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Dieser Artikel behandelt die philosophische Metapher und Redewendung Zu anderen Bedeutungen siehe Tabula Rasa Der lateinische Ausdruck tabula rasa tabula Tafel und rasa geschabt radere schaben bezeichnet ursprunglich eine wachsuberzogene Schreibtafel die durch Abschaben der Schrift geglattet wurde und wie ein unbeschriebenes Blatt neu beschrieben werden kann Wachstafel mit GriffelIm ubertragenen Sinne bedeutet tabula rasa so viel wie leer und aufnahmebereit wie ein unbeschriebenes Blatt In der Philosophie wurde mit dieser Metapher die Seele als Ort der Erkenntnis der Menschen in ihrem ursprunglichen Zustand bezeichnet bevor sie Eindrucke von der Aussenwelt empfangt Auch in der Psychologie wird die Frage gestellt ob die Psyche oder das Gehirn des Menschen anfanglich einem unbeschriebenen Blatt gleicht das im Lauf des Lebens beschrieben wird Mit der Redewendung Tabula rasa machen wird in anderen Zusammenhangen ein radikaler Neubeginn angesprochen 1 Inhaltsverzeichnis 1 Philosophie 1 1 Antike 1 2 Mittelalter 1 3 Neuzeit 2 Psychologie 3 Volkerrecht 4 Literatur 5 EinzelnachweisePhilosophie BearbeitenAntike Bearbeiten Schon Aischylos spricht davon dass sich die Erlebnisse in die Tafeln der Sinne eingraben 2 Platon vergleicht nur das Gedachtnis mit einer Wachstafel 2 In Platons Dialog Theaitetos sagt Sokrates So setze mir nun damit wir doch ein Wort haben in unsern Seelen einen wachsernen Guss welcher Abdrucke aufnehmen kann bei dem einen grosser bei dem andern kleiner bei dem einen von reinerem Wachs bei dem andern von schmutzigerem auch harter bei einigen und bei andern feuchter bei einigen auch gerade so wie er sein muss Dieser wollen wir sagen sei ein Geschenk von der Mutter der Musen Mnemosyne und wessen wir uns erinnern wollen von dem Gesehenen oder Gehorten oder auch selbst Gedachten das drucken wir in diesen Guss ab indem wir ihn den Wahrnehmungen und Gedanken unterhalten wie beim Siegeln mit dem Geprage eines Ringes Was sich nun abdruckt dessen erinnern wir uns und wissen es solange namlich sein Abbild vorhanden ist Hat sich aber dieses verloscht oder hat es gar nicht abgedruckt werden konnen so vergessen wir die Sache und wissen sie nicht 3 Im Kontext wird erortert was taugliche Erkenntnis eigentlich sei Die dabei gewonnenen Thesen werden am Ende von Sokrates samtlich zuruckgewiesen Im Hintergrund steht die platonische Anamnesis Lehre Auch bei Aristoteles einem Schuler und Kritiker Platons in vielfacher Hinsicht auch bezuglich dessen Erkenntnistheorie findet man in seinem Buch Uber die Seele Peri PSyxῆs einen Vergleich zwischen der Seele und einer Wachstafel Insofern es das Denken mit seinem Gegenstand etwas gemein hat scheint doch der eine Teil des Denkens tatig zu sein der andere empfangend Das folgt auch wenn sie selbst die denkende Seele gedacht werden kann die Vernunft fallt der Anlage nach mit ihren Gegenstanden zusammen aber in Wirklichkeit mit keinem bevor sie denkt Man muss sich das vorstellen wie bei einer Tafel auf der noch nichts wirklich geschrieben steht 4 Auch bei den Stoikern findet sich der Vergleich der Seele mit einer Wachstafel Mittelalter Bearbeiten Im Mittelalter wird der Gedanke von mehreren Philosophen aufgegriffen so von Albertus Magnus Franciscus Mercurius van Helmont und Thomas von Aquin Bei Thomas von Aquin heisst es 5 Intellectus autem humanus est in potentia respectu intelligibilium et in principio est sicut tabula rasa in qua nihil est scriptum ut philosophus dicit in III de anima Quod manifeste apparet ex hoc quod in principio sumus intelligentes solum in potentia postmodum autem efficimur intelligentes in actu Der menschliche Intellekt aber ist in Potenz bezuglich des Intelligiblen und am Anfang ist er wie eine unbeschriebene Tafel wie der Philosoph Aristoteles im 3 Buch von De anima sagt Das wird daran offensichtlich dass wir am Anfang nur der Moglichkeit spater aber der Wirklichkeit nach intelligent sind Neuzeit Bearbeiten In der Neuzeit vertrat schon Pierre Gassendi der Stammvater des neuzeitlichen Empirismus 6 und zeitgenossischer Gegenspieler von Descartes eine Tabula rasa These Insbesondere John Locke 1632 1704 griff das Bild von der Seele dem Verstand als tabula rasa auf und integrierte es in seine empiristische Erkenntnistheorie Die Seele ist laut Locke bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt