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Wahrend des Volkskreuzzugs der im Vorfeld des Ersten Kreuzzugs stattfand wurden im Fruhjahr 1096 die judischen Gemeinden in Deutschland insbesondere jene im Rheinland von Kreuzfahrern angegriffen Dabei kam es zu den ersten organisierten Judenpogromen des Abendlandes Gewaltverbrechen und Morden 1 Im Judentum wird der Ereignisse als Gezerot Tatnu hebraisch גזירות תתנייו gedacht 2 Sie stellten einen tiefen Einschnitt in dem Verhaltnis der beiden Religionsgemeinschaften dar der weitreichende Folgen fur die Geschichte der Juden Europas hatte und wurde daher auch als eine Urkatastrophe des europaischen Judentums bezeichnet 3 Inhaltsverzeichnis 1 Hintergrund 2 Volkmar und Gottschalk 3 Heerhaufen unter der Fuhrung des Grafen Emicho 3 1 Speyer 3 2 Worms 3 3 Mainz 3 4 Verfolgungen in den nordlichen Rheingebieten 3 5 Der Untergang des Kreuzfahrerheeres in Ungarn 4 Historische Quellen und Klagelieder 5 Das Vier Stufen Modell von Friedrich Lotter 6 Geschichtliche Folgen der Rheinlandpogrome 7 Literarische Verarbeitung 8 Quellen 9 Literatur 10 Weblinks 11 EinzelnachweiseHintergrund BearbeitenDie judischen Gemeinden in Speyer Worms und Mainz bildeten einen Stadteverbund die sogenannten SchUM Stadte Diese waren fur ihr Wissen in religiosen Fragen im ganzen Frankenland bekannt Das Zusammenleben mit der christlichen Mehrheitsbevolkerung war trotz gelegentlicher Ressentiments Diskriminierungen und Repressalien von einer gewissen Unbefangenheit charakterisiert wie es der Historiker Friedrich Lotter ausgedruckt hat 4 Dies anderte sich durch die Ereignisse im Jahre 1096 grundlegend Juden waren seitdem einer permanenten Bedrohung ihrer Existenz ausgesetzt Eine wichtige Motivation fur den ersten Kreuzzug war eine tiefe Demutigung der Christen im fernen Palastina Im September 1009 hatte Fatimiden Kalif al Hakim die Grabeskirche in Jerusalem plundern und mitsamt dem Felsengrab Christi zerstoren lassen 5 Zudem waren Christen im Fatimidenreich zahlreichen Repressalien ausgesetzt Christliche Symbole und das Begehen christlicher Feste wurden verboten und die Christen wurden gezwungen auffallige Gurtel und schwarze Kopfbedeckungen zu tragen um als Christen erkennbar zu sein Die Vorkommnisse trugen zu einem latenten Fremdenhass auch der Christen im Rheinland bei den sie vor allem auf die in ihrer Mitte lebenden Juden projizierten Im Jahr 1012 befahl Konig Heinrich II diejenigen Juden aus Mainz zu vertreiben die nicht bereit waren sich taufen zu lassen Unter diesem Druck gaben einige Mitglieder der Gemeinde nach die anderen mussten ihre Hauser und Geschafte verlassen bald darauf wurde ihnen jedoch die Ruckkehr gestattet Auch in Frankreich wurden in den folgenden Jahren Juden die sich der Taufe verweigerten vertrieben oder ermordet 1066 fand als ein erstes regionales Pogrom auf europaischem Boden statt das sogenannte Massaker von Granada Unter der Herrschaft der muslimischen Ziriden von Granada wurden mehr als 1 500 judische Familien rund 4 000 Personen ermordet Nachdem sich die judische Gemeinde von Granada in den folgenden Jahren erholt hatte wurde sie 1090 unter den Almoraviden erneut angegriffen und ausgeloscht das Ende des goldenen Zeitalters des Judentums in Spanien Unter dem Pontifikat von Papst Urban II keimte die Idee eines Heiligen Krieges zur Befreiung des Heiligen Landes auf Zum Abschluss der Synode von Clermont rief er am 27 November 1095 zum Ersten Kreuzzug auf 6 Denjenigen die im heiligen Krieg den Tod finden sollten wurde die Vergebung der Sunden versprochen Danach hielt Papst Urban II noch in Tours und Rouen Synoden ab die den Aufruf