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Als Kardinaltugenden von lateinisch cardo Turangel Dreh und Angelpunkt oder Primartugend bezeichnet man seit der Antike eine Gruppe von vier Grundtugenden Diese waren anfangs nicht bei allen Autoren dieselben Eine Vierergruppe ist bereits im Griechenland des 5 Jahrhunderts v Chr belegt und war wohl schon fruher bekannt die Bezeichnung Kardinaltugenden wurde in der spatantiken Patristik durch den Kirchenvater Ambrosius von Mailand im 4 Jahrhundert erstmals verwendet 1 Detail aus Die Kardinal und Gottestugenden von Raffael Fresko in den Stanzen des Raffael Inhaltsverzeichnis 1 Antike 2 Mittelalter 3 Aufklarung 4 Moderne 5 China 6 Yoga und Hinduismus 7 Allegorische Darstellung der Kardinaltugenden 7 1 Attribute 7 1 1 Weltliche Tugenden 7 1 2 Christliche Tugenden 7 2 Giottos Darstellung der drei theologischen Tugenden 8 Siehe auch 9 Literatur 10 Weblinks 11 AnmerkungenAntike BearbeitenDie Gruppe von vier Haupttugenden ist erstmals bei dem griechischen Dichter Aischylos belegt in seinem 467 v Chr entstandenen Stuck Sieben gegen Theben Vers 610 Er scheint sie als bekannt vorauszusetzen daher wird vermutet dass sie schon im griechischen Adel des 6 Jahrhunderts v Chr gelaufig waren Aischylos charakterisiert den Seher Amphiaraos als tugendhaften Menschen indem er ihn als verstandig sophron gerecht dikaios fromm eusebes und tapfer agathos bezeichnet Der Begriff agathos gut ist hier wie in vielen Inschriften im Sinne von tapfer andreios zu verstehen Platon ubernahm in seinen Dialogen Politeia und Nomoi die Idee der Vierergruppe Er behielt die Tapferkeit bei ihm ἀndreia andreia die Gerechtigkeit dikaiosynh dikaiosyne und die Besonnenheit swfrosynh sophrosyne bei ersetzte aber die Frommigkeit eὐsebeia eusebeia durch Klugheit fronhsis phronesis oder Weisheit sofia sophia Dadurch wurde die Frommigkeit aus dem Tugendkatalog verdrangt Noch Platons Zeitgenosse Xenophon der wie Platon ein Schuler des Sokrates war schrieb Sokrates einen Kanon von nur zwei Tugenden zu namlich Frommigkeit die die Beziehungen zwischen Menschen und Gottern bestimmt und Gerechtigkeit die fur die Beziehungen der Menschen untereinander massgeblich ist Platon ordnet jedem der drei von ihm angenommenen Seelenteile und jedem der drei Stande in seiner Konzeption einer idealen Gesellschaftsordnung politeia politeia eine Tugend zu namlich dem obersten Seelenteil bzw Stand die Weisheit dem zweitrangigen die Tapferkeit und dem niedersten die Verstandigkeit oder Fahigkeit des Masshaltens Die Gerechtigkeit ist allen drei zugewiesen sie sorgt fur das rechte Zusammenwirken der Teile des Ganzen Nicht nur die Angehorigen der von Platon gegrundeten Akademie sondern auch die Stoiker ubernahmen den Kanon der vier Tugenden wohl aus stoischem Schrifttum gelangte die Vierergruppe auch in die rhetorischen Handbucher Daher waren die Gebildeten der hellenistischen und romischen Welt mit ihr vertraut Auch im Judentum wurden dieselben vier Haupttugenden gelehrt sie erscheinen zweimal in der Septuaginta der griechischen Ubersetzung des Tanach namlich im Buch der Weisheit 8 7 und im 4 Buch der Makkabaer 1 18 Der judische Philosoph Philon von Alexandria befasste sich ebenfalls damit er deutete die vier Flusse des Paradieses allegorisch als die vier Tugenden Marcus Tullius Cicero der sich hier auf ein nicht erhaltenes Werk des Stoikers Panaitios stutzte vertrat die Lehre von den vier Haupttugenden Er machte die romische Welt mit ihr vertraut In seiner Schrift De officiis Uber die Pflichten nennt und erortert er die vier Tugenden Gerechtigkeit iustitia Massigung temperantia Tapferkeit und Hochsinn fortitudo magnitudo animi bzw virtus und Weisheit oder Klugheit sapientia bzw prudentia Mittelalter BearbeitenAntike Tugendlehren schlagen sich mit der Rezeption der