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Die Reine Rechtslehre ist eine von dem osterreichischen Rechtswissenschaftler Hans Kelsen 1881 1973 entwickelte Variante des Rechtspositivismus Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts schlechthin d h sie erhebt den Anspruch auf jegliche von Menschen jemals gesetzte positive Rechtsordnung angewendet werden zu konnen mithin allgemeine Rechtstheorie zu sein Die Behandlung eines ubermenschlichen Rechts des sogenannten Naturrechts wird demgegenuber als unwissenschaftlich abgelehnt Ziel der Reinen Rechtslehre ist die wissenschaftliche Beschreibung des Rechts von den ihr fremden Beimengungen u a soziologischer psychologischer biologischer religioser ethischer und politischer Art zu scheiden Die Reine Rechtslehre vertritt das Postulat der Trennung zwischen der Sphare des Seins d h Satzen uber Faktisches und des Sollens d h Satzen uber Normatives Methodendualismus Inhaltsverzeichnis 1 Exemplarische Form des Rechtspositivismus 2 Relativitatsthese Kritik des Naturrechts 3 Trennungsthese 4 Theorie des positiven Rechts 5 Annahme der Grundnorm 6 Verhaltnis zu anderen Lehren 7 Siehe auch 8 Ausgaben 9 Literatur 10 Weblinks 11 EinzelnachweiseExemplarische Form des Rechtspositivismus BearbeitenHans Kelsen steht mit seiner reinen Rechtslehre exemplarisch fur den Rechtspositivismus er gilt als dessen konsequentester und fur die Rechtsphilosophie des 20 Jahrhunderts einflussreichster Vertreter Kelsen formulierte einen Allgemeingultigkeitsanspruch der Lehre deren universalistische Wirksamkeit in der Rechtsliteratur aber nicht unwidersprochen blieb 1 2 Dem Rechtspositivismus gemein ist die Betonung der strengen Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft worunter eine Beschrankung auf das real erfahrbare Recht ohne Ruckgriff auf metaphysische Grunde verstanden wird Dies fuhrt zur auch fur die reine Rechtslehre grundlegenden Annahme der Trennungsthese Trennung von Recht und Moral und der Relativitatsthese zur Richtigkeit von Wertvorstellungen Relativitatsthese Kritik des Naturrechts BearbeitenDie Relativitatsthese verneint die menschliche Erkenntnis einer absoluten Norm und beruht damit auf einem ethischen Nonkognitivismus bzw einem Werterelativismus Mit Verweis auf die geschichtlich auftauchenden hochst unterschiedlichen Auffassungen uber unverfugbare objektive Wertmassstabe erweist sich ein jedes Wertsystem als Kulturerscheinung und somit als relativ Es existiert kein fur Menschen ersichtliches Kriterium objektiver Art zur Beurteilung der inneren moralischen Richtigkeit einer Norm Trennungsthese BearbeitenHieraus folgt die Trennungsthese 3 Recht und Moral sind zwei voneinander unabhangige Wertsysteme Einfach ausgedruckt bezeichnet Recht das geltende Recht so wie es ist Moral hingegen bezeichnet das Recht so wie es sein soll Insoweit steht Moral fur die Vorstellung von einem kritischen Massstab fur das Recht Gerechtigkeit ist fur Kelsen ein Teilaspekt der Moral und wie er ausfuhrt ein irrationales Ideal das sich mit Wissenschaftlichkeit nicht vertragt Das bedeutet dass jede Rechtsnorm unabhangig von ihrem Inhalt als gultig geltend anzusehen ist wenn sie nur nach bestehenden Rechtserzeugungsnormen zustande kam Darum kann jeder beliebige Inhalt Recht sein 4 Hierbei ist zu beachten dass Kelsen streng unterscheidet zwischen der Geltung d i die spezifische Existenz einer Norm und der