verbreiteten Ein Ubriges taten die uber das Land gesandten Wanderprediger der Kirche die dafur sorgten dass viele einfache Menschen Abenteurer Verbrecher aber auch Bauern in den Krieg zogen Der bekannteste unter ihnen war der Bussprediger Peter der Einsiedler nbsp Der erste Kreuzzug 1095 Territoriale Situation und Wege ins Heilige Land Seldschuken Noch bevor sich das offizielle papstliche Kreuzzugsheer gesammelt hatte brach bereits im April 1096 in Nordfrankreich auf eigene Faust ein erster ungeordneter Zug auf der sogenannte Volks oder Armenkreuzzug Diese Kreuzfahrer waren keine Ritter sondern vorwiegend einfache Bauern Bettler und Kriminelle bewaffnet nur mit Stocken und bauerlichen Arbeitsgeraten Der ursprungliche Aufruf des Papstes Urban II richtete sich an die Christen zum Kreuzzug nach Jerusalem aufzubrechen um die Feinde des Christentums aus dem Heiligen Land zu vertreiben und zum Heiligen Grab Christi zu pilgern 7 Zunehmend setzte sich jedoch die Meinung unter den sich in einem chaotischen Prozess bildenden Kreuzfahrerheeren durch dass die Juden in den eigenen Territorien bekampft werden sollten 8 Das Ziel war die Konversion der Juden oder deren Totung Tod oder Taufe war dementsprechend der Schlachtruf dieser Kreuzfahrer Neben dieser religiosen Motivation war der Finanzbedarf der Teilnehmer des Volkskreuzzuges eine weitere Ursache fur die Judenpogrome im Rheinland 7 Die judischen Gemeinden im Rheinland waren sehr wohlhabend unter anderem weil es den Juden im Gegensatz zu den Christen seitens der katholischen Kirche erlaubt war Geld gegen Zinsen zu verleihen siehe auch Zinsverbot 7 Einer der ersten Gewaltausbruche gegen Juden fand in Rouen statt dort fielen der grosste Teil der judischen Gemeinde einem Massaker zum Opfer Im Dezember 1095 schrieben die nordfranzosischen judischen Gemeinden einen Brief an die rheinischen Juden in dem diese vor der Ankunft der Kreuzfahrer gewarnt wurden Die Rheinlander antworteten sie hatten keine Angst gaben aber Peter dem Einsiedler bei seinem Volkskreuzzug einen Brief mit in dem sie ihre europaischen Glaubensbruder aufforderten ihn und seine Anhanger zu unterstutzen und zu alimentieren Im Fruhjahr 1096 setzten sich eine Vielzahl von kleinen Gruppen von Rittern und Bauern durch die Predigten Peters des Einsiedlers angeregt aus verschiedenen Teilen des Heiligen Romischen Reiches und Frankreichs in Bewegung Die Zuordnung der einzelnen Gruppen und Anfuhrer ist mit Unsicherheiten behaftet 5 Volkmar und Gottschalk BearbeitenDer Zug des Priesters Volkmar war im Rheinland Ende April 1096 mit dem Ziel losgezogen sich Peter dem Einsiedler im Osten anzuschliessen 9 Dabei kam es zu Judenverfolgungen in Magdeburg und spater in Prag 30 Juni 1096 Von den Ungarn wurde der Zug kurzerhand gewaltsam aufgelost als klar wurde dass es sich um Aufruhrer handelte 10 Ein anderer Priester namens Gottschalk 11 den Peter der Einsiedler bei seinem Aufbruch am 20 April ebenfalls zuruckgelassen hatte fuhrte Kreuzfahrer aus dem Rheinland und aus Lothringen rheinaufwarts Als die Kreuzfahrer Bayern auf ihrem Weg nach Ungarn passierten kam es z B in Regensburg zu gegen Juden gerichteten Angriffen Auch Gottschalks Zug wurde von den Ungarn vernichtet nachdem dessen betrunkene Teilnehmer ungarisches Gebiet geplundert hatten 12 Heerhaufen unter der Fuhrung des Grafen Emicho BearbeitenDer grosste dieser Kreuzzuge der auch am starksten in die Angriffe auf Juden eingebunden war wurde von Graf Emicho angefuhrt Eine Armee von rund 10 000 Mannern Frauen und Kindern aus dem Rheinland Ostfrankreich Lothringen Flandern und sogar England die im Fruhsommer 1096 gestartet war walzte sich