antiken Philosophie durch christliche Theologen wie Ambrosius Hieronymus Augustinus Beda und Hrabanus Maurus in der Bibelauslegung nieder 2 Im 4 Jahrhundert verfasste Ambrosius von Mailand eine Pflichtenlehre De officiis ministrorum in der er sich mit Ciceros Auffassung auseinandersetzt Er verwendete erstmals den Begriff Kardinaltugenden virtutes cardinales haufiger ist bei ihm aber der Ausdruck Haupttugenden virtutes principales Er ubernahm Philons Deutung der vier Paradiesflusse als die vier Tugenden Eine erste systematische Ausformung erhalt die Tugendlehre im Rahmen der Moral lehre des Thomas von Aquin der die Kardinaltugenden als Angel bezeichnet an der alle anderen Tugenden befestigt sind Eine Tugend heisst Kardinal bzw Haupttugend weil an ihr die anderen Tugenden befestigt sind wie die Tur in der Angel Virtus aliqua dicitur cardinalis quasi principalis quia super eam aliae virtutes firmantur sicut ostium in cardine 3 Aufklarung BearbeitenImmanuel Kant lasst in Bezug zu den Sekundartugenden nur eine Primartugend gelten Es ist uberall nichts in der Welt ja uberhaupt auch ausser derselben zu denken moglich was ohne Einschrankung fur gut konnte gehalten werden als allein ein guter Wille Fehle dieser konnen alle anderen Tugenden auch ausserst bose und schadlich werden 4 Der deutsche Philosoph Johann Friedrich Herbart nennt als Kardinaltugenden 5 Tapferkeit Freiheit Gute Gerechtigkeit Moderne BearbeitenDer Philosoph Josef Pieper macht in der Tradition von Thomas von Aquin die folgenden christlichen Kardinaltugenden aus Klugheit Gerechtigkeit Tapferkeit Massigung Dabei raumt er der Klugheit den ersten Rang ein Aus ihr heraus werden alle anderen Tugenden geboren Die Klugheit ist das Mass der Gerechtigkeit der Tapferkeit und der Massigung 6 In der orientierungslosen Nachkriegszeit fasste er diesen christlichen Glaubensgrundsatz pragnant zusammen Keinen Satz der klassisch christlichen Lebenslehre gibt es der dem Ohr des heutigen Menschen auch des Christen so unvertraut ja so fremd und verwunderlich klingt wie dieser dass die Tugend der Klugheit die Gebarerin und der Formgrund aller ubrigen Kardinaltugenden sei der Gerechtigkeit der Tapferkeit und der Massigung dass also nur wer klug sei auch gerecht tapfer und massvoll sein konne und dass der gute Mensch gut sei kraft seiner Klugheit Josef Pieper 7 China BearbeitenDie funf konfuzianischen Kardinaltugenden chin 五常 wŭchang sind Menschlichkeit 仁 ren Gerechtigkeit oder Rechtes Handeln 義 yi Sitte 禮 lĭ Wissen 智 zhi Wahrhaftigkeit 信 xin beziehungsweise nach Mengzi entsprechend Innigkeit 親 qin zwischen Vater und Sohn Rechtes Handeln 義 yi zwischen Furst und Untertan Trennung 別 bie zwischen Gatte und Gemahlin Reihenfolge 序 xu zwischen Alt und Jung Wahrhaftigkeit 信 xin zwischen Freund und FreundYoga und Hinduismus Bearbeiten5 Yamas Ahimsa Gewaltlosigkeit Satya Wahrhaftigkeit Asteya Nicht Stehlen Brahmacharya Enthaltsamkeit Aparigraha Nicht Zugreifen 5 Niyamas Shauca Reinheit Santosha Genugsamkeit Tapas Opfer und Busse Svadhyaya Studium und Reflexion Ishvara Pranidhana Hingabe an Gott Allegorische Darstellung der Kardinaltugenden BearbeitenAllegorische Darstellungen der Kardinaltugenden sind typische Elemente reprasentativer Grabanlagen der Renaissance und des Barock vor allem an Grabmonumenten fur Papste Bischofe oder weltliche Herrscher wie die Dogen von Venedig BeispielGrab des Papstes Clemens II im Bamberger Dom nbsp Iustitia Gerechtigkeit nbsp Fortitudo Tapferkeit nbsp Prudentia Klugheit nbsp Temperantia Massigung Darstellung der Tugenden an der reprasentativen barocken Fassade 1737 der Gesuati Kirche in Venedig sollen zum Ruhm der Dominikaner Auftraggeber von Kirche und Fassade dienen nbsp Weisheit von Gaetano Susali nbsp Gerechtigkeit von Francesco Bonazza nbsp Tapferkeit von Giuseppe Torretto nbsp