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Unter Lokalisation von lateinisch locus Ort Platz Stelle Bereich wird auf dem Gebiet der Neurologie die Zuschreibung von Leistungen oder Funktionen gewisser Art zu topographisch umschriebenen Nervenzellen und Gehirnregionen bestimmten Orts verstanden Als Prototyp dieser Vorstellung konnen u a die Brodmann Areale gelten die als Gehirnkarten eine moglichst genaue topische Gliederung verschiedener Leistungen der Grosshirnrinde wiedergeben sollen Die neurowissenschaftlichen Lokalisationstheorien beziehen sich auf die Beobachtung spezifischer Funktionseinschrankungen bei lokalen Hirnschadigungen sowie von Reaktionen bei Reizungen bestimmter Hirnregionen Als Ausdruck der moglichst punktgenauen Lokalisierbarkeit von neuronalen Funktionen hat sich der Begriff des Zentrums gebildet Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 1 1 Theoretische Standpunkte 1 2 Naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse 2 Entwicklungsgeschichte 3 Topische Diagnostik 4 Siehe auch 5 EinzelnachweiseGeschichte BearbeitenSiehe auch Geschichte der Hirnforschung Die Idee der funktionellen LokalisationDie zerebrale Lokalisationslehre in der Neurologie ist die Entsprechung zur Lokalisationslehre 1 in der Medizin Die diagnostischen Verfahren beruhen abgesehen von der Anamnese nahezu alle auf dem Prinzip der Lokalisation Dies bedeutet dass ein korperliches Bezugsschema zum Erkennen von Krankheit dient d h zu einer moglichst genauen Bestimmung der Lage des Krankheitsprozesses In der Neurologie und Psychiatrie ist dies jedoch in besonderer Weise problematisch vgl auch Leib Seele Problem Theoretische Standpunkte Bearbeiten nbsp Abb 1 Titelseite der Originalarbeit von Rene Descartes Les passions de l ame Paris 1649Die Anfange der heutigen durch naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse inspirierten Lokalisationslehre im ZNS sieht man von Hippokrates und Rene Descartes ab sind im 18 Jahrhundert zu sehen Hier wurde wie vorstehend im Sinne des Leib Seele Problems angedeutet eine zum Teil heftige ideologische Auseinandersetzung eingeleitet deren Folgen sich bis in die Verordnung der Erbgesundheitsgesetze des 20 Jahrhunderts fortsetzten Selbst wenn man davon ausgeht dass die Neurologie in Abgrenzung zur Psychiatrie die lokalisierbaren Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems beschreibt so ist den Vertretern einer extremen Lokalisationslehre bereits vom physiologischen Standpunkt aus entgegenzutreten Die extreme Lokalisationslehre und ihre Begrenzung auf Organe und Organbestandteile musste notwendig eine Gegenlehre hervorrufen Dies war im Bereich der Allgemeinmedizin die Psychosomatik Auf dem Gebiet der Neurologie war dies speziell die Lehre der Neuroplastizitat Sie besagt dass fur jede einzelne Leistung immer das Gesamtgehirn zusammenarbeiten muss und einzelne Funktionen uberhaupt nicht lokalisierbar seien Hirnzellen seien prinzipiell in der Lage auf jedem Gebiet spezifischer Leistungen alle moglichen Funktionen zu ubernehmen Aquipotentialtheorie 2 In neuerer Zeit hat Henri Ey 1900 1977 mit seiner organo dynamischen Theorie auf das Zusammenwirken hoherer und niedrigerer Bezirke des ZNS hingewiesen Bereits Paul Joseph Barthez 1734 1806 fuhrte die Einheit des Organismus auf ein allgemeingultiges Lebensprinzip zuruck das die einzelnen Teile des Korpers durch Sympathie zusammenhalt Marie Jean Pierre Flourens 1794 1867 unterschied 1824 zwischen ortsbestimmten und ubergreifenden Funktionen des Gehirns action propre action commune Dem entsprache heute die Unterscheidung zwischen streng lokalisierbaren Zentren Primare Rinde und Assoziationsfeldern Der strengen Lokalisationslehre steht daher heute wie vor knapp 200 Jahren eine ganzheitliche