das Rheintal entlang den Main hinauf bis zur Donau Emicho wurde unter anderem begleitet vom Vizegrafen Wilhelm von Melun genannt der Zimmermann und Drogo von Nesle aus Frankreich Hartmann von Dillingen und dem Herren von Salm aus seiner rheinischen Nachbarschaft Kaiser Heinrich IV der in Norditalien festsass ordnete den Schutz der Juden an als er von den sich anbahnenden Ausschreitungen erfuhr Zunachst unabhangige Gruppen zogen uber Speyer und Worms nach Norden und vereinigten sich erst in Mainz unter der Fuhrung Emichos der in die Verfolgungen in Speyer und Worms wahrscheinlich nicht involviert war 12 Speyer BearbeitenAm 3 Mai erreichten zwei Kolonnen Speyer Johann I Bischof von Speyer befahl die Verteidigung der judischen Gemeinde nachdem es zu massiven Ubergriffen gekommen war bei denen 11 Juden starben Der Bischof gewahrte den Juden Schutz im befestigten Bischofshof in der Stadt und an anderen sicheren Platzen Er konnte sich nach mehrtagigen Kampfen gegen die Kreuzfahrer durchsetzen die weiter nach Norden zogen und als nachste judische Gemeinde die in Worms attackierten Hauptartikel Pogrom von 1096 in Speyer Worms BearbeitenAm Sonntag dem 18 Mai sturmten bewaffnete Manner die judischen Hauser in Worms Juden die nicht zuvor Zuflucht im Bischofshof gesucht hatten wurden von der aufgebrachten Menge angegriffen und wenn sie die Taufe verweigerten was eine Vielzahl aus Uberzeugung tat grausam umgebracht Die Angriffe und die anschliessenden Plunderungen erfolgten sowohl durch Kreuzfahrer als auch durch Wormser Einwohner Nach einigen Tagen sturmte der Mob auch den Bischofshof In Worms wurden bei dem Pogrom nach einer Quelle 800 Juden nach einer anderen 400 Juden ermordet oder wahlten den Freitod Hauptartikel Pogrom von 1096 in Worms Mainz Bearbeiten Im 11 Jahrhundert waren etwa 1000 der 7000 Einwohner von Magenza Mainz Juden Die meisten von ihnen lebten in der durch den Erzbischof anerkannten Kehillah Unter den Juden in der Stadtmitte Die Verwaltung der judischen Gemeinde und die Verantwortung fur die Entrichtung der Steuern an den christlichen Souveran oblag einem Ratsgremium dessen zwolf Mitglieder durch die Gemeinde gewahlt wurden Streitigkeiten zwischen Juden wurden durch von der Gemeinde gewahlte judische Richter entschieden Im Vergleich zu den meisten christlichen Einwohnern war die judische Bevolkerung uberdurchschnittlich gebildet und viele waren des Lesens und Schreibens machtig Das judische Viertel stellte zwar politisch eine eigene Stadt in der Stadt dar wirtschaftlich herrschte jedoch reger Austausch zwischen den christlichen und judischen Einwohnern von Mainz Dennoch begegneten viele Christen der ihnen fremden Kultur angstlich und ablehnend Die Juden wurden unter anderem wegen ihrer hoheren Bildung und ihres fremdartigen Glaubens verspottet und verleumdet Am 25 Mai 1096 erreichte Emichos Tross schliesslich Mainz 5 Nach zwei Tagen Warten vor den verschlossenen Stadttoren wurden diesen vermutlich gegen den Befehl des Erzbischofs Ruthard II dann doch geoffnet und es kam sofort zum Pogrom Hauptartikel Pogrom von 1096 in Mainz Nach den Chroniken wurde die judische Gemeinde fast vollstandig vernichtet laut Rolf Dorrlamm 13 starben 600 Gemeindemitglieder Lotter dagegen macht geltend dass die in den Chroniken dargestellten Selbstopferungen vermutlich idealisiert dargestellt wurden 14 einerseits aufgrund der Scham der Uberlebenden die der Taufe zugestimmt haben aber auch um den nachfolgenden Generationen ein Beispiel von Standhaftigkeit zu geben Auch die Tatsache dass sich die judischen Gemeinden nach den Verfolgungen relativ schnell erholt haben spricht fur eine