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Topistische Hirnforschung nennt man in der Neurophysiologie die seit Beginn des 20 Jahrhunderts erfolgten Versuche Regionen innerhalb des makro und mikroskopischen Bauplans des Gehirns zu beschreiben und zu umgrenzen die mit qualitativen Sonderfunktionen nach dem Prinzip der Selbstorganisation ausgestattet sind Die Beschreibung solcher Sonderfunktionen wird gestutzt durch strukturelle Besonderheiten cyto myelo angio fibrillo und glioarchitektonischer Art 1 Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Topistische Hirnforschung und Somatotopik 2 1 Sensibel und Sensorisch 2 2 Integrative Leistung des ZNS 2 3 Oberbegriff der Topik 2 4 Zwei Gruppen von Beispielen 2 5 Neuronale Netze 3 Topik und Lokalisation 4 Hirnforschung und Hirnmythologie 5 Siehe auch 6 EinzelnachweiseGeschichte BearbeitenAls Beginn der topistischen Vorstellungsweisen kann man die Annahme von Rene Descartes 1596 1650 ansehen der die Zirbeldruse im Gehirn als einzig unpaares Organ als korperlich und ortlich zustandige Instanz fur das Zusammenwirken von Leib und Seele annahm Leib Seele Problem Das Bewusstsein hielt er dabei fur die psychische und subjektiv wesentliche Substanz res cogitans alle anderen Funktionen als automatenhafte korperlich materielle Ablaufe res extensa Indem er einen solchen Zusammenhang forderte schuf er einerseits die Voraussetzung fur eine eher geisteswissenschaftliche Psychologie oder Bewusstseinspsychologie andererseits fur eine anatomisch ausgerichtete Wissenschaft Damit entsprach er den naturwissenschaftlich ausgerichteten Forschungen seiner Zeit 2 Topistische Hirnforschung und Somatotopik Bearbeiten nbsp Darstellung eines kortikalen Homunkulus nach Wilder Penfield 1950 Sowohl der gezeigte motorische Cortex als auch der sensorische Cortex sind entsprechend der dargestellten zwergenhaften Figur organisiert Sensomotorische Region Die Skizze des Homunculus stellt eine topistische Abbildung dar in der die Zonen von Hand Mund Lippen infolge funktioneller Besonderheiten verhaltnismassig starker ausgepragt sind vgl auch Anaklise Die umfassende Bedeutung des Entwurfs einer Topistischen Hirnforschung ergibt sich bereits aus der auf Wilder Penfield zuruckgehenden Begrifflichkeit der Somatotopik Diese geht zuruck auf die konkrete anatomische Organisation und die summarische Verarbeitung neuronaler Impulse die von den Hautsinnen ausgehen Siehe dazu den Tastsinn einschliesslich der Sensibilitat Die Beschreibung ahnlicher Organisationsprinzipien bei anderen Sinnesmodalitaten erfordert jedoch eine andere Sprachregelung und damit auch bestimmte Begriffsklarungen Durch Oberflachenvergrosserung wird eine Gyrusbildung angeregt Sie ermoglicht eine vermehrte Cephalisation 1 Unterschiedliche sinnesphysiologische Topien wie z B Tonotopie und Retinotopie erfordern unterschiedliche Bezeichnungen und zugleich allgemeine Begriffe um die gemeinsamen Organisationsprinzipien im Bereich dieser Sinnesmodalitaten zu beschreiben siehe dazu auch Somatotopie Kap Ursprung und Fortentwicklung des Begriffs Eine solche Klarung ist z B die notwendige Unterscheidung von sensibel und sensorisch Sensibel und Sensorisch Bearbeiten Nur in den Gehirnzentren werden afferente Sinnesbahnen als sensorisch bezeichnet Mit dem Begriff sensorisch sind solche Qualitaten und solche Nervenbahnen gemeint die das Sensorium betreffen und somit bewusstseinsfahig sind Auf der Stufe des Ruckenmarks werden afferente Bahnen welche ihren Ursprung aus der Haut als Sinnesorgan nehmen als sensible und nicht als sensorische Bahnen benannt insoweit sie z B Reflexe oder autonome Reizantworten auf dieser Ebene auslosen aber keine bewussten Reaktionen hervorrufen Diese sensiblen