Auffassung der Gehirnvorgange gegenuber Flourens setzte sich auch mit der Phrenologie von Franz Joseph Gall 1758 1828 auseinander Rene Descartes 1596 1650 lokalisierte die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele in die Zirbeldruse siehe auch seine Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa 3 und bereits Albertus Magnus 1200 1280 vermutete den Sitz der Gefuhle und des Gedachtnisses in den Hohlraumen des Gehirns 4 Der Kirchenvater Augustinus 354 430 verband seelische Vorgange getrennt nach Vorstellung Vernunft und Gedachtnis mit der vorderen mittleren und hinteren Schadelgrube Hippokrates von Kos 460 370 v Chr der gewiss auch von naturphilosophischen Vorstellungen gepragt war kann als erster Naturwissenschaftler in der Medizin angesehen werden Er beschrieb bereits um 400 v Chr die Seele als abhangig von einem Korper 5 Nach ihm hat Erasistratos von Chios um 305 250 v Chr in der Medizinschule von Alexandria das Gehirn anatomisch untersucht und die untereinander in Verbindung stehenden Hohlraume der vier Hirnventrikel als leerstehenden Sitz der Seele angesehen 6 Heute hat sich der Lokalisationsgedanke jedoch immer mehr auch des Denkens Lernens und sogar vieler psychischer Vorgange angenommen Der Lokalisationsgedanke ist bis heute bestimmend fur die vielfach beachtete begriffliche Unterscheidung zwischen Seele und Psyche Wahrend mit Seele haufig eine immaterielle und daher nicht lokalisierbare Substanz gemeint ist wird der Begriff Psyche von der Naturwissenschaft bevorzugt im Sinne der res extensa von Descartes also der raumlich ausgedehnten Sache So ist z B im Worterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie von Uwe Henrik Peters der Begriff Seele erst gar nicht enthalten 7 Schon indem man von Seele spricht unterscheidet man sie vom Leib Bis zur These von Friedrich Albert Lange 1828 1875 von einer Psychologie ohne Seele war und ist die Frage nach der Seele Aufgabe einer eher philosophisch bestimmten rationalen Psychologie 8 Naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse Bearbeiten In rein naturwissenschaftlicher Form ist zunachst der Namen von Paul Broca zu nennen der 1861 eine motorische Aphasielehre veroffentlichte 9 John Hughlings Jackson vermutete 1864 Irritationen der Prazentralwindung als Ursache fur bestimmte fokale Anfalle 10 11 Bernhard von Gudden stellte 1870 einen Zusammenhang von Schadigung des Occipitallappens und Entfernung beider Augen bei einem jungen Tier fest 12 Carl Wernicke beobachtete 1874 erstmals eine Schadigung in der ersten Schlafenwindung bei Kranken mit einer Storung des Wortverstandnissens hieraus leitet sich die heutige Bezeichnung der Wernicke Aphasie ab 13 14 Es folgten zahlreiche Tierversuche mit elektrischer Reizung verschiedener Hirnregionen Robert Bartholow fuhrte erstmals 1874 unmittelbare cerebrale Reizversuche beim Menschen aus 15 Eine erste viel diskutierte Hirnrindenkarte entwarf Karl Kleist 1879 1960 ein Schuler Wernickes 1848 1905 Er verknupfte einzelne Hirnfunktionen mit den zytoarchitektonischen Feldern von Korbinian Brodmann 1868 1918 16 Mit einigen Abanderungen durch das Ehepaar Oskar Vogt 1870 1959 und Cecile Vogt 1875 1962 sowie den Arbeiten von Constantin von Economo 1876 1931 entspricht diese Karte der heute gebrauchlichen Hirnrindenkarte Durch zahlreiche Arbeiten am freigelegten Gehirn konnten Prinzipien der Somatotopie neurochirurgisch belegt werden Das EEG und eine Reihe von weiteren technischen Verfahren zeigten sich als hilfreich fur den Nachweis elektrophysiologischer Lokalisation 17 Entwicklungsgeschichte Bearbeiten nbsp Abb 2 Myelinisierungsstadien des Gehirns nach Paul Flechsig Die dunklen Areale werden fruh die hellgrauen spater und die weissen z T erst wahrend der Pubertat