im Verlauf des Lebens wird sie durch die Erfahrung gepragt 7 Lockes materialistischer Sensualismus nutzte diese These gegen die Lehre von den angeborenen Ideen ideae innatae wobei er konkret an die idealistischen Philosophen der Cambridger Schule Cambridger Platonismus Henry More Ralph Cudworth aber auch an Herbert von Cherbury sowie Descartes und seine Anhanger wie uberhaupt an die von Platon und der Stoa beeinflussten Philosophen dachte die das Vorhandensein angeborener Begriffe und Prinzipien mit Nachdruck vertreten hatten Vor allem Grundbegriffe der Mathematik und Logik wurden als angeborene Ideen betrachtet Seit Locke wird der Ausdruck tabula rasa nur noch empiristisch aufgefasst Mit seinen Auffassungen vertiefte Locke den materialistischen Empirismus von Francis Bacon Sie ubten auf die philosophische Entwicklung des 18 und 19 Jahrhunderts einen bedeutenden Einfluss aus Da aber die vornehmlich materialistischen Anschauungen Lockes sehr widerspruchliche Momente in sich bargen konnten so verschiedene Philosophen wie George Berkeley und Denis Diderot an seinen Sensualismus anknupfen Leibniz widersprach einer absoluten Tabula rasa Lehre Nach ihm gilt nur Nichts ist im Verstand was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist ausser der Verstand selbst d h die angeborenen Ideen und Erkenntnisstrukturen 8 Nach Leibniz gleicht der Verstand eines Neugeborenen nicht einer leeren Wachstafel sondern einem Stuck Marmor das Adern hat 9 Grundbegriffe und die Prinzipien der Widerspruchsfreiheit und der Satz vom zureichenden Grund liegen nach Leibniz als Dispositionen vor Ebenso widersprach Immanuel Kant der empiristischen Theorie er hielt gewisse Vorstellungen wie die Vorstellung des euklidischen Raumes oder die des Gottesbegriffes fur dem Menschen angeboren Psychologie BearbeitenIn der Neuzeit hat Sigmund Freud den Begriff des unbeschriebenen Blattes in seiner Abhandlung Notiz uber den Wunderblock 1925 in Bezug auf das System Wahrnehmung Bewusstsein in Abgrenzung zum Unbewussten verwendet 10 Einige moderne Wissenschaftsdisziplinen haben die Vorstellung von der Tabula rasa in Frage gestellt Kognitionswissenschaftler haben verschiedene angeborene Mechanismen identifiziert die Voraussetzung fur Lernen sind z B einen Sinn fur Objekte und Zahlen eine Theory of Mind Laut der Evolutionspsychologie gibt es eine Reihe von kulturellen gesellschaftlichen sprachlichen verhaltensbezogenen und psychologischen Merkmalen die sich in allen menschlichen Populationen finden Zweitens konnen viele menschliche Charakteristika z B Appetit Rache Attraktivitat nur als evolutionare Anpassungen im Kontext der Jager und Sammler verstanden werden Die Neurowissenschaft hat gezeigt dass das pranatale Gehirn komplexe Verschaltungen durchlauft die genetisch gesteuert werden Auch vertragt sich die Tabula rasa nicht mit der Erkenntnis der Verhaltensgenetik dass alle Personlichkeitseigenschaften teilweise erblich sind 11 Volkerrecht BearbeitenZum Tabula rasa Prinzip im Volkerrecht siehe Clean slate rule Literatur BearbeitenSteven Pinker Das unbeschriebene Blatt Die moderne Leugnung der menschlichen Natur Berlin Verlag Berlin 2003 ISBN 3 8270 0509 4 Einzelnachweise Bearbeiten Duden online tabula rasa a b Arnim Regenbogen Uwe Meyer Worterbuch der philosophischen Begriffe Meiner Hamburg 2005 Stichwort tabula rasa Platon Theaitetos 191c Ubersetzung Friedrich Schleiermacher 1805 Aristoteles De anima Uber die Seele III 4 429b29 430a2 Thomas von Aquin Summa Theologiae I q 79 art 2 corr Otfried Hoffe Kleine Geschichte der Philosophie 2 Aufl C H Beck Munchen 2008 S 175 John Locke Versuch uber den menschlichen Verstand 1690 Buch 2 Kap 1 2 Alle Vorstellungen kommen von der sinnlichen und Selbst Wahrnehmung Wir wollen also annehmen die Seele sei wie man sagt ein weisses unbeschriebenes Blatt Papier ohne irgend welche Vorstellungen wie wird sie nun damit versorgt Ubersetzung Julius von Kirchmann 1872 73 Leibniz nach P Kunzmann F P Burkard F Wiedemann dtv Atlas Philosophie Munchen dtv 13 Aufl 2007 S 113 Otfried Hoffe Kleine Geschichte der Philosophie 2 Aufl Beck Munchen 2008 S 190 Sigmund Freud Notiz uber den Wunderblock textlog de Steven Pinker The Blank Slate PDF 262 kB in The General Psychologist 2006 Vol 41 Nr 1 S 1 8 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Tabula rasa amp oldid 219158694