betrachtliche Anzahl Uberlebender Einer der uberlebenden zwangsgetauften Juden zundete wenige Tage spater zuerst sein Haus dann die Synagoge und sich selbst an um sich so von der Schmach zu reinigen seinen Glauben verraten zu haben Verfolgungen in den nordlichen Rheingebieten Bearbeiten Von Mainz aus wandte sich Emicho nach Norden wo es in Koln bereits im April zu Ausschreitungen gekommen war Die Juden hatten die Stadt verlassen und sich in der Umgebung versteckt Der Einfluss des Kolner Erzbischofs Hermann III von Hochstaden verhinderte hier eine grossere Zahl von Opfern Emicho kam zu dem Schluss dass er im Rheinland seine Aufgabe erledigt habe und setzte seinen Kreuzzug mainaufwarts und donauabwarts Richtung Ungarn fort In Mainz hatte sich eine Gruppe von Emichos Haufen abgesetzt die die Mosel hinauf zog und die judische Gemeinde von Trier angriff Erzbischof Egilbert versuchte zunachst die Juden zu schutzen musste dann aber einsehen dass er gegen den Mob nicht ankam 5 Er forderte daraufhin die Juden auf sich taufen zu lassen was die meisten jedoch ablehnten Einige Juden toteten sich und ihre Angehorigen selbst in dem sie zum Beispiel vom Turm der Basilika sprangen Daraufhin liess der Bischof die Mauern der Basilika bewachen und die Zisternen verschliessen um zu verhindern dass die Frauen ihre Kinder dort hineinwerfen konnten 4 Dann liess er die Juden gewaltsam taufen ohne dass diese Widerspruch einlegen konnten 4 Aus diesem Grund sind nur wenige Juden den Kreuzfahrern zum Opfern gefallen Schliesslich gelangte diese Gruppe der Kreuzfahrer nach Metz wo diese 22 Juden toteten Danach zogen die Kreuzfahrer nach Koln weiter wo sie feststellen mussten dass Emicho bereits abgezogen war Auch am Niederrhein kam es vom 24 Juni bis 27 Juni zu Ausschreitungen gegen die in Neuss Wevelinghoven Eller und Xanten ansassigen Juden bevor sich diese Gruppe der Kreuzfahrer endgultig zerstreute In Eller und Xanten ist es zu einer grossen Anzahl von Selbsttotungen und Totungen der Angehorigen unter den Juden gekommen 15 Der Untergang des Kreuzfahrerheeres in Ungarn Bearbeiten Der Chronist Ekkehard von Aura berichtet dass sich Emichos Haufen in dem sich auch Frauen befanden im Vertrauen auf den allen Kreuzzugsteilnehmern gewahrten Ablass vom Geist der Hurerei habe befallen lassen Dies und die Erfahrungen die die Ungarn mit Volkmar und Gottschalk gemacht hatten veranlassten Konig Koloman Emichos Kreuzfahrern die Durchreise durch sein Land zu verweigern Bei den folgenden Kampfen wurden sie in der Nahe des Grenzflusses Leitha fast vollstandig aufgerieben Emicho kehrte nach Hause zuruck Wilhelm der Zimmermann und andere schlossen sich in Italien schliesslich Hugo von Vermandois und dem Hauptzug der Kreuzfahrer an Historische Quellen und Klagelieder BearbeitenZu dem Pogrom gibt es mindestens drei zeitgenossische Berichte den Bericht des Salomo bar Simeon 16 den Bericht des Elieser bar Nathan 17 und einen dritten Bericht eines Anonymus erzahlend weit mehr ausgeschmuckt in einigen Fakten insbesondere Daten abweichend und aufgrund inhaltlicher Anhaltspunkte in der vorliegenden Fassung wohl fruhestens in der zweiten Halfte des 14 Jahrhunderts niedergeschrieben 18 Zu den Gewalttaten in den SchUM Stadten ist das zeitgenossische Klagelied 19 des Kalonymos ben Jehuda uberliefert das zu der grossen Familie der Kalonymiden zu rechnen aber daruber hinaus nicht eindeutig zuzuordnen ist Daruber hinaus gibt ein Menge weiterer Klagelieder die auch heute noch in den Synagogen der Welt rezitiert werden 20 Das Vier Stufen Modell von Friedrich Lotter BearbeitenDie Dynamik der Verfolgungen in den verschiedenen Stadten wurde von