myelinisiert Paul Flechsig 1847 1929 hat auf die ontogenetische Reihenfolge der Myelinisierung des Gehirns beim Menschen hingewiesen 18 Zunachst sind die primaren sensorischen und motorischen Areale myelinisiert Dies sind Hirnrindengebiete die fur die primare Verarbeitung von Sehen Horen und Tasten verantwortlich sind und zum Ausfuhren von Bewegungen gebaucht werden Bei den in fruhen Lebensjahren noch nicht myelinisierten Arealen handelt es sich um weite Teile des Frontallappens des Parietal und Temporalhirns Es sind dies Areale die spater zum Assoziationscortex gehoren Die Myelinisierung eines Nerven setzt erst mit seiner Funktion ein Die motorischen Bahnen sind meist fruher markreif als die sensiblen Unter den sensiblen Fasern werden als erste die des Nervus vestibularis markreif Stammesgeschichtlich altere Systeme vgl a Palaocortex und Archicortex werden fruher markreif als stammesgeschichtlich junge wie z B die Pyramidenbahn 19 Ein weiterer lokalisatorischer Gesichtspunkt zur Entwicklungsgeschichte des ZNS ist die sensomotorische Gliederung Das ausgereifte menschliche Gehirn lasst in dieser Hinsicht seine Ahnlichkeit mit dem segmentalen Bauplan erkennen Dieser segmentale Bauplan geht aus der noch ungegliederten Neuralrinne hervor die fur Gehirn und Ruckenmark ein gemeinsames Ursprungsstadium darstellt Dies heisst dass im ausgereiften Gehirn topographisch anatomische Merkmale angetroffen werden wie sie auch im Ruckenmark feststellbar sind Sensible Afferenzen sind im Ruckenmark die hinteren Wurzeln motorische Efferenzen sind die vorderen Wurzelnerven In ahnlicher Weise ist auch das Gehirn gegliedert Die sensorischen Qualitaten sind in den hinteren Abschnitten des Gehirns die motorischen in vorderen Abschnitten des Gehirns lokalisiert Zu diesen motorischen Qualitaten zahlt u a auch die im Frontalhirn lokalisierte Willensbildung Die Grenzlinie zwischen sensorischen und motorischen Bereichen ist die Sylvische Furche Sie stellt sozusagen die Symmetrieachse zwischen sensorischen und motorischen Zentren dar wie z B auch zwischen sensorischem und motorischem Sprachzentrum 20 21 Nach der von Henri Ey entwickelten Organo dynamischen Theorie mussten die zuletzt ausreifenden Gehirnareale die am hochsten entwickelten Funktionen reprasentieren Die Theorie wurde jedoch von Vertretern der Lokalisationslehre wie Paul Broca angegriffen 22 23 Topische Diagnostik BearbeitenInnerhalb der Neurologie besitzt die topische Diagnostik einen besonderen Stellenwert da innerhalb des Nervensystems auf engstem Raum recht komplizierte strukturelle Zusammenhange zu beachten sind die meist mit physiologischen Besonderheiten verknupft sind Die topische Diagnostik versucht diesen Gesichtspunkten funktioneller und struktureller Art in besonderer Weise gemeinsam Rechnung zu tragen Beispielsweise endet ein peripherer Nerv rein anatomisch betrachtet bei seinem Eintritt ins Ruckenmark Aus funktionaler neuronaler Sicht verlauft ein peripherer motorischer Nerv jedoch vom Vorderhorn des Ruckenmarks ausgehend bis zur motorischen Endplatte im Muskel Diese neuronale Funktionseinheit und die Gestalteinheit aus anatomisch makroskopischer Sicht decken sich also nicht immer Funktionelle Gesichtspunkte werden von der topischen Diagnostik bevorzugt da strukturelle Besonderheiten erst durch die mit ihnen verbundenen Leistungen und Storanfalligkeiten verstandlich werden Robert Bing hat 1913 das erste Lehrbuch der Neurologie 24 verfasst das den theoretischen und empirischen naturwissenschaftlichen Grundlagen der Anatomie Topographie und Physiologie des Nervensystems den Vorrang einraumte gegenuber den sonst ublichen rein empirischen klinischen Einteilungsprinzipien nach Krankheitseinheiten Nosologie wie sie auch in der Inneren Medizin