Verbindlichkeit d i die moralische Frage ob man sich an die Norm halt oder sie bricht nach Kelsen kann dies nur jedes Individuum fur sich selbst entscheiden einen objektiven Massstab kann es nicht geben Spater erweitert Kelsen die Trennungsthese In der postum erschienenen Allgemeinen Theorie der Normen 1979 universalisiert er die Trennungsthese dahingehend dass die Geltung positive Existenz jeder Normenordnung sei es z B eine bestimmte gesellschaftliche Moral eine bestimmte staatliche oder uberstaatliche Rechtsordnung oder eine Religionsgemeinschaft nicht von der inhaltlichen Ubereinstimmung mit einer anderen Normenordnung abhangen konne Theorie des positiven Rechts BearbeitenDer Rechtsbegriff wird gleichgesetzt mit dem Bestand von Rechtsnormen die das positive Recht charakterisieren Dieses Verstandnis lasst es zu die Rechtswissenschaft von Handlungsmustern wie Moral oder Politik abzukoppeln womit sie von weltanschaulichen Phanomenen freigestellt wird 5 Diese Einengung des Rechtsbegriffs fuhrt dazu dass das Recht als Staatswille erscheint 6 Recht ist fur Kelsen danach eine Ordnung inhaltlich beliebiger Zwangsnormen verstanden als rein formale Kategorie Seine Geltung insgesamt wird durch die Wirksamkeit seines Zwanges bedingt Zum Begriff positiven Rechts gehort danach dass das Unterlassen eines rechtlich gebotenen Verhaltens rechtlich organisierte Zwangsmassnahmen nach sich ziehen kann Einer daruber hinausgehenden Rechtfertigung des Zwanges bedarf es nicht um etwas als Recht zu erkennen da dessen Rechtfertigung dem Bereich des nicht empirischen Sollens Metaphysik entstammen muss und daher nicht Gegenstand der reinen Rechtslehre sein kann In der Spatphase seines Werks verschiebt sich die Gewichtung weg von der Notwendigkeit des Zwangscharakters Zwar sei es fur Rechtsordnungen wesentlich dass sie ihre Befehle auch mit Zwang umsetzen kann verallgemeinert musse jedoch eine Normenordnung nur irgendeine Form der Sanktion vorsehen z B auch die tadelnde Missbilligung oder das ehrende Loben durch die Gesellschaftsmitglieder 7 Diese Rechtstheorie des gesetzten Rechts setzte sich spatestens in der ersten Halfte des 20 Jahrhunderts durch 8 Fur Felix Somlo resultierte die Rechtsmacht aus dem zustandigen Staatswesen selbst und andere Rechtsquellen leiteten sich daraus ab 9 wenngleich spater durchaus attestiert wurde dass die Schaffung von Handlungsspielraumen fur die Demokratie in Abgrenzung zur Naturrechtslehre Spuren von ideologischer Qualitat aufwiesen 10 In den Mittelpunkt der Rechtsquellenlehre und der Rechtswissenschaft ruckte auf Kosten des wissenschaftlichen Rechts 11 das Gesetz 12 Annahme der Grundnorm BearbeitenDie Kategorien Sein und Sollen sind nach neukantianischer Auffassung streng zu trennen Weder kann von einem Sein ein Sollen abgeleitet werden Weil Richter R es gesagt hat soll Dieb D im Gefangnis sitzen noch von einem Sollen ein Sein Weil man nicht stehlen soll sitzt der Dieb D im Gefangnis Nur aus einem Sollen konne ein anderes Sollen folgen Weil man den Urteilen von Richtern folgen soll soll man die Verurteilung von Dieb D beachten Da eine Norm nichts anderes als eine Sollensanordnung ist kann man ihre Geltung nur von einer anderen im Stufenbau der Rechtsordnung hoher stehenden Norm ableiten Dies fuhrt zu einem infiniten Regress uber eine jeweils vorausgesetzte Norm deren Geltungsgrund wieder einen Geltungsgrund haben muss Um diesem