www.wikidata.de-de.nina.az
Der Begriff Memorialwesen von lateinisch memoria Gedachtnis bezeichnet das rituelle Totengedenken und gehort in unterschiedlichen Auspragungen zum Totenkult menschlicher Gesellschaften Im engeren Sinn meint man damit das Totengedenken seit der Antike Im Mittelalter waren Stiftungen eine bedeutende Auspragung des Memorialwesens Memorialforschung ist heute fester Bestandteil der Mediavistik die damit an die sozial und kulturwissenschaftliche Debatte uber das kollektive beziehungsweise soziale oder kulturelle Gedachtnis sowie Erinnerungsorte und Erinnerungskulturen anknupft Gemass Otto Gerhard Oexle der den Begriff Memoria in die Forschung eingefuhrt hat ist zwischen der religiosen der sozialen und der historiographischen Dimension des Gedenkens zu unterscheiden die sich jedoch vielfaltig uberlagern und durchdringen 1 Inhaltsverzeichnis 1 Das Memorialwesen im Mittelalter 1 1 Religiose Bedeutung 1 2 Soziale Bedeutung 1 3 Historiographische Bedeutung 2 Literatur 3 Weblinks 4 EinzelnachweiseDas Memorialwesen im Mittelalter BearbeitenReligiose Bedeutung Bearbeiten Bestimmend fur das im 5 Jahrhundert aufkommende mittelalterliche Memorialwesen oder kurz die Memoria war das christliche Verstandnis vom Tod Fur den Christen war und ist der Tod nicht das Ende des Lebens Er erwartete am Jungsten Tag aufzuerstehen und das ewige Heil zu erlangen Bis zu diesem Tag sollte das Gedachtnis an den Verstorbenen bewahrt werden damit er mit den Lebenden zusammen an der Erlosung teilhabe Im 5 Jahrhundert wurde diese Rolle der Ehefrau des Verstorbenen der vidua Witwe zugewiesen Sie hatte jedoch nur fur die Memoria ihres Ehemanns Sorge zu tragen Starb sie erlosch das einzige als Aufgabe verbindlich ubertragene Totengedachtnis des Ehemanns Zwar konnten Verwandte den Memorialdienst ubernehmen verpflichtet waren sie hierzu jedoch nicht 2 Damit unterschied sich das christliche Memorialwesen grundlegend von dem der romischen Antike In der romischen Religion war allein der Pater familias als Familienoberhaupt fur das Gedenken an samtliche Ahnen zustandig Um das Gedenken unbegrenzt fortsetzen zu konnen wurde die Institution des Pater familias so gestaltet dass etwa durch Adoption eine kontinuierliche Abfolge an Verantwortlichen fur das Totengedenken gewahrleistet war 3 Nach dem Verbot der heidnischen Kulte unter Theodosius I im Jahr 392 ubertrugen katholische Christen einen Grossteil der mit dem Memorialdienst verbundenen Pflichten kirchlichen Institutionen Klostern Geistlichen oder Gemeinden Verantwortlich fur die Verpflichtung einer Person oder Institution war zu Lebzeiten jeder selbst 4 Mit der sich entwickelnden Vorstellung vom Fegefeuer kam ein weiterer besonders ab dem Spatmittelalter wichtiger Aspekt hinzu Durch Gaben und Schenkungen an die Kirche und die Stiftung von Messen und Memorialdiensten konnten jenseitige Strafen abgemildert bzw die Zeit im Fegefeuer verkurzt werden Die Nennung der Namen der Stifter wahrend des Hochgebets der Messe Memento machte diese zu Teilnehmern an der Eucharistie Das Totengedachtnis war somit zugleich Vorsorge fur das Jenseits und gute Tat im Diesseits Die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten die damit einhergehende Vergegenwartigung der Toten die Gegenseitigkeit der guten Taten der Verstorbenen zu Lebzeiten und der Memorialdienste der Lebenden sowie die Sicherung des zukunftigen Gedachtnisdienstes waren zentrale Aspekte des Memorialwesens Die Forschung sieht hierin eine Auspragung des mittelalterlichen Prinzips do ut des ich gebe damit Du gibst Da der Mensch des Mittelalters zu Lebzeiten selbst fur seine