Bahnen bestimmen die fur das Ruckenmark typische Sensibilitat die nach der Lagebeziehung in Tiefen und Oberflachensensibilitat gegliedert ist und dann bezuglich der Diskriminationsleistung in epikritische und protopathische Sensibilitat unterschieden wird Integrative Leistung des ZNS Bearbeiten nbsp Nervensystem des Tintenfisches unbekannter Autor 1876 Der im vorstehenden Kap Sensibel und Sensorisch verwendete Begriff der Hirnzentren schliesst eine begriffliche Klarung und Unterscheidung zwischen Zentralnervensystem ZNS und peripherem Nervensystem bereits logisch in sich ein Diese nicht nur begrifflichen sondern auch durch die Anatomie des Gehirns und Ruckenmarks bedingten topistischen Unterscheidungen sind auch aufgrund des hierarchischen Aufbaus des ZNS sinnvoll 3 Das ZNS selbst ist in hohere und niedrigere Zentren gegliedert Dies ergibt sich aus dem Strukturprinzip der Entwicklung des ZNS und seines reizleitenden Apparats aus der Peripherie bzw aus dem Ektoderm 1 Dies wird durch die in der Abb angedeutete biologische Entwicklungsreihe eines noch nicht zentralisierten Nervensystems am Beispiel der Tintenfische aufgezeigt Jakob von Uexkull bezeichnete das Nervensystem von Seeigeln als Reflex Republik vgl auch Zentralismus 4 Der ab etwa 1940 1950 neu gepragte Begriff der Somatotopik hatte und hat weitreichende Bedeutung fur das Verstandnis der Arbeitsweise des Gehirns erlangt Die eine weitgehende gestaltliche bzw korperliche Einheit wahrende Punkt zu Punkt Anordnung von Korperreprasentationen Beispiel Homunkulus erfullt bekanntlich ubergeordnete integrative Funktionen innerhalb des ZNS Vor allem in der Neurophysiologie aber auch in der Psychologie und Psychosomatischen Medizin nimmt der Begriff der Integration eine wichtige Rolle fur das Verstandnis der verschiedenen Integrationsstufen oder Integrationsgrade ein Im Falle der Somatotopie sind hier zuerst die unterschiedlichen Integrationsgrade der Verarbeitung afferenter neuronaler Impulse auf der Stufe des Ruckenmarks und des Gehirns zu berucksichtigen Fur Storungen der Integration auf der Stufe des limbischen Systems oder der Formatio reticularis hat sich der Begriff der Organneurose bzw der funktionellen Syndrome eingeburgert 4 5 6 In dieser integrativen Sicht ist nicht nur eine hierarchische Gliederung feststellbar sondern auch eine somatotope Gliederung nach antagonistischen Funktionen Dies bedeutet z B dass im Bereich der Hirnrinde Streckung und Innenrollung des Fusses sowie Plantarbeugung des Fusses topisch eng beieinander liegen Dasselbe trifft z B zu fur Beugung und Streckung des Daumens des Zeigefingers des Ellenbogengelenks usw usf 7 Oberbegriff der Topik Bearbeiten Es stellt sich die Frage ob der Begriff Topik als Oberbegriff fur die verschiedenen Merkmale topischer Reprasentationen unterschiedlicher Sinnesmodalitaten brauchbar erscheint Der lediglich auf dem Tastsinn beruhende unvollstandige Begriff der Somatotopie fur die Hautsinne und das mit ihm verdeutlichte einheitliche Funktionsprinzip der topischen Integration im ZNS bedarf auch eines Oberbegriffs wenn es z B um weitere ahnliche Funktionsprinzipien bei anderen Sinnesleistungen geht Sensorische Integration Im Falle der Somatotopik handelt es sich bei der Bezeichnung Topik namlich nicht um eine einfache Lokalisation sondern um vielfaltige topische Abbildungsweisen innerhalb des ZNS und um deren integratives Zusammenspiel Man kann in diesem Fall auch von einer ubertragenen Bedeutung fur den Begriffsbestandteil Topik sprechen oder von einer Topik in verschiedenen Stufen oder Graden Auch in der Psychologie ist der Begriff Topik bedeutsam Auch hier wird er teilweise in ubertragener Bedeutung gebraucht teilweise in der Annahme dass sich konkrete