dem Historiker Friedrich Lotter in einem Vier Stufen Modell beschrieben 21 Phase 1 Schutz Ein Schutz der Juden gegenuber dem Kreuzfahrerhaufen konnte durch die stadtischen Autoritaten z B vom Bischof in Speyer aufrechterhalten werden Phase 2 Bedingte Zwangstaufe Eine bedingte Zwangstaufe der erwachsenen Juden die eine verbale Zustimmung geben mussten wurde von Geistlichen unter den Kreuzfahrern durchgefuhrt zum Beispiel in Worms Falls die Juden sich der Taufe verweigerten wurden sie getotet und deren Kinder an christliche Pflegeeltern gegeben oder ins Kloster geschickt Phase 3 Selbsttotungen Kiddusch Ha Schem Auf die Drohung der Ermordung und bedingten Zwangstaufe reagierten die Juden besonders in Mainz Eller und Xanten mit der Selbsttotung der Familien Phase 4 Taufe unter absolutem Zwang Eine Zwangstaufe ohne verbale Zustimmung der Juden bei dem eigentlichen Taufritual wird als Reaktion auf den Druck der Kreuzfahrer und der Selbsttotungen der Juden von den Autoritaten in den Stadten veranlasst zum Beispiel in Trier Geschichtliche Folgen der Rheinlandpogrome BearbeitenDie Rheinlandpogrome hatten verheerende Folgen fur das judisch christliche Verhaltnis in den folgenden Jahrhunderten die bis zum Holocaust und in die Gegenwart Wirkung zeigen sollten 22 War das Zusammenleben von Juden und Christen bis zu den Pogromen im Jahre 1096 von einer gewissen Unbefangenheit charakterisiert 23 so hat sich durch die Rheinlandpogrome das Verhaltnis zwischen den Vertretern der zwei Glaubensrichtungen grundsatzlich zum Schlechteren verwandelt In diesem Zusammenhang bezeichnete Jakob Matthiessen die Verfolgungen wahrend des Ersten Kreuzzugs als eine Urkatastrophe des europaischen Judentums 3 Ein wichtiger Grund fur das entstehende Misstrauen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften war die christliche Interpretation der judischen Reaktionen auf die durch die Kreuzfahrer gewalttatig angedrohte Forderung der Taufe Auf judischer Seite wurde im Zuge der Aufarbeitung der Verfolgungen die Vorstellung entwickelt dass Gott die Gewalt die den Juden angetan wurde vergelten wurde 24 In den judischen Quellen wurde in diesem Zusammenhang von Schlachtungen gesprochen 25 einer Art rituellen Opferns des eigenen Lebens und des Lebens der Kinder um ein Eingreifen Gottes zu provozieren Die Frage der Vertretbarkeit einer Selbsttotung oder gar der Totung Angehoriger ist im Judentum umstritten da das Leben in dem mehr am Diesseits ausgerichteten Judentum einen sehr hohen Wert hat 26 Jeremy Cohen weist in diesem Zusammenhang auf Interaktionen zwischen judischen und christlichen Martyrermotiven in den judischen Chroniken hin so sind dort zum Beispiel christliche Abendmahlmotive in die Beschreibungen des Kiddush HaSchems eingeflossen 27 Die Sprache in den judischen Chroniken gegen die Christen war und dies ist aufgrund der erfahrenen Gewalt nachvollziehbar sehr hart Jesus wurde dort zum Beispiel als der gehangte Bastard 28 und die Kirche als Haus der Unreinheit 28 bezeichnet Diese aufgrund des von Christen an Juden verubten Leides verstandliche Reaktion war von vielen Christen nicht unbemerkt geblieben und hat im Zusammenspiel mit dem virulenten kirchlichen Antijudaismus zu erheblichem Misstrauen auf christlicher Seite gefuhrt Der judische Historiker Israel Yuval hat in diesem Zusammenhang die Entstehung der Ritualmordlegende mit den Verfolgungen in Verbindung gebracht Die Handlungsweise der judischen Martyrer von 1096 und besonders die propagandistische Verbreitung dieser Taten waren dazu angetan die angebliche judische Vorliebe fur die Opferung von Kindern zu erharten In der mittelalterlichen Welt