Massigung von Alvise TagliapietraAttribute Bearbeiten Die allegorischen Darstellungen der Tugenden sind immer weiblich gemass dem Genus des Begriffs im Lateinischen Beigefugte Inschriften oder Attribute helfen dem Betrachter die jeweiligen Tugenden zu identifizieren Weltliche Tugenden Bearbeiten nbsp Klugheit Prudentia mit zwei Gesichtern und Spiegel Detail aus den Kardinal und Gottestugenden von Raffael Fresko in den Stanzen des Raffael nbsp Gerechtigkeit Justitia mit Waage Schwert und Krone Medaillon an der Decke der Stanza della Segnatura in den Stanzen des RaffaelKlugheit Prudentia Schlange Spiegel Schriftrolle oder Buch Januskopf zwei Gesichter Gerechtigkeit Justitia Waage Schwert Krone Augenbinde Tapferkeit Fortitudo Fahne Rustung Schwert Schild Lowe Simson Saule 8 Massigung Temperantia Sanduhr zwei Gefasse zum Mischen von Wasser und Wein brennende Fackel und Krug zum Loschen auf einem Kamel Elefant reitend Schwert in der Scheide ZugelChristliche Tugenden Bearbeiten Glaube Fides Kreuz Kelch mit Hostie Gesetzestafel Kerze Liebe Caritas Mutter mit Kindern Fackel brennendes Herz Bettler Pelikan Hoffnung Spes Taube Anker Krone Schiff Fahne Augen zum Himmel gewandt geflugeltGiottos Darstellung der drei theologischen Tugenden Bearbeiten Im Neuen Testament kommt der Kanon der vier Tugenden nicht vor Der Apostel Paulus fuhrte drei Theologische Tugenden ein vgl 1 Kor 13 13 EU Glaube lateinisch fides Hoffnung lateinisch spes und Liebe lateinisch caritas Die nachfolgende Darstellung ist in der Cappella degli Scrovegni in Padua zu finden nbsp Fides Glaube nbsp Spes Hoffnung nbsp Caritas Liebe Zusammen ergibt das die Siebenzahl Weisheit oder Klugheit Gerechtigkeit Tapferkeit Massigung Glaube Hoffnung LiebeSie werden im Katechismus der Katholischen Kirche den sieben Todsunden Hauptlastern gegenubergestellt Siehe auch BearbeitenTugendethik Arete Dharma Sunde wider den Heiligen Geist Preussische Tugenden Sekundartugend KardinalismusLiteratur BearbeitenMaria Becker Chresis Die Methode der Kirchenvater im Umgang mit der antiken Kultur Bd 4 Die Kardinaltugenden bei Cicero und Ambrosius De officiis Schwabe Basel 1994 ISBN 3 7965 0953 3 Carl Joachim Classen Der platonisch stoische Kanon der Kardinaltugenden bei Philon Clemens Alexandrinus und Origenes In Adolf Martin Ritter Hrsg Kerygma und Logos Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1979 ISBN 3 525 55369 2 S 68 88 Albrecht Dihle Der Kanon der zwei Tugenden Westdeutscher Verlag Koln 1968 Sibylle Mahl Quadriga virtutum Die Kardinaltugenden in der Geistesgeschichte der Karolingerzeit Bohlau Koln 1969 Josef Pieper Das Viergespann Klugheit Gerechtigkeit Tapferkeit Mass Munchen 1998 ISBN 3 466 40171 2 Eduard Schwartz Ethik der Griechen Koehler Stuttgart 1951 Ulrich Klein Kardinaltugenden In Historisches Worterbuch der Philosophie Bd 4 I K Schwabe Basel 1976 Sp 695 696 ISBN 3 7965 0115 X Weblinks Bearbeiten nbsp Wiktionary Kardinaltugend Bedeutungserklarungen Wortherkunft Synonyme Ubersetzungen Gottliche Tugenden und KardinaltugendenAnmerkungen Bearbeiten Martin Biermann Die Leichenreden des Hl Ambrosius von Mailand 1995 S 62 Anm 47 HWB der Philosophie Bd 4 Sp 695 Thomas von Aquin De virtutes 1 12 14 Zitiert nach HWB d Philosophie Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Anaconda Verlag 2008 Kardinaltugenden In Meyers Konversations Lexikon 4 Auflage Band 9 Verlag des Bibliographischen Instituts Leipzig Wien 1885 1892 S 507 Thomas von Aquin Summa theologica I II 64 Quaestiones disputate de virtutibus in communi 13 Josef Pieper Traktat uber die Klugheit Munchen 1949 S 11 Hans Biedermann Knaurs Lexikon der Symbole Hrsg Gerhard Riemann Bertelsmann Gutersloh 1989 S 451 Normdaten Sachbegriff GND 4229320 0 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Kardinaltugend amp oldid 237025058