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Unter Isomorphie wird in der Psychophysiologie und in der Gestaltpsychologie die theoretische Gestaltidentitat verstanden zwischen dem meist in der Aussenwelt anschaulich Erlebten und den Vorgangen der Grosshirnrinde Die Erlebnisse insofern sie das Innewerden von Bewusstseinsinhalten innerhalb des Zentralen Nervensystems darstellen werden als physiologische Vorgange innerhalb der Grosshirnrinde aufgefasst bzw als Prozesse die sich oberhalb des psychophysischen Niveaus abspielen Sie werden auch als zentralphysiologisches Korrelat anschaulicher Gegenstande in der Aussenwelt oder von Reizen der innerkorperlichen Umgebung bezeichnet Anschaulicher Gegenstand des Erlebens sind alle aus der Realitat der ausseren Umwelt oder der inneren Umgebung stammenden Reize die von den Sinnesorganen aufgenommen werden und uber das afferente Nervensystem den sensorischen Projektionszentren in der Hirnrinde zugefuhrt werden Hierbei wird auch von Reizfeld gesprochen Das subjektive Erleben der sogenannten Qualia steht am Ende dieses Reizfeldes 1 2 Die von Buntstiften ausgehenden Lichtwellen werden vom Auge in neurophysiologische Signale umgewandelt Diese wiederum bewirken in den entsprechenden Zentren der Grosshirnrinde eine Wahrnehmung Buntstifte Lichtwellen neurophysiologische Signale und Wahrnehmung werden als gestaltgleich bzw isomorph bezeichnet Inhaltsverzeichnis 1 Begriffsentstehung 2 Geistesgeschichtlicher Hintergrund 3 Systemtheoretische Grundlagen 4 Ausweitung des Modellbegriffs 5 Rezeption 6 EinzelnachweiseBegriffsentstehung Bearbeiten nbsp Eine Reihe von psychologischen Modellen benutzen die topologische Metaphorik der Innen und Aussenpsychologie In der Personlichkeitstypologie finden diese Vorstellungen etwa ihren Niederschlag in der Introversion und Extraversion Dabei ist von der in der Neurophysiologie gelaufigen Sensorischen Integration ausserer Reize auszugehen Innere Strukturen wie etwa das personale Ich konnen so gebildet werden Der Begriff der Isomorphie geht auf Wolfgang Kohler 1887 1967 zuruck 3 Kohler befasste sich mit Sinnestauschungen Angesichts der von ihm beobachteten autonomen Gestaltungstendenzen innerhalb des organismischen Reizfeldes suchte er nach den gleichwohl erhaltenen Ubereinstimmungen trotz aller gesetzmassig feststellbaren Abweichungen der Wahrnehmung Seine Abhandlung stellt eine naturphilosophische Untersuchung dar weil damit eine Beziehung zwischen der Welt der physischen Dinge den Objekten und den seelischen Strukturen dem subjektiven Erleben hergestellt wird Kohler stellte seiner Arbeit das Goethe Wort voran Denn was innen das ist aussen 4 Nach Kohler und Kurt Koffka 1886 1941 handelt es sich bei den sinnesphysiologisch bedingten Abweichungen der Wahrnehmung um Feldwirkungen Die Ubereinstimmungen wurden als Gestaltidentitat d h innerhalb des Nervensystems als physiologische Prozesse angesehen die fur den jeweiligen Erlebnisinhalt spezifisch sind Die Forderung der Gestaltidentitat entspricht den ersten beiden der funf psychophysischen Axiome von Georg Elias Muller 1850 1934 Das zweite Postulat lautet Einer Gleichheit Ahnlichkeit Verschiedenheit der Beschaffenheit der Empfindungen entspricht eine Gleichheit Ahnlichkeit Verschiedenheit der Beschaffenheit der psychophysischen Prozesse und umgekehrt 4 Entsprechend dem ab 1900 als Grundtatsache der Gestaltpsychologie bekannt gewordenen Ehrenfels schen Paradigma der Melodie kann man sich vergleichsweise die nicht bewusstseinsfahigen psychophysischen Vorgange des afferenten Nervensystems als Notenschrift die bewusstseins und erlebnisrelevanten Phanomene als gespielte Musik vorstellen 2 1 Geistesgeschichtlicher Hintergrund BearbeitenSeit der Wende vom 19 zum 20 Jahrhundert bediente man