von Interpretation und Gegen Interpretation konnte so der Eindruck entstehen dass Juden speziell Kindern gegenuber brutal seien Diese Brutalitat richtete sich zwar nur gegen ihre eigenen Kinder und das nur unter extremen Umstanden aber der christlichen Umwelt diente diese Beobachtung zum Beweis dafur dass durch judische Mordgier vor allem Kinder gefahrdet seien Demnach ware die Ritualmordbeschuldigung sozusagen das Spiegelbild von Taten die Juden zur Vermeidung von Zwangstaufe wahrend des Ersten Kreuzzugs begangen haben sollen Israel Yuval Zwei Volker in deinem Leib S 192 So konnten insbesondere die judischen Kindstotungen die die Eltern zur Verhinderung der Taufe ihrer Sohne und Tochter in dieser extremen Verfolgungssituation durchgefuhrt haben auf christlicher Seite zur Verstarkung bestehender Vorurteile gefuhrt haben Zweifellos haben die grauenvollen Erlebnisse des ersten Kreuzzugs bei den Juden ganz allgemein Abscheu und Hass gegen die christliche Religion und deren Verfechter erzeugt und die historische Erinnerung in den hebraischen Chroniken Martyrologien und Selichot liess diese Erfahrungen nicht in Vergessenheit geraten Die zahlreichen Gebete um Rache an den Schuldigen durften wiederum den Christen nicht ganz verborgen geblieben sein und dazu beigetragen haben auch auf dieser Seite Misstrauen und Hass weiterhin zu schuren So stellen wir fest dass bei unaufgeklarten Mordtaten immer ofter Juden allgemein verdachtigt wurden Das Bild des Juden der sein Kind lieber totet als es der Religion des christlichen Erlosers auszuliefern das zugleich in entsprechenden schon alteren Legenden zunehmend verbreitet wurde forderte die Entstehung und Verfestigung der Vorstellung vom judischen Ritualmord an christlichen Kindern Friedrich Lotter Tod oder Taufe S 151 So stellen die Verfolgungen im Jahre 1096 einen prinzipiellen Bruch in dem judisch christlichen Zusammenleben dar deren langfristige Konsequenzen die Geschichte des europaischen Judentums massgeblich gepragt haben An die Verfolgungen wird noch heute in den Synagogen der Welt erinnert Sowohl am Rosch ha Schanah dem Tag des Gerichts als auch dem zehn Tage spater stattfindenden Versohnungstag Jom Kippur wird in den Synagogen eine Fassung der Dichtung Unetaneh Tokef rezitiert Der Legende nach wurde sie Kalonymos ben Meschullam dem Parnas von Mainz wahrend der Verfolgungen in einem Traum offenbart Leonard Cohens Lied Who by Fire ist von dieser Dichtung inspiriert Literarische Verarbeitung BearbeitenDie Verfolgungen im Rheinland wurden in zwei Romanen behandelt und neben den drei judischen Chroniken auch in zahlreichen Legenden verarbeitet Karl E Grozinger hat in seinem Buch Jerusalem am Rhein Judische Geschichten aus Speyer Worms und Mainz eine Reihe mittelalterliche Legenden aufbereitet die die Verfolgungen aus judischer Sicht beschreiben 29 Der Roman Tod oder Taufe Die Kreuzfahrer am Rhein von Jakob Matthiessen 30 fokussiert auf die funf Tage der Verfolgungen in Mainz vom 23 Mai bis 27 Mai 1096 Das Vier Stufen Modell Lotters dient als Vorbild des Plots in dem die fiktive Figur des Rabbi Chaims mit der Entscheidung zwischen Martyrium und Uberleben ringt In letzter Not fordert Chaim seinen Freund den Domdekan Raimund auf eine Zwangstaufe durchzufuhren um so den verbliebenen Rest der judischen Gemeinde zu retten Die Juden sollen beim Taufritual jedoch nicht aktiv zustimmen mussen entsprechend einer Taufe unter absolutem Zwang nach Lotters Modell Dabei beruft Chaim sich auf eine Gesetzesauslegung Takkanah des verstorbenen Rabbis Gerschom ben Jehuda Matthiessens Roman arbeitet mit Szenen aus den mittelalterlichen judischen Chroniken