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Der Sensualismus ist aus Sicht der akademischen Philosophie eine besonders in England im 17 Jahrhundert einflussreiche Geistesstromung der Aufklarung Davon ausgehend ist er aber auch eine in Frankreich heimische philosophische Richtung die Erfahrung auf individuelle Sinneseindrucke d h aus neurophysiologischen Reizen bzw Wahrnehmungen bezieht Der Sensualismus ist damit die ursprungliche Art und Weise der grundlichen Reflexion uber den Menschen in seinem Verhaltnis zu seiner physischen Umwelt Der Terminus Sensualismus war zum ersten Mal 1804 von dem Franzosen Joseph Marie Degerando in seiner Geschichte der Philosophie verwendet worden Er bezeichnete damit neuzeitliche Theorien die physisches Empfinden als Ursprung allen Denkens und Handelns auffassten In der Folge wurde die Bezeichnung Sensualismus als philosophiehistorische Kategorie genutzt und auch auf vergleichbare Sichtweisen antiker Philosophen angewendet 1 Inhaltsverzeichnis 1 Antiker Sensualismus 2 Sensualismus im Mittelalter 3 Neuzeitlicher Sensualismus 4 Weblinks 5 EinzelnachweiseAntiker Sensualismus BearbeitenEs werden Vertreter der Kyrenaiker 2 Kyniker Sophisten Skeptiker und Stoiker zu den Sensualisten gezahlt Antisthenes Protagoras Gorgias Epikur Zenon Pyrrhon Sextus Empiricus gehorten zu den bekanntesten Ihre sensualistischen Auffassungen waren sehr unterschiedlich ausgepragt Im Wesentlichen meinten diese Philosophen dass Menschen nur sinnliche Empfindungen wahrnehmen Empfinden wurde daher mit Wahrnehmen gleichgesetzt Was sich beim Wahrnehmen zeigte nannte man Phanomene altgr phainomena Mit diesem Wort hatte man davor nur die auf und untergehenden Gestirne bezeichnet nach deren Konstellationen die seefahrenden Griechen ihren Kurs nahmen Philosophisch hiess das nun Jeder gehe von dem aus was sich ihm jeweils zeige und messe daran seine Entscheidungen Die Dinge sind fur mich so wie sie mir erscheinen und fur Dich so wie sie Dir erscheinen meinte Protagoras In diesem Sinne wurde jeder Mensch nach Protagoras zum Mass aller Dinge der Dinge die mir erscheinen Daraus ergab sich auch Wahr sei das was jeder fur wahr halte bzw alles sei falsch meinte der Sophist Gorgias womit er die Dichotomie wahr falsch als absurd bezeichnete Die Konsequentesten unter ihnen entschieden sich fur Zuruckhaltung Fur Wahrheit habe der Mensch kein Mass bzw kein Kriterium und darum solle man von Wahrheit gar nicht erst reden Wissen war das Ergebnis eigener Erfahrungen und wurde daher als veranderlich und individuell bestimmt betrachtet Es musste sich immer wieder neu bewahren Sensualisten schlussfolgerten daraus Ein Wissen das immer und fur jeden gleich gultig d h allgemeingultig sei gabe es nicht Das geflugelte Wort Ich weiss dass ich nichts weiss knupfte an diese Einsicht an Zwei weitere gemeinsame Merkmale ihrer Auffassungen waren die Ablehnung mythischer Auffassungen und die Akzeptanz der Grenzen menschlicher Wahrnehmung Antike Sensualisten verneinten die Moglichkeit Kenntnisse uber Gotter zu erhalten Glauben konne man daruber hinaus was man wolle Sie stellten aber aus Angst vor Verfolgung selten ausdrucklich die Existenz der Gotter in Frage Grenzen menschlichen Wissens anzuerkennen und Zuruckhaltung im Urteilen charakterisierte deshalb sensualistische Philosophen Dies brachte ihnen die Bezeichnung skeptikoi ein Als skeptikos galt unter den Griechen