Memoria zu sorgen hatte hatte das Memorialwesen eine grosse Bedeutung im Alltagsleben Das Gebetsgedachtnis konnte in Gaben Almosen einmaligen Schenkungen oder dauerhaften Stiftungen wie die Hauskloster bedeutender Adelsfamilien bestehen die die Empfanger oftmals Kloster zum Gedachtnis verpflichteten Stiftungen im Rahmen des Memorialwesens bildeten in vielen Fallen das Einkommen der Geistlichkeit und die wirtschaftliche Grundlage der klosterlichen Gemeinschaften Hierzu zahlt ebenfalls das Erinnerungsmahl ein unter dem Begriff caritas geubter Brauch bei dem des Stifters eines jahrlich abzuhaltenden Mahls oder Trunks durch ein Gebet gedacht wurde 5 Die wachsende Anzahl der erinnerungspflichtigen Namen machte es notig sie aufzuzeichnen was zunachst in Diptychen spater in Memorialbuchern geschah Als im spateren Mittelalter der Namen so viele geworden waren dass nicht mehr jeder verlesen werden konnte wurde stattdessen das Memorialbuch auf den Altar gelegt Gleichzeitig setzte eine Entwicklung zu einer mehr individualisierten Form des Gedachtnisses ein Neben die Verbruderungsbucher traten nun kalendarisch geordnete Nekrologe die ein Gedenken am Sterbetag des Toten sicherstellten Das um 1050 datierte Testament der Essener Abtissin Theophanu das ihren Memorialdienst detailliert regelt geht bereits von einem individualisierten Memorialgedanken aus Im Verlauf des Spatmittelalters stifteten immer mehr Leute fur sich und ihre Angehorigen sogenannte Jahrzeiten oder Anniversarien damit alljahrlich zu ihrem Todestag fur ihr Seelenheil gebetet und die heilige Messe gefeiert wurde Die Namen und Stiftungen der Verstorbenen wurden nun in Anniversarien oder Jahrzeitbuchern verzeichnet die wie die alteren Nekrologe kalendarisch geordnet waren aber mehr Platz boten fur ausfuhrlichere Eintrage zu den gestifteten Gutern die einen Uberblick uber die Einkunfte der betreffenden kirchlichen Institution erlaubten Spatestens ab dem 15 Jahrhundert wurden solche Aufzeichnungen nicht mehr nur in Klostern und Stiften gefuhrt sondern auch an den meisten Pfarrkirchen und anderen geistlichen Institutionen wie Hospitalern 6 Soziale Bedeutung Bearbeiten nbsp Ausschnitt aus dem Nekrolog des Klosters Mollenbeck 13 und 14 Jahrhundert In der standischen Gesellschaft des Mittelalters hatte die Memorialpraxis eine hohe gesellschaftliche Bedeutung Die Nachwelt durch Abbildung Namensnennung oder andere identifizierende Elemente z B Wappen an die Gebetsverpflichtung zu erinnern befriedigte in der Regel zugleich das Bedurfnis nach sozialer Reprasentation des Individuums oder Geschlechts Es gehorte zu den zentralen Medien durch die Standes und Geschlechtszugehorigkeit mitgeteilt wurden So wie der Angehorige eines Standes diese soziale Stellung durch standesgemasses Begrabnis und standesgemasse Memoria zum Ausdruck brachte konnten durch besonders aufwandige Praktiken auch Aufstiegspratentionen kommuniziert werden Bedeutende adlige aber auch patrizische Geschlechter stifteten oft eigene Begrabniskirchen im Falle des Hochadels mitunter sogar ganze Kloster z B das Kloster Altzella als Grablege der Wettiner In einigen Fallen wurden Memorialpraktiken auch zur Kommunikation politischer Ordnungsvorstellungen herangezogen So wurde der Stadt Braunschweig nach der Grossen Schicht von 1374 auferlegt die St Auctor gewidmete Ratskapelle als Suhneleistung an die Hanse zu errichten In ihr verband sich ein sakrales Legitimationsmittel der Ratsherrschaft mit der Furbitte fur die acht wahrend der Schicht zu Tode gekommenen Ratsherren deren Wappenschilde die Kapelle zierten 7 Memoria war auch eine Funktion vieler