass der Furst das bereits gegebene Recht bewahrte und es bloss in Mitarbeit und Zustimmung der militarischen und geistlichen Elite bessern konnte jeder germanische Furst musste seine Herrschaft in einer Art Gesellschaftsvertrag neu begrunden weswegen alle rechtlichen Vereinbarungen mehr personellen als institutionellen Charakter hatten und kaum einen Herrschaftswechsel uberdauerten In der schriftlichen Rechtsetzung manifestierte sich hingegen die von ihren germanischen Rechtsnachfolgern ubernommene Einsicht der romischen Autoritaten dass das Recht bei zunehmender gesellschaftlicher und staatlicher Verdichtung nicht nur aus dem Volk heraus als Gewohnheitsrecht besteht sondern zugleich Ausdruck institutioneller d h staatlicher oder kirchlicher Machtschopfung ist Die Rechtswerke regelten das Zusammenleben von Romanen und Germanen Kauf und Schenkung Testamente Darlehen Urkunden und vieles mehr Sie vermitteln ein facettenreiches Bild der Rechtsvorstellungen im fruhen Mittelalter und sind daher eine wichtige Quelle historischer Erkenntnis Allerdings stellen sie auch hohe Anforderungen an ihre Interpretation Besonders in den alemannischen burgundischen und langobardischen Texten mussen germanische Begrifflichkeiten erst erschlossen werden und selbst hinter eindeutig romisch rechtlichen Termini kann germanisches Rechtsdenken stehen Zudem widerspiegeln sie nicht unbedingt die Rechtswirklichkeit und ihre normative Kraft sowie tatsachliche Wirkung sind schwer fassbar Viele Entwicklungen sind allerdings vergleichbar zu den Anfangen in Rom Regelmassig etwa wurden Vergehen und Friedensbruche privat gesuhnt offentliche Strafen gab es nicht oder nur in Ausnahmefallen von schwersten Verletzungen einzelner Gemeinschaftspflichten Oder aber der Hausherr ubte die uneingeschrankte Hausmacht und Strafgewalt uber die Familienmitglieder und das Gesinde aus Begrifflichkeit BearbeitenDie nachtraglichen Sammelbegriffe fur die germanischen Rechtsaufzeichnungen sind Teil der Wissenschafts und Politgeschichte Nach Beginn der Rezeption des gelehrten romischen Rechts in Europa ab dem 12 Jahrhundert sprachen die humanistischen Juristen von leges Barbarorum Barbarengesetze einerseits wegen ihres im Vergleich mit klassisch romischen Gesetzestexten verderbten Lateins anderseits um die Minderwertigkeit dieser Rechtskultur gegenuber derjenigen des im Hochmittelalter wiederentdeckten und massgeblich gewordenen justinianischen Corpus iuris civilis zu verdeutlichen Die Wahl des Wortes barbarisch war bewusst abfallig denn die germanischen Stamme wurden als Zerstorer des romischen Reichs und der antiken Kultur angesehen Die aus der Romantik und den nationaldemokratischen Vorstellungen des Vormarz schopfenden Germanisten der Historischen Rechtsschule des 19 Jahrhunderts etwa Karl Friedrich Eichhorn Jacob Grimm Georg Beseler oder Otto von Gierke werteten sie hingegen positiv als Germanische Volksrechte indem ihnen das Volk als Trager einer uberwiegend gewohnheitsrechtlichen Rechtskultur galt 6 Differenzierter war die gleichzeitige oder nur leicht jungere Bezeichnung als Stammesrechte wahrend man im nationalsozialistischen Deutschen Reich simplifizierend von Germanenrechten sprach Stammesrechte existierten noch im hohen Mittelalter in Gestalt etwa des Sachsenspiegels Schwabenspiegels und anderer Rechtsbucher Literatur BearbeitenHermann Conring Der Ursprung des deutschen Rechts Hrsg von Michael Stolleis ubersetzt von Ilse Hoffmann Meckenstock Insel Frankfurt am Main 1994 Kapitel 1 Die germanischen Stamme lebten einst nicht nach geschriebenen Gesetzen S 18 20 Gerhard Dilcher Eva Marie Distler Hrsg Leges Gentes Regna zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der fruhmittelalterlichen Rechtskultur Erich Schmidt Verlag Berlin 2006 ISBN 978 3 503 07973 5 Gerhard Dilcher Germanisches Recht In Albrecht Cordes Heiner Luck Dieter Werkmuller Christa Bertelsmeier Kierst Hrsg Handworterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2 vollig uberarbeitete und erweiterte Auflage Schmidt Berlin 2009 ISBN 978 3 503 07911 7 Sp 241 252 Karl Kroeschell Deutsche Rechtsgeschichte Band 1 Bis 1250 12 Auflage Koln u a Bohlau Koln 2005 ISBN 978 3 8385 2734 5 S 29 56 Karl Kroeschell Germanisches Recht als Forschungsproblem In Festschrift fur Hans Thieme zu seinem 80 Geburtstag Hrsg von Karl Kroeschel Thorbecke Sigmaringen 1986 ISBN 978 3 7995 7050 3 S 3 19 Karl Kroeschell Recht In Heinrich Beck Hrsg Germanen Germania germanische Altertumskunde Hoops RGA 2 vollig neu bearbeitet und stark erweiterte Auflage de Gruyter Berlin New York 1998 ISBN 3 11 016383 7 S 215 228 Urs Reber Germanisches Recht In Historisches Lexikon der Schweiz Claudio Soliva Germanische Stammesrechte In Historisches Lexikon der Schweiz Weblinks BearbeitenMonumenta Germaniae Historica Leges nationum Germanicarum The Roman Law Library Leges Romanae barbarorum Bibliotheca legum regni Francorum manuscripta Handschriftendatenbank zum weltlichen Recht im Frankenreich Karl Ubl Universitat zu Koln Einzelnachweise Bearbeiten Karl von Amira Grundriss des germanischen Rechts Band 5 der Reihe Grundriss der germanischen Philologie hrsg von Hermann Paul Strassburg 1891 1893 Band 1 Band 2 Spater mit weiteren Auflagen und weiteren Banden vgl Wikisource Berlin Boston De Gruyter 1913 S 2 Uwe Wesel Geschichte des Rechts Von den Fruhformen bis zur Gegenwart 3 uberarbeitete Auflage C H Beck Munchen 2001 ISBN 978 3 406 54716 4 S 265 ff 267 ff Uber nahere Verwandtschaft zwischen gothisch spanischem und norwegisch islandischem Recht bei Julius von Ficker in Mitteilungen des Instituts fur Osterreichische Geschichtsforschung Erganzungsband II 1887 S 455 542 Interessante Ausfuhrungen zum Themenkomplex Franz Beyerle Die Fruhgeschichte der westgotischen Gesetzgebung In Zeitschrift der Savigny Stiftung fur Rechtsgeschichte Germanistische Abteilung Band 66 Heft 1 1950 S 1 8 Karl von Amira Germanisches Recht Band 1 Rechtsdenkmaler In Grundriss der germanischen Philologie De Gruyter Berlin 1960 S 16 Vgl etwa Hans Peter Haferkamp Die Rezeption des Romischen Rechts in den Deutungen der Rechtswissenschaft des 19 Jahrhunderts in Claudia Lieb Christoph Strosetzki Hrsg Philologie als Literatur und Rechtswissenschaft Germanistik und Romanistik 1730 1870 Heidelberg 2013 S 247 258 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Germanische Stammesrechte amp oldid 236131459