die stellenweise als direkte Zitate in die Handlung eingeflochten sind Rabbi Chaim und der Domdekan Raimund fuhren einen interreligiosen Dialog in dem auch Gedanken die sich erst nach dem Holocaust in den Kirchen in voller Starke entfaltet haben zum Tragen kommen Der Roman Das Blut von Magenza von Claudia Platz 31 erstreckt sich vom November 1095 bis zum 29 Mai 1096 zwei Tage nach den Morden und Zwangstaufen der Kreuzfahrer Ausgangspunkt der Handlung ist ein Mord in einer Wormser Herberge an dem Benediktinermonch Anselm der dem Kloster auf dem Jakobsberg in Mainz angehort Der Mainzer Erzbischof Ruthard leitet eine Untersuchung durch seinen Agenten Hanno ein der zunachst in Worms und Speyer Untersuchungen anstellt Diese fuhren Hanno schliesslich nach Mainz wo er die Verfolgungen hautnah erleben muss Der Roman schliesst mit dem auch in den judischen Chroniken beschriebenen Brand der Mainzer Synagoge ab In einem Epilog wird die Situation ein Jahr nach den Verfolgungen beschrieben Quellen BearbeitenAlbert von Aachen Historia Hierosolymitana Eva Haverkamp Hg Hebraische Berichte uber die Judenverfolgungen wahrend des Ersten Kreuzzugs Monumenta Germaniae Historica Hannover 2005 Eleazar bar Nathan Quntres gezerot tatnu Bericht 1196 Bayerische Akademie der Wissenschaften Hrsg Geschichtsquellen des Mittelalters sowie Repertorium Fontium 4 310 Entstehungszeit des Berichts 1096 1146 Berichtszeit 1096 auf geschichtsquellen deLiteratur BearbeitenRobert Chazan European Jewry and the First Crusade University of California Press 1987 Robert Chazan In the Year 1096 The First Crusade and the Jews Jewish Publication Society 1996 enthalt auch Auszuge aus den hebraischen Chroniken Jeremy Cohen Sanctifying the Name of God Jewish Martyrs and Jewish Memories of the First Crusade University of Pennsylvania Press 2004 Karl E Grozinger Jerusalem am Rhein Judische Geschichten aus Speyer Worms und Mainz Worms Verlag Worms 2018 ISBN 3 944380 83 5 Alfred Haverkamp Konstanzer Arbeitskreis fur Mittelalterliche Geschichte Hg Vortrage und Forschungen Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzuge Band 47 Thorbecke Sigmaringen 1999 ISBN 3 7995 6647 3 Eva Haverkamp Hg Hebraische Berichte uber Judenverfolgungen wahrend des Ersten Kreuzzuges Monumenta Germaniae Historica Hebraische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland 1 Hebraische Berichte uber die Judenverfolgungen wahrend des Ersten Kreuzzugs Hahnsche Buchhandlung Hannover 2005 ISBN 3 7752 1301 5 Hebraisch deutschsprachige Ausgabe der Augenzeugenberichte vom Pogrom 1096 Simon Hirschhorn Thora wer wird dich nun erheben Pijutim mimagenza religiose Dichtungen der Juden aus dem mittelalterlichen Mainz Verlag Lambert Schneider bibliotheca judaica Gerlingen 1995 Friedrich Lotter Tod oder Taufe Das Problem der Zwangstaufen wahrend des Ersten Kreuzzugs In Alfred Haverkamp Hg Vortrage und Forschungen Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzuge Band 47 1999 S 107 152 online Adolf Neubauer Moritz Stern Hebraische Berichte uber die Judenverfolgung wahrend der Kreuzzuge Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland 2 Berlin 1892 Steven Runciman Geschichte der Kreuzzuge Dtv Munchen 2003 ISBN 3 423 30175 9 3 Buch 2 Kapitel Kenneth Setton Hg A History of the Crusades Madison 1969 1989 online Weblinks BearbeitenAlbert von Aachen und Ekkehard von Aura Emico and the Slaughter of the Rhineland Jews Emicho und das Massaker an den rheinischen Juden In Fordham University Richard Gottheil Joseph Jacobs The Crusades In Jewish Encyclopedia 13 August 2020 Chajm Guski 1096 Die Ermordung der Juden im Rheinland Koln und Umgebung