mittelalterlicher Gemeinschaftsformen wie Einungen Bruderschaften und Zunften Sie sicherten nicht nur ein standesgemasses Begrabnis sondern verpflichteten ihre Mitglieder auch zur Furbitte Auch Klostergemeinschaften gingen Gebetsverbruderungen mit anderen Gemeinschaften ein zu deren Erfullung Gedenklisten Totenroteln ausgetauscht und verstorbene Mitbruder zum Teil auch deren Verwandte in Nekrologe aufgenommen wurden Die Fursorge fur die Memoria war Element des Selbstverstandnisses der Geistlichkeit als oratores als Stand der Betenden Historiographische Bedeutung Bearbeiten nbsp Namenseintrage Konig Heinrichs I und seiner Familie von 929 im Reichenauer Verbruderungsbuch In der zweiten Spalte rechts steht unter Heinricus rex seine Gemahlin Mathild a reg ina dann ihr altester Sohn Otto I schon mit Konigstitel Otto rex Sachquellen der Memorialpraxis umfassen Gebaude oder Gebaudeteile sowie alle Formen von Kircheninventar z B Altare Kirchenfenster Grablegen Gedenkbilder Kleinodien oder priesterlichen Ornat und Kunstschatze wie das Otto Mathilden Kreuz des Essener Domschatzes Das Memorialwesen hat ferner eine Vielzahl schriftlicher Quellen hinterlassen die als Diptychen Memoriale Verbruderungsbucher Nekrologe Totenroteln Anniversar oder Jahrzeitbucher bezeichnet werden Individuelle Hinterlassenschaften in Verbindung mit der Verpflichtung zum Gebetsgedachtnis sind ferner in Testamenten und Schenkungsurkunden sowie in Stadt und Gerichtsbucheintragen uberliefert Jenseits ihres religions mentalitats und kunstgeschichtlichen Wertes lassen sich aus den Quellen des mittelalterlichen Memorialwesens oft Schlusse zu Verwandtschaftsbeziehungen sozialen Netzwerken und anderen historischen Vorgangen ziehen Die Auswertung stellt allerdings hohe Anforderungen insbesondere bei hochmittelalterlichen Quellen Zu den bedeutendsten Ergebnissen der Memorialforschung gehort die Analyse des Herrschaftsstils Heinrichs I der aus chronikalischer Uberlieferung und Memorialpraxis erschlossen wurde So findet sich die erste Erwahnung seines Sohns Otto des Grossen als Mitkonig in einer Verbruderungsliste des Klosters Reichenau Fur das Spatmittelalter sind Memorialquellen hinsichtlich der Landes Regional und Stadtgeschichte bedeutend Sie erlauben Ruckschlusse auf das Bruderschaftswesen und andere Stiftergemeinschaften lassen sich aber auch fur wirtschafts und sozialgeschichtliche Fragestellungen auswerten Eine uberregionale Bedeutung behalten die klosterlichen Totenroteln als Medien der Kommunikation innerhalb klosterlicher Orden fur die Bildungs Literatur und Klostergeschichte Schlachtjahrzeiten und andere Gedenktage bieten zudem wertvolle Einblicke in das damalige Geschichtsbewusstsein Literatur BearbeitenGerd Althoff Joachim Wollasch Bleiben die Libri Memoriales stumm Eine Erwiderung auf H Hoffmann In Deutsches Archiv fur Erforschung des Mittelalters Band 56 2000 S 33 54 Digitalisat Rainer Berndt Hrsg Wider das Vergessen fur das Seelenheil Memoria und Totengedenken im Mittelalter Erudiri Sapientia 9 Aschendorff Munster 2013 ISBN 978 3 402 10436 1 Michael Borgolte Cosimo Damiano Fonseca Hubert Houben Hrsg Memoria Erinnern und Vergessen in der Kultur des Mittelalters Jahrbuch des italienisch deutschen historischen Instituts in Trient Beitrage Band 15 Bologna Berlin 2005 ISBN 88 15 10662 6 Dieter Geuenich Otto Gerhard Oexle Hrsg Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters Veroffentlichungen des Max Planck Instituts fur Geschichte Band 111 Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1994 ISBN 3 525 35648 X Caroline Horch Der Memorialgedanke und das Spektrum seiner Funktionen