jemand der interessiert und grundlich forschte Sinnliches Wahrnehmen war nicht nur Basis menschlichen Wissens sondern auch Basis des Handelns und Verhaltens Orientierungen dafur zu liefern hielten sie fur die zentrale Aufgabe von Philosophen Sie rieten sich in allem Menschlichen an naturlichen Ablaufen und Gegebenheiten anstatt an traditionellen mythischen Auffassungen auszurichten Jeder solle sich so verhalten dass es nach grundlichen Nachdenken seiner Lebensfreude diente Dieser pragmatische Ansatz wurde von neuzeitlichen Philosophiehistorikern als Hedonismus bezeichnet und aus christlicher Sicht verworfen Prinzipiell achteten Sensualisten die hellenische Moral und religiosen Brauche An die Stelle eines absoluten Guten setzten sie dasjenige was allen gemeinsam nutzt 3 Fur die erfolgreiche gemeinschaftliche Gestaltung des Lebens in den griechischen Stadtstaaten kam es auch darauf an sich untereinander uber Wissen auszutauschen In den Volksversammlungen warben Einzelne fur ihre Auffassungen zum Wohle der Stadt Es war daher wichtig sich klar und mitreissend ausdrucken zu konnen Sensualistische Philosophen befassten sich mit Sprachforschung Sie stellten ihre Kenntnisse jungen und erwachsenen Burgern zu Verfugung und lehrten sie Reden zu halten die andere uberzeugen konnten Diese Dienste nahmen politisch ambitionierte Athener gern in Anspruch Da sensualistische Philosophen damit Geld verdienten wurden sie von Philosophen der platonischen Akademie moralisierend kritisiert Letztere hielten solche gesellschaftlichen Dienste fur eine pflichtgemasse und kostenfreie Leistung 4 Sensualismus im Mittelalter BearbeitenDie Auffassung dass sinnliche Wahrnehmung Ursprung von Wissen sei blieb auch im Mittelalter erhalten Im Mittelalter fuhrte die Herrschaft der christlichen Weltanschauung dazu dass sensualistische Sichten nur dann akzeptabel waren wenn sie mit dem christlichen Glauben und den biblischen Aussagen vereinbar waren In der antiken Weltanschauung bestimmten Gotter auf willkurliche bzw schicksalhafte Weise das Leben der Menschen Philosophische Auffassungen wie die sensualistische gaben Orientierung fur das Handeln die das eigene Leben nur wahrscheinlich gelingen liessen Im Zentrum der christlichen Weltanschauung des Mittelalters dagegen standen ein Gottesbild und eine Theologie die einem rechtglaubigen Christen einen Rahmen geben konnten in dem das eigene Leben und die Welt in sicheren Bahnen verliefen Es entwickelte sich ein religios begrundetes Wissen uber das Handeln und die Welt das einen fur alle gultigen und verlasslichen Charakter hatte Davon abweichende sensualistische Sichten wurden als ketzerisch gebrandmarkt und von nun an wurden Skeptiker zu Zweiflern die sich dem Heil der Wahrheit verweigerten und die Gemeinschaft der Glaubigen storten 5 Bis ins Hochmittelalter war die augustinische Erkenntnistheorie vorherrschend Sie garantierte die Verlasslichkeit sinnlicher Erfahrung durch den Glauben daran dass die Geist Seele jedes Menschen unmittelbar mit Gott verbunden sei Die Wahrnehmung habe lediglich die Funktion die Geist Seele zu innerer Erkenntnis anzuregen Die menschliche Tatigkeit des Erkennens werde von gottlicher Bewegung gefuhrt die Augustinus Vernunft nannte Der jeweils eigene Glaube an die das eigene Leben umfassende Fuhrung Gottes war der Garant dafur dass man die wahre Ordnung und das wahre Wesen der Dinge und Ereignisse im Licht