Veroffentlicht am 13 August 2020 auf talmud de Hinweis auf den Aufsatz von Walter Saller Juden im Mittelalter Taufe oder Tod in GEO EpocheEinzelnachweise Bearbeiten Dario Fernandez Morera The Myth of the Andalusian Paradise In The Intercollegiate Review 2006 S 23 31 archive org PDF Im muslimischen Al Andalus war es bereits 1066 zum Pogrom von Granada gekommen auch Verfolgung des Jahres 4856 nach judischer Zeitrechnung a b Jakob Matthiessen Die Pogrome im Jahre 1096 eine Urkatastrophe des europaischen Judentums In Tod oder Taufe Die Kreuzfahrer am Rhein Gmeiner Verlag Messkirch 2021 S 595 613 gmeiner verlag de PDF a b c Friedrich Lotter Tod oder Taufe Das Problem der Zwangstaufen wahrend des Ersten Kreuzzugs 1999 S 146 uni heidelberg de a b c d Gerd Mentgen Kreuzzuge und Judenpogrome In Hans Jurgen Kotzur Hrsg Die Kreuzzuge Verlag Phillipp von Zabern Mainz 2004 ISBN 3 8053 3240 8 Jonathan Riley Smith Der Aufruf von Clermont und seine Folgen In Hans Jurgen Kotzur Hrsg Die Kreuzzuge Verlag Philipp von Zabern Mainz 2005 ISBN 3 8053 3240 8 S 51 63 a b c Bruno Gloger Kreuzzuge nach dem Orient Kinderbuchverlag Berlin 1985 S 19 ff Leo Trepp Die Juden Volk Geschichte Religion Hamburg 1998 ISBN 3 499 60618 6 S 66 Alexander Cartellieri Erstes Buch Der erste Kreuzzug 1095 1099 Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2019 ISBN 978 3 486 77288 3 doi 10 1515 9783486772883 003 degruyter com abgerufen am 12 Dezember 2022 Friedrich Lotter Tod oder Taufe Das Problem der Zwangstaufen wahrend des Ersten Kreuzzugs 1999 S 111 uni heidelberg de Manfred Groten Ein Urbarfragment des Kolner Domstifts aus dem fruhen 12 Jahrhundert In Jahrbuch des Kolnischen Geschichtsvereins Band 70 Nr 1 1 Dezember 1999 ISSN 0341 9320 S 5 11 doi 10 7788 jbkgv 1999 0104 vr elibrary de abgerufen am 12 Dezember 2022 a b Friedrich Lotter Tod oder Taufe Das Problem der Zwangstaufen wahrend des Ersten Kreuzzugs 1999 S 136 uni heidelberg de Rolf Dorrlamm Magenza Die Geschichte des judischen Mainz Verlag Hermann Schmidt Mainz 1995 Friedrich Lotter Tod oder Taufe Das Problem der Zwangstaufen wahrend des Ersten Kreuzzugs 1999 S 142 uni heidelberg de Friedrich Lotter Tod oder Taufe Das Problem der Zwangstaufen wahrend des Ersten Kreuzzugs 1999 S 137 uni heidelberg de Neubauer und Stern 1892 In Neubauer und Stern S 101f In Neubauer und Stern S 49 51 172 176 Abgedruckt in Fritz Reuter und Ulrike Schafer Wundergeschichten aus Warmaisa Juspa Schammes seine Ma asseh nissim und das judische Worms im 17 Jahrhundert Warmaisa Worms 2007 ISBN 3 00 017077 4 S 60 63 Simon Hirschhorn Thora wer wird dich nun erheben Pijutim mimagenza religiose Dichtungen der Juden aus dem mittelalterlichen Mainz Ausgewahlt kommentiert und eingeleitet von Simon Hirschhorn Verlag Lambert Schneider bibliotheca judaica Gerlingen 1995 Friedrich Lotter Tod oder Taufe Das Problem der Zwangstaufen wahrend des Ersten Kreuzzugs 1999 S 127 149 uni heidelberg de David Nirenberg The Rhineland Massacres of Jews in the First Crusade Memories Medieval and Modern In Medieval Concepts of the Past Ritual Memory Historiography 2013 S 279 310 Friedrich Lotter Tod oder Taufe Das Problem der Zwangstaufen wahrend des Ersten Kreuzzugs 1999 S 151 uni heidelberg de Israel Yuval Zwei Volker in deinem Leib Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spatantike und Mittelalter Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 2007 In Neubauer und Stern S 85 101 126 Jeremy Cohen 2004 S 16ff Jeremy Cohen 2004 Viertes Kapitel S 73ff a b In Neubauer und Stern S XXVII Karl E Grozinger 2018 Jakob Matthiessen Tod oder Taufe 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