in der Bildenden Kunst des Mittelalters Langewiesche Konigstein i Ts 2001 ISBN 3 7845 7550 1 Zugleich Nijmegen Kath Univ Diss 2001 Rainer Hugener Buchfuhrung fur die Ewigkeit Totengedenken Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spatmittelalter Chronos Zurich 2014 ISBN 978 3 0340 1196 9 Angaben des Verlags zum Buch Jens Lieven Michael Schlagheck Barbara Welzel Netzwerke der Memoria Essen 2013 ISBN 978 3 8375 0813 0 Tanja Michalsky Memoria und Reprasentation Die Grabmaler des Konigshauses Anjou in Italien Veroffentlichungen des Max Planck Instituts fur Geschichte Band 157 Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 2000 ISBN 3 525 35473 8 Zugleich Munchen Universitat Dissertation 1995 Otto Gerhard Oexle Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters In Joachim Heinzle Hrsg Modernes Mittelalter Neue Bilder einer popularen Epoche Insel Verlag Frankfurt am Main Leipzig 1994 ISBN 3 458 16616 5 S 297 323 Karl Schmid Joachim Wollasch Hrsg Memoria Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter Munstersche Mittelalter Schriften Band 48 Fink Munchen 1984 ISBN 3 7705 2231 1 Karl Schmid Joachim Wollasch Die Gemeinschaft der Lebenden und der Verstorbenen In Fruhmittelalterliche Studien Band 1 1967 S 365 405 Gabriela Signori Hochmittelalterliche Memorialpraktiken in spatmittelalterlichen Reformklostern In Deutsches Archiv fur Erforschung des Mittelalters 60 2004 S 517 547 online Rolf de Weijert Kim Ragetli Arnoud Jan Bijsterveld Jeannette van Arenthals Hrsg Living memoria Studies in Medieval and Early Modern Memorial Culture in Honour of Truus van Bueren Middeleeuwse Studies en Bronnen Vol 137 Verloren Hilversum NL 2011 ISBN 978 90 8704 272 1 Mit Beitragen auf deutsch von Thomas Schilp Otto Gerhard Oexle u a Weblinks Bearbeiten nbsp Wiktionary Totengedenken Bedeutungserklarungen Wortherkunft Synonyme Ubersetzungen Projekt Herrschermemoria und politische Norm in der Fruhen Neuzeit an der Universitat Marburg Memento vom 19 Februar 2010 im Internet Archive Medieval Memoria Online MeMO Projekt an der Universitat Utrecht NiederlandeEinzelnachweise Bearbeiten Otto Gerhard Oexle Memoria Memorialuberlieferung In Lexikon des Mittelalters 6 1993 Sp 510 513 Bernhard Jussen Erbe und Verwandtschaft Kulturen der Ubertragung im Mittelalter In Bernhard Jussen Stefan Willer Sigrid Weigel Hrsg Erbe Ubertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Stw 2052 Suhrkamp Berlin 2013 ISBN 978 3 518 29652 3 S 37 64 hier S 54 56 online Bernhard Jussen Erbe und Verwandtschaft Kulturen der Ubertragung im Mittelalter In Bernhard Jussen Stefan Willer Sigrid Weigel Hrsg Erbe Ubertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Stw 2052 Suhrkamp Berlin 2013 S 37 64 hier S 55 Bernhard Jussen Erbe und Verwandtschaft Kulturen der Ubertragung im Mittelalter In Bernhard Jussen Stefan Willer Sigrid Weigel Hrsg Erbe Ubertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Stw 2052 Suhrkamp Berlin 2013 S 37 64 hier S 56 f Otto Gerhard Oexle Die Gegenwart der Toten In Herman Braet Werner Verbeke Hrsg Death in the Middle Ages Leuven 1983 S 19 77 hier S 29 f Rainer Hugener Buchfuhrung fur die Ewigkeit Totengedenken Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spatmittelalter Zurich 2014 bes S 30 33 Vgl Uwe Heckert Die Ratskapelle als Zentrum burgerlicher Herrschaft und Frommigkeit Struktur Ikonographie und Funktion In Blatter fur deutsche Landesgeschichte 129 1993 S 139 164 hier S 142ff Digitalisat Normdaten Sachbegriff GND 4138973 6 lobid OGND AKS LCCN sh85083491 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Memorialwesen amp oldid 234433776