der inneren Wahrheit d h mit Hilfe der Vernunft Gottes erkennen konnte Diese Erkenntnistheorie wurde als Illuminationslehre bezeichnet Sie wird auch heute noch von christlichen Philosophen zur Losung erkenntnistheoretischer Probleme verwendet Wissen wie es kirchliche Autoritaten lehrten wurde so auch fur Philosophen zum objektiven Wissen 6 Mit der Verbreitung der aristotelischen Schriften durch arabisch muslimische Gelehrte wurden sensualistische Aspekte der Wahrnehmung wieder starker in die Aufmerksamkeit der mittelalterlichen Philosophen geruckt Thomas von Aquin ging davon aus dass nichts vom Menschen erkannt werde dass er nicht sinnlich empfunden habe Nichts ist im Geiste was nicht vorher in den Sinnen war Er schrankte die alles umfassende Illuminationslehre Augustins auf Glaubensaussagen ein Fur Aussagen uber die Welt uber Dinge und Ereignisse die wissenschaftlich erforscht werden konnten verneinte er eine direkte Erleuchtung Die Verlasslichkeit des Wissens garantierte Thomas mit seiner Variante der aristotelischen Abstraktionslehre die er mit dem Rahmen der christlich gottlichen Weltordnung verband Er ging davon aus dass naturliche Gesetzmassigkeiten und das was ein jedes Ding eigentlich ausmacht d h sein Wesen ausschliesslich uber die Sinne erkannt werden kann Der Geist des Menschen sei in der Lage aus dem konkreten Einzelnen die jeweils allgemeingultigen wirklichen Zusammenhange und Wesensmerkmale herauszufiltern wortlich abzuziehen um sie zu erkennen 7 Im 11 und 12 Jahrhundert wurde von den philosophierenden franziskanischen Klerikern Roscelin von Compiegne und Petrus Abaelardus diese Moglichkeit der Gewissheit in Frage gestellt Sie bestritten nicht die Abstraktionslehre Doch sie hielten Abstrahiertes nicht fur wirklicher als das konkrete Einzelne das Menschen wahrnehmen Sie behaupteten sogar dass das Einzelne die einzige Realitat sei auf das sich Erkenntnis beziehen konne Dieser sensualistische Unterschied kennzeichnete das Problem der sich durch das gesamte Mittelalter ziehenden Meinungsverschiedenheiten im Universalienstreit der weitaus radikaler schon in der platonischen Akademie begonnen hatte 8 Mit Roscelin und Abalard hatte eine philosophische Entwicklung begonnen die den Empirismus der Neuzeit und eine Wiederaufnahme sensualistischer Auffassungen einleitete Roger Bacon wurde von dieser Entwicklung dazu angeregt sich im 13 Jahrhundert entschieden fur empirische Methoden in den Naturwissenschaften einzusetzen Neuzeitlicher Sensualismus BearbeitenDer theoretische Sensualismus wurde nach Vorarbeiten von Thomas Hobbes begrundet durch John Locke der seinen Ansatz mit einem Satz des Thomas von Aquin rechtfertigte Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu Nichts ist im Verstande was nicht zuvor im Sinne war 9 Dem widersprach bereits Leibniz mit dem Zusatz nisi intellectus ipse ausgenommen der Verstand selbst Locke leitete noch samtliche einfachen Begriffe von ausseren Eindrucken ab die zusammengesetzten Substanzen Zustande Beziehungen dagegen von innerer Erfahrung gleich Reflexion Diese Theorie wurde von Pierre Gassendi unterstutzt allerdings mit der Modifikation dass in der Mathematik die deduktive Methode sinnvoll sei Fortgefuhrt wurden Lockes Uberlegungen durch David Hume der samtliche Ideen von sinnlichen Eindrucken ableitete fur ihn war das Bewusstsein nicht mehr als ein Bundel von Sinneswahrnehmungen Das