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Rechtsgeltung ist ein Begriff aus der Rechtsphilosophie der die Frage nach der Gultigkeit von Gesetzen aufwirft Praktische Bedeutung erlangte das Problem der Rechtsgeltung bei den Schandgesetzen der NS Diktatur und bei den sogenannten Mauerschutzenprozessen Inhaltsverzeichnis 1 Wirksamkeit und Legitimitat des Rechts 2 Zur Geltung ungerechter Gesetze 3 Literatur 4 EinzelnachweiseWirksamkeit und Legitimitat des Rechts BearbeitenKomponenten der Rechtsgeltung sind die Rechtswirksamkeit d h die Anwendungs und Durchsetzungschance von generellen Geboten und konkreten Pflichten 1 und ihre Legitimitat Rechtfertigung normative Begrundung 2 Gebote ohne Durchsetzungschance sind nicht mehr in Kraft Gebote ohne Legitimation etwa in der Lagerordnung eines Konzentrationslagers begrunden nur ein bedingtes Mussen Macht allein kann also zwar Gehorsam erzwingen sie vermag aber keine Pflicht d h keinen Geltungsanspruch zu begrunden Ebensowenig wie ein wertloses Papier dadurch Geltung erlangt dass jemand es mit der Pistole in der Hand einem anderen als Zahlungsmittel aufnotigt gewinnt ein Imperativ demjenigen gegenuber Geltung der sich ihm zahneknirschend zu unterwerfen gezwungen ist 3 Auf keine der genannten zwei Komponenten der Rechtsgeltung kann man sich auf Dauer verlassen weil das Recht in das tatige Leben eingebunden law in action ist Die Bruchigkeit der Anwendungs und Durchsetzungschancen rechtlicher Normen zeigt sich in allen Revolutionen Diese vollziehen sich dadurch dass grundlegende Normen die das Leben einer politischen Gemeinschaft bisher bestimmt haben faktisch ihre Motivationskraft und damit ihre Anwendungs und Durchsetzungschancen verlieren und andere Normen diese gewinnen Wie rasch sich nicht nur die Wirksamkeit sondern selbst innerhalb eines Staates auch die Legitimitat von Rechtsnormen wandeln kann 4 wird z B daran sichtbar dass im Jahr 1957 das deutsche Bundesverfassungsgericht der Ansicht war die damals strafbare Homosexualitat unter Mannern verstosse gegen das Sittengesetz BVerfGE 6 434 ff wahrend im Jahr 2001 das einst strafbedrohte Verhalten durch das Lebenspartnerschaftsgesetz unter rechtlichen Schutz gestellt wurde Nach Kant beruht die Legitimitat des Rechts auf der wechselseitigen Begrenzung der Freiheiten aller nach allgemeinen Gesetzen Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen unter denen die Willkur des einen mit der Willkur des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann 5 Geht man ferner mit Kant davon aus dass das gewissenhafte Urteil des Einzelnen die letztzugangliche Grundlage moralischer Einsicht und damit auch der Gerechtigkeitseinsicht ist so heisst das auch dass jeder eine dem anderen gleich zu achtende moralische Instanz ist Fur den Bereich des Staates und des Rechts fuhrt diese Vorstellung von der gleichberechtigten moralischen Kompetenz aller zu dem demokratischen Anspruch dass alle Burger in einem freien Wettbewerb der Uberzeugungen auch uber die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit mitzubestimmen und mitzuentscheiden haben 6 das Recht also einer demokratischen Legitimation bedarf die in einer kultivierten Suche nach mehrheitlichem Konsens zu finden ist 7 Der Gedanke dass die Rechtfertigung des Rechts in seiner ordnungstiftenden Kraft liege findet sich schon bei Sokrates der sich der Vollstreckung des Todesurteils gegen ihn nicht durch Flucht entziehen wollte Meinst du dass ein Staat bestehen kann und nicht vielmehr vernichtet wird in dem Urteile die gefallt werden keine Kraft haben sondern durch einzelne Menschen ungultig gemacht und vereitelt werden 8 Sokrates zufolge gebiete es also die