sich in vielen Wissenschaften des Begriffs der Ganzheit 2 Besonders in der Psychologie war man bemuht sich von der atomistischen und mechanistischen Betrachtungsweise des 18 und 19 Jahrhunderts zu losen Damit sollte das unentstellte und ursprunglich Seelische wieder zum Gegenstand der Forschung werden Insbesondere versuchte man die Frage nach Sinn und Bedeutung des Seelischen zu stellen unabhangig etwa von der einengenden Atmosphare gewohnter Versuchsanordnungen in den Laboratorien einer experimentellen Psychologie vergleiche dazu insbesondere die Auseinandersetzung von Karl Buhler 1879 1963 mit Wilhelm Wundt 1832 1920 2 Hier studierte man teilweise mit Hilfe von Tierexperimenten hauptsachlich elementare seelische Verhaltensweisen Erworbenes Verhalten sollte moglichst ausgeschaltet werden Tiere sollten erlernen Hebel zu drucken mussten Vexierkafige offnen oder Labyrinthe durchlaufen 1 5 Wundt neigte nicht zum Behaviorismus wird aber als Vertreter einer von ihm bevorzugten objektiven Psychologie nach dem Modell der Naturwissenschaft angesehen 1 In der Soziologie machte Othmar Spann den Ganzheitsbegriff zur tragenden Saule einer universalistischen Gesellschaftslehre 2 Auch in der Padagogik sind entsprechende Ansatze wie der ganzheitliche Erstunterricht feststellbar 2 6 In der deutschen Philosophie und in der Literatur sind ganzheitliche Ansatze seit Albertus Magnus 1193 1280 und sodann in der Klassik und im Idealismus des 18 und beginnenden 19 Jahrhunderts nachzuweisen Sie sind heute immer mehr vorherrschend 2 Als Beispiel der deutschen Philosophie in Klassik und Idealismus aus der Sicht Friedrich W J Schellings 1775 1854 wird auf die Identitatsphilosophie als Beitrag zum Leib Seele Problem verwiesen Johann Wolfgang Goethe 1749 1832 ausserte sich eher kritisch zur Methode der beginnenden Naturwissenschaften und meint dabei zum Thema Natur Und was sie Deinem Geist nicht offenbaren mag Das zwingst Du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben J W Goethe Faust I Vers 674 75 Wer will was lebendig s erkennen und beschreiben Sucht erst den Geist heraus zu treiben Dann hat er die Teile in der Hand Fehlt leider nur das geistige Band J W Goethe Faust I Vers 1936 1639Systemtheoretische Grundlagen Bearbeiten nbsp Topologische Abbildung Tasse und Torus sind zueinander homoomorph gestaltgleich Bemerkung Bei topologischen Abbildungen ist nicht die geometrische Form entscheidend sondern vielmehr die Struktur Zur topologischen Struktur zahlen etwa der gebogene Henkel eines Bierkrugs die Locher eines Schweizer Kases oder die Aussparungen eines Autoreifens 7 Topologie Die Identitat von Innen und Aussenwelt als zweier Gestalten muss nicht topographische Ubereinstimmung bedeuten sondern soll nur Entsprechung im topologischen Sinne zum Ausdruck bringen Weder absolute Grossen noch Grossenverhaltnisse brauchen dabei ubereinzustimmen Vielmehr spielen eher nichtmetrische Relationen eine Rolle wie die des Enthaltenseins einer Region in einer anderen und des Angrenzens einer Region an eine andere 4 Bei topologischen Abbildungen ist eine Kugel nicht von einem Wurfel zu unterscheiden wohl aber von einem Autoreifen oder von einem Bierkrug mit Henkel siehe Abbildung 7 Der Gestalttheoretiker Kurt Lewin 1936 hat die durch ihn in die Psychologie eingefuhrte Topologie bewusst an mathematisch physikalische Strukturvorstellungen wie etwa auch an Vektorraume angelehnt 8 In der Mengenlehre gelten z B ahnliche strukturelle graphisch darstellbare topologische Vorstellungen 7 Nach Lewin handelt es sich bei zielorientiertem Verhalten um eine symbolische oder reale Bewegung 1 In ahnlicher Weise konnen nervose Strukturen symbolisch organisiert oder real bzw topistisch nach der objektiven Wirklichkeit abgebildet sein Das bekannteste