Regress eine Grenze zu setzen fuhrt Kelsen die sogenannte Grundnorm ein einen Begriff den der osterreichische Volkerrechtler Alfred Verdross 1890 1980 bereits 1921 in seinem Werk Die Einheit des volkerrechtlichen Weltbildes ersonnen hat Die Grundnorm ist nicht gesetzt und hat auch keinen Inhalt Sie wird vorausgesetzt um eine Rechtsordnung in sich abzuschliessen Die Grundnorm ist demnach eine transzendentallogische Voraussetzung Davon ausgehend wird eine Rechtsordnung dann als die Gesamtheit der Normen definiert die sich auf eine Grundnorm zuruckfuhren lasst In der 1 Auflage der Reinen Rechtslehre 1934 hat Kelsen seine Grundnorm als Hypothese aufgefasst In der 2 Auflage 1960 geht er dazu uber die Grundnorm als Fiktion anzusehen Am Ende votiert er fur diese letzte Ansicht und scheint sich weiter von der Transzendentallogik zu entfernen Die Grundnorm ist nun eine echte Fiktion im Sinne der Vaihingerschen Als Ob Philosophie Der Denkzweck der Grundnorm ist die Begrundung der Geltung der eine positive Moral oder Rechtsordnung bildenden Normen Dieses Ziel ist nur im Wege der Fiktion zu erreichen Daher ist zu beachten dass die Grundnorm im Sinne der Vaihingerschen Als Ob Philosophie keine Hypothese ist als was ich sie selbst gelegentlich gekennzeichnet habe sondern eine Fiktion die sich von der Hypothese dadurch unterscheidet dass sie von dem Bewusstsein begleitet wird oder doch begleitet werden soll dass ihr die Wirklichkeit nicht entspricht 13 Verhaltnis zu anderen Lehren BearbeitenDie Reine Rechtslehre steht dem Naturrecht aber auch der soziologischen Rechtsschule von Max Weber und Eugen Ehrlich ablehnend gegenuber Ihr Rechtsbegriff der sich auf Setzung und Zwang grundet grundet sich letztlich auf Macht Einer der Hauptantipoden der Reinen Rechtslehre war Carl Schmitt Siehe auch BearbeitenAxiom im Vergleich zur Grundnorm als Hypothese Ausgaben BearbeitenReine Rechtslehre 1 Aufl Leipzig und Wien 1934 2 Aufl Wien 1960 Reine Rechtslehre Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik Hrsg Matthias Jestaedt Studienausgabe der 1 Auflage 1934 Mohr Siebeck Tubingen 2008 ISBN 978 3 16 149703 2 oapen org PDF Reine Rechtslehre Mit einem Anhang Das Problem der Gerechtigkeit Hrsg Matthias Jestaedt Studienausgabe der 2 Auflage 1960 Mohr Siebeck Tubingen 2017 ISBN 978 3 16 152973 3 Literatur BearbeitenCarsten Heidemann Die Norm als Tatsache zur Normentheorie Hans Kelsens zugleich Dissertation an der Universitat Kiel 1995 96 Nomos Verlagsgesellschaft 1997 ISBN 3 7890 4664 7 Matthias Jestaedt Ralf Poscher und Jorg Kammerhofer Hrsg Internationale Vereinigung fur Rechts und Sozialphilosophie Verf Die Reine Rechtslehre auf dem Prufstand Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung fur Rechts und Sozialphilosophie vom 27 29 September 2018 in Freiburg im Breisgau Hans Kelsen s pure theory of law conceptions and misconceptions Konferenzschrift 2018 Freiburg im Breisgau Beitrage teilweise deutsch teilweise englisch Franz Steiner Verlag Stuttgart 2020 ISBN 978 3 5151 2568 0 Clemens Jabloner Wie zeitgemass ist die Reine Rechtslehre In Rechtstheorie 29 Heft 1998 S 1 21 univie ac at PDF Andreas Kley Esther Tophinke Uberblick uber die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen In Juristische Arbeitsblatter Band 33 Nr 2 2001 S 169 174 doi 10 5167 uzh 3896 uzh ch Titel der gedruckten Ausgabe Hans Kelsen und die Reine Rechtslehre Axel Johannes Korb