ublich ist Sein Kompendium der topischen Gehirn und Ruckenmarkdiagnostik ist bereits 1909 erschienen 25 Bing hat sein Lehrbuch in den folgenden Jahrzehnten in vielen Neuauflagen jeweils neu bearbeitet Neuere Autoren von Lehrbuchern der topischen Diagnostik in der Neurologie sind Peter Duus und Fritz Broser 17 20 Siehe auch BearbeitenTopistische HirnforschungEinzelnachweise Bearbeiten Hans Dieter Mennel Aus dem Bauch heraus denken zur Entwicklung der zerebralen Lokalisationslehre In Gerhardt Nissen Bernd Holdorff Hrsg Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft fur Geschichte der Nervenheilkunde Band 9 Wurzburg 2003 S 119 149 Hermann Rein Max Schneider Physiologie des Menschen 15 Auflage Springer Berlin 1964 S 626 Rene Descartes Les passions de l ame Paris 1649 Peter R Hofstatter Hrsg Psychologie Das Fischer Lexikon Fischer Frankfurt am Main 1972 ISBN 3 436 01159 2 Stw Gehirn S 132 f Stw Leib Seele Problem S 206 Thure von Uexkull u a Hrsg Psychosomatische Medizin 3 Auflage Urban amp Schwarzenberg Munchen 1986 ISBN 3 541 08843 5 S 141 Hermann Samuel Glasscheib Das Labyrinth der Medizin Irrwege und Triumphe der Heilkunde Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1961 S 307 f Uwe Henrik Peters Worterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie 3 Auflage Urban amp Schwarzenberg Munchen 1984 Wilhelm Karl Arnold et al Hrsg Lexikon der Psychologie Bechtermunz Augsburg 1996 ISBN 3 86047 508 8 Spalte 2017 Paul Broca Remarques sur le siege de la faculte du langage articule In Bull soc anat 36 Paris 1861 S 330 357 John Hughlings Jackson Loss of speech In Lond Hosp Rep 1864 S 388 471 Wolfgang Seeger Carl Ludwig Geletneky Chirurgie des Nervensystems In Franz Xaver Sailer Friedrich Wilhelm Gierhake Hrsg Chirurgie historisch gesehen Anfang Entwicklung Differenzierung Dustri Verlag Deisenhofen bei Munchen 1973 ISBN 3 87185 021 7 S 229 262 hier S 230 Bernhard von Gudden Experimentaluntersuchungen uber das periphere und centrale Nervensystem In Arch Psychiatr Nervenkr 1870 S 693 723 Carl Wernicke Der aphasische Symptomenkomplex Eine psychologische Studie auf anatomischer Basis Cohn amp Weigert Breslau 1874 Carl Wernicke Lehrbuch der Gehirnkrankheiten Fischer Berlin 1881 S 229 Robert Bartholow Experimental investigations into the functions of the human brain In Amer J med Sci 67 1874 S 305 313 Karl Kleist Gehirnpathologie In Handbuch der arztlichen Erfahrungen im Weltkrieg 1914 18 Band IV Barth Leipzig 1922 1934 a b Peter Duus Neurologisch topische Diagnostik Anatomie Physiologie Klinik 5 Auflage Thieme Stuttgart 1990 ISBN 3 13 535805 4 S 361 a o S b Paul Flechsig Anatomie des menschlichen Gehirns und Ruckenmarks auf myelogenetischer Grundlage Thieme Leipzig 1920 Helmut Ferner Entwicklungsgeschichte des Menschen 7 Auflage Reinhardt Munchen 1965 S 126 a b Fritz Broser Topische und klinische Diagnostik neurologischer Krankheiten 2 Auflage U amp S Munchen 1981 ISBN 3 541 06572 9 S 131 Abb 2 2 a o S b Alfred Benninghoff Kurt Goerttler Lehrbuch der Anatomie des Menschen Dargestellt unter Bevorzugung funktioneller Zusammenhange 3 Band Nervensystem Haut und Sinnesorgane 7 Auflage Urban und Schwarzenberg Munchen 1964 S 245 f Peter Duweke Kleine Geschichte der Hirnforschung Von Descartes bis Eccles Becksche Reihe 2001 ISBN 3 406 45945 5 S 73 f Martin Sack Von der Neuropathologie zur Phanomenologie Konigshausen und Neumann Wurzburg 2005 ISBN 3 8260 2379 X S 44 Robert Bing Lehrbuch der Nervenkrankheiten fur Studierende und praktische Arzte Urban amp Schwarzenberg Berlin 1913 Robert Paul Bing Kompendium der topischen Gehirn und Ruckenmarkdiagnostik Urban und Schwarzenberg Berlin Wien 1909 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Lokalisation Neurologie amp oldid 225111075