Beispiel einer topistischen nervosen Organisation ist der Homunkulus siehe Abbildung siehe dazu auch den Begriff der topistischen Hirnforschung Ubersummativitat Es handelt sich dabei um ein Ehrenfelskriterium 9 Es druckt die bereits von Aristoteles festgestellte Tatsache aus dass die Elemente eines lebenden Systems nicht fur sich allein wirksam sind sondern nur zusammen mit dem gesamten Organismus Kurz Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile 4 Transponierbarkeit Auch dieses Kriterium geht auf Ehrenfels zuruck Er hat die Melodie als Gestalt beschrieben Ihre Transponierbarkeit in eine andere Tonart verandert ihre Gestalt nicht Die Veranderung der Tonart umfasst sowohl Anderungen des Grundtons als auch Anderungen des Tongeschlechts 4 nbsp Bekannte Darstellung eines kortikalen Homunkulus nach Wilder Penfield Gezeigt ist der motorische Kortex Die Skizze des Homunculus stellt eine topistische Abbildung dar in der etwa die Zonen von Hand Mund Lippen verhaltnismassig starker ausgepragt sind Ausweitung des Modellbegriffs BearbeitenTierexperimentell untersucht hat Kohler in den Jahren 1913 1920 den Gestaltzusammenhang bei der Tauglichkeit eines Hilfsmittels zum Erreichen eines bestimmten Zweckes Affen lernten solche Hilfsmittel in Form von Stocken zur Nahrungsbeschaffung zu gebrauchen Kohler benannte diesen Bezug als Einsicht und schuf mit diesem kognitiv ausgerichteten Begriff einen systemtheoretischen Gegensatz zu den von Assoziationspsychologen und Behavioristen begrundeten Theorien des Lernens am Erfolg 4 10 Damit wurde die Eindeutigkeit einer Reizreaktion wie sie etwa bei Reflexen auftritt in Frage gestellt Eine Theorie des Lernens durch Einsicht kognitives Lernen entstand Der aufgestellte Gegensatz war als zwangslaufig anzusehen insofern der Begriff des Reizfeldes uber die begrenzende Topik der primaren sensorischen Projektionszentren hinaus auf die sekundaren und tertiaren Zentren ausgedehnt wurde und demzufolge auch von Wahrnehmungsfeldern bzw von Wahrnehmungsketten gesprochen wird vgl dazu auch die Wahrnehmungstheorie 1 Die grundlegende Gegensatzlichkeit ist auch aufgrund des folgenden Zitats von John B Watson 1878 1956 als dem Begrunder des Behaviorismus zu belegen Der Leser wird keine Diskussion des Bewusstseins finden und auch nicht Termini wie Empfindung Wahrnehmung Aufmerksamkeit Wille usw Diese Worte besitzen ihren guten Klang aber ich habe bemerkt dass ich ohne sie auskommen kann offengestanden weiss ich nicht was sie bedeuten auch glaube ich nicht dass sie irgend jemand in systematisch sauberer Weise zu gebrauchen vermag 11 Teleologische Aspekte erscheinen dem naturwissenschaftlichen Denken unangemessen Durch den Gegensatz zwischen Gestaltpsychologie und Behaviorismus zeigte sich die prinzipielle Verschiedenheit zwischen subjektiver und objektiver Psychologie 12 Versuche den Gegensatz zu uberwinden bestanden u a darin eine Wechselwirkung zwischen den elementaren niedrigen und komplexen hoheren Funktionen anzunehmen siehe auch Schichtenlehre Der Anspruch der Gestaltpsychologie auf ganzheitliche Sichtweise wird gestutzt auf praktisch erprobte kybernetische Modelle so zu erklaren versucht Ganzheit ist nicht nur die Summierung einzelner Elemente Ubersummativitat 1 Auch die Vermittlungstheorie von Charles E Osgood 1916 1991 stellte einen solchen Versuch dar 4 Diese Erklarungsversuche konnen jedoch nicht als hinlanglich angesehen werden etwa um den Qualiaeffekt verstandlich zu machen Ggf erscheinen dazu eher philosophische Grundannahmen geeignet 12 Dennoch haben die Versuche einer Annaherung gegensatzlicher elementar vereinfachender und ganzheitlich komplexer Auffassungen dazu beigetragen die Funktion des Nervensystems besser zu verstehen 13 Rezeption BearbeitenEindeutige Reizreaktionen