Kelsens Kritiker Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts und Staatstheorie 1911 1934 Mohr Siebeck Tubingen 2020 ISBN 978 3 16 159721 3 Brigitte Lanz Positivismus Werterelativismus und Demokratie bei Hans Kelsen zugleich Dissertation an der Universitat Potsdam 2006 dissertation de Berlin 2007 ISBN 978 3 8662 4178 7 Robert Walter Clemens Jabloner Klaus Zeleny Hrsg Der Kreis um Hans Kelsen die Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre Wien Manz 2008 ISBN 978 3 2140 7676 4Weblinks BearbeitenEintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy Rezeption und Rolle der Reinen Rechtslehre Vortrag von Horst Dreier Archiv Version PDF Datei 71 kB Einzelnachweise Bearbeiten Vgl Werner Krawietz Jerzy Wroblewski Hrsg Gregorio Robles Verf Sprache Performanz und Ontologie des Rechts Festgabe fur Kazimierz Opalek zum 75 Geburtstag Duncker amp Humblot Berlin 1993 ISBN 3 428 07390 8 S 317 ff Vgl auch Gunther Winkler Glanz und Elend der reinen Rechtslehre theoretische und geistesgeschichtliche Uberlegungen zum Dilemma von Sein und Sollen in Hans Kelsens Rechtstheorie Ausgabe 144 von Vortrage Reden und Berichte aus dem Europa Institut Europa Institut 1988 Als Urheber der Trennungsthese gilt John Austin The Province of Jurisprudence Determined 1832 Cambridge 1985 S 184 ff Nachhaltig gepragt wurde sie von H L A Hart Positivism and the Separation of Law and Morals In Harvard Law Review 71 1958 S 593 629 Siehe auch Florian Rodl Zur Kritik rechtspositivistischer Menschenrechtskonzeption In Margit Wasmaier Sailer Matthias Hoesch Hrsg Die Begrundung der Menschenrechte Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht Naturrecht und Vernunftrecht Perspektiven der Ethik 11 Mohr Siebeck Tubingen 2017 ISBN 978 3 16 154057 8 S 29 42 33 Hans Kelsen Reine Rechtslehre Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik Deuticke Leipzig Wien 1934 2 Auflage Deuticke Wien 1960 S 201 Hans Kelsen Reine Rechtslehre Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik Deuticke Leipzig Wien 1934 2 Auflage Deuticke Wien 1960 S 402 f Hans Kelsen Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze 2 Aufl Mohr Tubingen 1911 S 97 Hans Kelsen Allgemeine Theorie der Normen Im Auftrag des Hans Kelsen Instituts aus dem Nachlass hrsg von Kurt Ringhofer und Robert Walter Manz Wien 1979 S 18 f Mehrdad Payandeh Judikative Rechtserzeugung Theorie Dogmatik und Methodik der Wirkungen von Prajudizien Mohr Siebeck Tubingen 2017 ISBN 978 3 16 155034 8 S 66 Felix Somlo Juristische Grundlehre 1917 Online Archive S 330 Kathrin Groh Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik Tubingen 2010 S 113 f Jan Schroder Das Verhaltnis von Rechtsdogmatik und Gesetzgebung in der neuzeitlichen Rechtsgeschichte am Beispiel des Privatrechts In Okko Behrends Wolfram Henckel Hrsg Gesetzgebung und Dogmatik 1989 S 37 ff 55 Franz Wieacker Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berucksichtigung der deutschen Entwicklung Vandenhoeck u Ruprecht Gottingen 1952 2 Auflage 1967 S 458 ff Ubergang vom wissenschaftlichen Positivismus zum Gesetzespositivismus Hans Kelsen Allgemeine Theorie der Normen Im Auftrag des Hans Kelsen Instituts aus dem Nachlass hrsg von Kurt Ringhofer und Robert Walter Manz Wien 1979 S 206 f Normdaten Werk GND 4385563 5 lobid OGND AKS VIAF 219189592 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Reine Rechtslehre amp oldid 238534090