Ubersinnliche konne nicht Wissensgegenstand sein Kausalitat sei kein Naturprinzip sondern lediglich unser subjektiver Eindruck von der Abfolge verschiedener Phanomene George Berkeley negierte nicht nur die objektive Basis der Ideen sondern das materielle Universum insgesamt und postulierte ein Ding existiere nur dadurch dass es wahrgenommen werde esse rei est percipi Dieser strenge Empirismus ist die Antwort auf den Rationalismus von Descartes Leibniz und Spinoza die samtliche Sinneseindrucke fur zweifelhaft und somit unzuverlassig hielten im Gegenzug halt der strenge Sensualismus alles fur Tauschung was uber die sinnliche Wahrnehmung hinausgeht In ethischer Beziehung versteht man unter Sensualismus die im Altertum namentlich von der Epikureischen Schule Aristippos von Kyrene in der neueren Zeit von Thomas Hobbes und den franzosischen Naturalisten vertretene Ansicht wonach es fur die Begriffe Gut und Bose keinen andern Massstab als die sinnliche Lust und Unlust geben soll Diese Spielart schlagt die Brucke zum Utilitarismus Die schottischen Philosophen Francis Hutcheson und Adam Smith dagegen machten anstatt der Sinnenlust den angeborenen Sinn fur Moral moral sense oder common sense zum Massstab in sittlichen Dingen Dieser moralische Sensualismus wurde wiederum in Deutschland fortgefuhrt von Friedrich Heinrich Jacobi Dem Sensualismus wird vorgehalten er sei geistfeindlich und offne dem Materialismus Tur und Tor Etienne Bonnot de Condillac etwa habe im Traite des sensations 1754 samtliche Funktionen der Seele auf rein mechanische Weise auf die ihnen zugrundeliegenden Empfindungen zuruckgefuhrt und so die Personlichkeit des Menschen verneint Auf der anderen Seite legte der Sensualist Berkeley grossen Wert auf die Bedeutung des Geistes durch den Gott die Empfindungen vermittelt und der Kernpunkt von Jacobis Moralphilosophie ist die schone Seele 10 Der franzosische Enzyklopadist und Aufklarer Denis Diderot erweist sich im Rahmen seiner Sprachtheorie als Sensualist im Sinne eines Nachfolgers oder in Auseinandersetzung zu de Condillac stehend 11 Weblinks BearbeitenAndrea Eckert Die Imagination der Sensualisten Aufklarung im Spannungsfeld von Literatur und Philosophie Universitats und Landesbibliothek Bonn Philosophische Fakultat 2005Einzelnachweise Bearbeiten Johannes Hirschberger Geschichte der Philosophie Koln Komet 2007 S 9 ff Schischkoff Georgi Hrsg Philosophisches Worterbuch Alfred Kroner Stuttgart 141982 ISBN 3 520 01321 5 zu Lexikon Stw Sensualismus Seite 632 Wolfgang Rod 1995 Der Weg der Philosophie Munchen Beck 2 Auflage 2009 Vgl zum ganzen Abschnitt auch Fredo Ricken Antike Skeptiker Munchen 1994 Johannes Hirschberger Geschichte der Philosophie Freiburg Herder 13 14 Auflage 1991 S 345 374 464 529 Christoph Horn 1995 Augustinus Munchen Beck S 61 ff Maximilian Forschner 2006 Thomas von Aquin Munchen Beck S 36ff Alain de Libera 2005 Der Universalienstreit von Platon bis zum Ende des Mittelalters Munchen Wilhelm Fink Thomas von Aquin Quaestiones disputatae de veritate q 2 a 3 arg 19 Karl Vorlander Geschichte der Philosophie Hamburg rowohlt tb 1990 Cordula Neis Anthropologie im Sprachdenken des 18 Jahrhunderts die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache 1771 Bd 67 Studia linguistica Germanica Walter de Gruyter Berlin 2003 ISBN 3 11 017518 5 S 63 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sensualismus amp oldid 216359396