sind erst recht dann zweifelhaft wenn es sich etwa um Denkzusammenhange handelt wie die Assoziationsexperimente zwischen Reizwort und Reaktion lehren Dies wurde von Charles E Osgood aufgrund seiner Methode des semantischen Differentials naher untersucht 1 4 Osgood spricht von einem dreidimensionalen semantischen Raum der von kulturspezifischen Bedeutungsstereotypen wie Erfolg Gemut und Trauer gepragt ist siehe auch Integrationsraum 4 Durch Peter R Hofstatter wurde diese Methode in Deutschland als Polaritatsprofil bekannt Dabei stellte sich heraus dass gestalthafte Ahnlichkeiten im Polaritatsprofil dann feststellbar sind wenn man symbolisch miteinander verknupfte Begriffe vergleicht wie etwa Liebe und die Farbe rot Wie Kohler beschaftigte sich auch Osgood mit Sinnestauschungen bzw spezieller mit den sog figuralen Nachwirkungen Dabei haben C E Osgood und A W Heyer experimentelle Grunde gegen das elektrophysiologische Modell Kohlers angefuhrt 4 Einzelnachweise Bearbeiten a b c d e f g h Wilhelm Karl Arnold u a Hrsg Lexikon der Psychologie Bechtermunz Augsburg 1996 ISBN 3 86047 508 8 a Sp 1028 zu Lexikon Lemma Isomorphie Sp 2523 ff zu Stw Reizfeld s Lexikon Lemma Wahrnehmungstauschungen b Sp 414 f zu Lexikon Lemma Ehrenfels c Sp 434 ff zu Lexikon Lemma Einsicht Lernen durch d Sp 1272 zu Stw Besonderheiten des topologischen Raums s Lexikon Lemma Lewin Kurt e Sp 2523 ff zu Stw Reizfeld s Lexikon Lemma Wahrnehmungstauschungen Sp 599 f zu Stw Wahrnehmungsfeld s Lexikon Lemma Feld und Feldtheorie f Sp 2520 zu Lexikon Lemmata Wahrnehmung Abs 3 Sp 1190 Kybernetik und Psychologie g Sp 2038 zu Lexikon Lemma Semantisches Differential a b c d e f g Georgi Schischkoff Hrsg Philosophisches Worterbuch 21 Auflage Alfred Kroner Stuttgart 1982 ISBN 3 520 01321 5 a b S 326 Wb Lemma Isomorphie c g S 211 f Wb Lemma Ganzheit Wolfgang Kohler Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationaren Zustand Eine naturphilosophische Untersuchung Braunschweig 1920 a b c d e f g h i j Peter R Hofstatter Hrsg Psychologie Das Fischer Lexikon Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main 1972 ISBN 3 436 01159 2 a S 161 f zu Ganzheitlich holistische und topologische Betrachtung b S 208 zu Psychophysische Axiome von G E Muller c S 161 f zu Topologie d e S 164 210 f zu Gestalttheorie und Lernen am Erfolg f S 164 210 f zu Gestalttheorie und Lernen am Erfolg g S 219 zu Vermittlungstheorie bzw mediating responses h S 35 zum Begriff des semantischen Differentials i S 36 ff zum Begriff des semantischen Raums j S 35 162 zu Gegenargumente gegen gestalttheoretische Annahmen Charles E Osgood Method and theory in experimental psychology New York 1953 Claudia Conrad amp Gabriele Kitzinger Ganzheitlicher Erstunterricht Auer 1990 a b c Richard Knerr Lexikon der Mathematik Lexikographisches Institut Munchen 1984 a b S 432 zu Stw topologische Abbildung c S 421 zu Stw Topologie und Mengenlehre Kurt Lewin Principles of topological psychology 1936 Christian von Ehrenfels Uber Gestaltqualitaten 1890 Wolfgang Kohler Intelligenzprufungen an Anthropoiden dt Berlin 1917 1925 engl Ubersetzung The Mentality of Apes John B Watson Psychology from the Standpoint of a Behaviorist Routledge London 1980 ISBN 0 904014 44 4 Reprint der Ausgabe Philadelphia 1919 Vorrede a b Karl Jaspers Allgemeine Psychopathologie 9 Auflage Springer Berlin 1973 ISBN 3 540 03340 8 S 130 135 ff zu 1 Teil Die Einzeltatbestande des Seelenlebens 2 Kapitel Die objektiven Leistungen des Seelenlebens Manfred Spitzer Geist im Netz Modelle fur Lernen Denken und Handeln Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 1996 ISBN 3 8274 0109 7 S 139 zu Stw Gestaltpsychologie Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Isomorphie Psychophysiologie amp oldid 217675784