Rechtssicherheit dass auch das ihn treffende ungerechte Urteil gelten solle weil das Recht Ordnung schaffe und ein Chaos ausbrache wenn jeder diese Ordnung in Frage stellen konnte Vor allem aber fur Thomas Hobbes erscheint das staatliche Recht dadurch gerechtfertigt dass es Ordnung stiftet und dem Kampf aller gegen alle ein Ende setzt 9 Und nach der Ansicht Gustav Radbruchs kann die Ordnung des Zusammenlebens den Rechtsanschauungen der zusammenlebenden Einzelnen nicht uberlassen bleiben da diese verschiedenen Menschen moglicherweise entgegengesetzte Weisungen erteilen muss sie vielmehr durch eine uberindividuelle Stelle eindeutig geregelt werden 10 Doch Das Recht gilt nicht weil es sich wirksam durchzusetzen vermag sondern es gilt wenn es sich wirksam durchzusetzen vermag weil es nur dann Rechtssicherheit zu gewahren vermag 11 Hier liegt die wesentliche Begrundung des Rechtspositivismus Nach ihm wird die Geltung des Rechts vor allem mit der Rechtssicherheit begrundet Jede Rechtsanwendung orientiere sich am bestehenden Recht Dieses setze eine Gesetzgebung voraus Als normative Ordnung sei das Recht ein System von Normen Die einzelnen Normen gelten nach der Ansicht Kelsens wenn sie sich in einem Stufenbau der Rechtsordnung aus einer Grundnorm ableiten lassen 12 Die Grundnorm selbst wird dabei nicht weiter hinterfragt 13 Die Anderung des positiven Rechts obliege der Rechtspolitik Zur Geltung ungerechter Gesetze BearbeitenFur die rechtspositivistische Auffassung sind die geltenden Gesetze der einzige Massstab fur Recht und Gerechtigkeit Sollen aber auch vollig ungerechte und womoglich sogar verbrecherische Gesetze gelten Dies ware die Konsequenz aus der Lehre eines strengen Rechtspositivismus der die Geltung von Normen allein auf deren positive Setzung zuruckfuhrt Die obersten deutschen Bundesgerichte befurworten dagegen in standiger Rechtsprechung eine Geltungsgrenze fur gesetzliches Unrecht Diese bestimme sich nach der Radbruchschen Formel 14 Nach Radbruchs Meinung ist der Positivismus gar nicht in der Lage aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begrunden 15 Rechtsvorschriften ist die Geltung als Recht dieser Ansicht zufolge dann abzuerkennen wenn sie fundamentalen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit sowie den elementaren Menschenrechten so evident widersprechen und in ihnen ein offensichtlicher schwerwiegender Verstoss gegen die Grundgedanken der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit zum Ausdruck kommt dass der Richter der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte Unrecht statt Recht sprechen wurde Solche Rechts Vorschriften sind als extremes staatliches Unrecht auch nicht dadurch wirksam geworden bzw erlangen auch nicht lediglich dadurch die Qualitat als Recht dass sie uber einige Jahre hin praktiziert worden sind oder dass sich seinerzeit die Betroffenen mit den Massnahmen im Einzelfall abgefunden haben Denn einmal gesetztes extremes staatliches Unrecht das offenbar gegen konstituierende Grundsatze des Rechts verstosst und das sich nur solange behaupten kann wie der dafur verantwortliche Trager der Staatsmacht faktisch besteht wird nicht dadurch zu Recht dass es angewendet und befolgt wird 16 Nach anderer Ansicht ist zunachst genau zu bezeichnen was man unter Rechtsgeltung und geltendem Recht versteht nur die Wirksamkeit oder zugleich die Legitimitat rechtlicher Normen 17 Meinen wir damit Normen die eine verlassliche Chance haben in einem staatlich organisierten Erzwingungsverfahren durchgesetzt zu werden dann ist kein Zweifel dass die ungerechten Gesetze in einem Unrechtsstaat geltendes Recht in diesem Sinne sind Meinen wir aber Normen die nach unserem Gerechtigkeitssinn nicht als Recht angewendet werden sollten dann mussen wir zur Kenntnis nehmen dass die Wirksamkeit der in einem Unrechtsstaat angewandten ungerechten Gesetze sich auf diese Weise nicht wegdefinieren lasst Auch wenn Aussenstehende diese Gesetze nicht als Recht bezeichnen bleibt deren Wirksamkeit bestehen Die Ungultigkeit des ungerechten Gesetzes muss bewirkt oft unter hohem Einsatz errungen werden den ungerechten Normen muss die Anwendungs und Durchsetzungschance genommen werden Doch unter der Tyrannei ist das eine lebensgefahrliche Sache 18 Lasst sich aber ein Satz wie die Radbruchsche Formel schon aus einer rechtsstaatlichen Verfassung ableiten oder ist er zum Verfassungsgewohnheitsrecht geworden dann ist er schon de lege lata ein rechtsgultiger normativer Massstab an dem das sonstige Recht zu messen ist Literatur BearbeitenImmanuel Kant Die Metaphysik der Sitten Metaphysische Anfangsgrunde der Rechtslehre 2 Auflage Konigsberg 1798 Hans Kelsen Was ist juristischer Positivismus In JuristenZeitung 20 Jg 15 16 1965 S 465 469 Hans Kelsen Reine Rechtslehre 2 Aufl F Deuticke Wien 1960 S 196 ff Helmut Coing Rechtsphilosophie 5 Aufl Kap V de Gruyter Berlin 1993 ISBN 3 11 013810 7 Robert Alexy Begriff und Geltung des Rechts Karl Alber Verlag Freiburg Breisgau u a 1992 ISBN 3 495 47729 2 Alber Reihe Rechts und Sozialwissenschaft Gustav Radbruch Rechtsphilosophie Studienausgabe Herausgegeben von Ralf Dreier und Stanley L Paulson 2 uberarbeitete Auflage C F Muller Heidelberg 2003 ISBN 3 8252 2043 5 UTB 2043 Gustav Radbruch Gesetzliches Unrecht und ubergesetzliches Recht Anhang 3 der Rechtsphilosophie 2003 Norbert Hoerster Was ist Recht Grundfragen der Rechtsphilosophie C H Beck Munchen 2006 ISBN 3 406 54147 X Beck sche Reihe 1706 Reinhold Zippelius Rechtsphilosophie 6 neubearbeitete Auflage C H Beck Munchen 2012 ISBN 978 3 406 61191 9 Einzelnachweise Bearbeiten Reinhold Zippelius Grundbegriffe der Rechts und Staatssoziologie 3 Aufl 2012 11 ders Rechtsphilosophie 6 Aufl 2011 5 I IV ders Das Wesen des Rechts 6 Aufl 2012 Kap 2 d Zippelius Rechtsphilosophie 6 Aufl 2011 5 I 11 ff ders Das Wesen des Rechts 6 Aufl 2012 Kap 2 f 7 Gustav Radbruch Rechtsphilosophie Studienausgabe 1999 S 80 Vgl Zippelius Rechtsphilosophie 6 Aufl 21 III s auch Zeitgeist Immanuel Kant Die Metaphysik der Sitten Einleitung in die Rechtslehre B Zippelius Das Wesen des Rechts 6 Aufl Kap 7 b Zippelius Das Wesen des Rechts 6 Aufl Kap 7 c d und Kap 11 Zitiert nach Radbruch Rechtsphilosophie S 85 Zippelius Rechtsphilosophie 6 Aufl 11 II 3 Radbruch Rechtsphilosophie S 82 Radbruch Rechtsphilosophie S 83 Hans Kelsen Was ist juristischer Positivismus in JZ 1965 S 465 ff dazu Zippelius Rechtsphilosophie 6 Aufl 4 III Kritisch dazu Zippelius Rechtsphilosophie 6 Aufl 5 I Vgl hierzu Urteil des Bundesverfassungsgerichts BVerfG vom 17 Dezember 1953 1 BvR 147 BVerfGE 3 58 118 f Beschlusse des BVerfG vom 19 Februar 1957 1 BvR 357 52 BVerfGE 6 132 198 f vom 14 Februar 1968 2 BvR 557 62 BVerfGE 23 98 106 und vom 15 April 1980 2 BvR 842 77 BVerfGE 54 53 67 ff vgl auch Urteil des Bundesfinanzhofs BFH vom 25 Januar 1995 X R 146 93 BFHE 177 317 320 ff Gustav Radbruch in Lothar Assmann et al Zugange zur Philosophie 1 Cornelsen 2007 S 58 Gustav Radbruch Gesetzliches Unrecht und ubergesetzliches Recht Suddeutsche Juristen Zeitung 1946 S 105 ff Zippelius Rechtsphilosophie 6 Aufl 2011 6 VI ders Allgemeine Staatslehre 17 Aufl 19 II 2 Reinhold Zippelius Das Wesen des Rechts Eine Einfuhrung in die Rechtstheorie 6 Aufl 2012 Kap 9 f S 100 Normdaten Sachbegriff GND 4124033 9 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Rechtsgeltung amp oldid 235882040