streng lokalisatorische Forschungsresultate noch ergeben konnen In diesem ubertragenen Sinn erscheint Topik vor allem fur die vielfaltigen neuronalen Vorgange im Sinne einer anatomischen Topik angebracht In der englischen Sprache wird verallgemeinernd von place theory gesprochen Aber haufig wird der Begriff Somatotopie im wissenschaftlichen Schrifttum uber die reinen Reprasentationen des Tastsinns und seine verschiedenen Qualitaten hinaus noch immer verallgemeinernd fur die spezifisch topische Gliederung im ZNS auch als Oberbegriff fur die anderen Sinnesmodalitaten verwendet 8 Zwei Gruppen von Beispielen Bearbeiten Das im Falle der Somatotopik zu erkennende Funktionsprinzip im Bereich des ZNS beschrankt sich nicht nur auf die Anwendung innerhalb eines sensibel motorischen Systems Vielmehr ist dieses nur eines aus einer Vielzahl ruckgekoppelter Systeme nicht nur im Nervensystem Bereits die unterschiedlichen somatotopischen Zentren innerhalb des Grosshirns und Kleinhirns Cortex und Thalamus Cortex und Limbisches Systemmachen eine weitere Integration der verschiedenen Funktionskreise erforderlich die zwischen den genannten Strukturen bestehen Auch in der Gestaltpsychologiespielen somatotope Gesichtspunkte eine wichtige Rolle Eine ihrer Grundsatze ist die auf Platon und Aristoteles zuruckgehende These dass das Ganze mehr ist als die Summe der Teile Diese Integrationsaufgabe ist nach Francis Galton 1822 1911 wichtig fur die Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Denktatigkeiten 9 Neuronale Netze Bearbeiten Neuerdings ist diese Integrationsleistung des Nervensystems durch Netzwerksimulationen wie z B Kohonennetze naher erforscht und verstandlich gemacht worden Hierbei spielt die Gliederung eines solchen Netzes nach ganz bestimmten oder sehr unterschiedlichen Merkmalen und nicht nur nach korperlichen Gestaltsprinzipien eine entscheidende Rolle Die korperlich gestaltliche Gliederung im Falle der Somatotopie ist nur eines der Beispiele fur eine Gestaltung von Kohonenkarten Diese erfolgt allgemein nach den Prinzipien der Ahnlichkeit Haufigkeit und Wichtigkeit Relevanz 10 Topik und Lokalisation Bearbeiten Topik unterscheidet sich insofern von Lokalisation weil die topische Betrachtung von der Interaktion aller beteiligten Strukturen sowohl bei der Wahrnehmung des sinnlichen Urbilds als auch bei der Reprasentation unterschiedlicher zentraler Abbilder ausgeht Lokalisation meint immer jeweils nur ein ganz bestimmtes Merkmal an einer ganz bestimmten Stelle des ZNS Der lokalisatorische Gedanke ist fur die Anatomie in beschreibend zergliedernder Hinsicht einzelner Strukturen und Merkmale bedeutsam der topische fur das funktionelle Verstandnis der Beziehungen zwischen allen beteiligten anatomischen Strukturen Hirnforschung und Hirnmythologie BearbeitenErhobene Vorwurfe wie die der Hirnmythologie gegen Karl Kleist 1879 1960 8 oder die der Reflexmythologie gegen Iwan Petrowitsch Pawlow 1849 1936 4 fordern eine Vereinheitlichung der Sprache heraus da solche Vorwurfe aus verschiedenen Lagern stammen bei denen jeweils die Sprachregelung des andern nicht angenommen werden kann Solche Vereinheitlichung kann nur durch ubergreifende Modelle erfolgen Die Topik bietet dazu einen erfolgversprechenden Ansatz Kampferischer Bemuhungen bedurfte es zur Anerkennung der Neurologie als akademisches Lehrfach und Spezialfach Hierbei ging es vor allem um die methodische Verselbstandigung der Neurologie und um ihre Ablosung von der Inneren Medizin Diese Erfolge erzielte der Basler Neurologe Robert Bing 1878 1956 zumindest in der Schweiz Dabei spielte die topische Diagnostik eine entscheidende Rolle Bing ist als einer ihrer Pioniere zu betrachten 11 Siehe auch BearbeitenTopik Psychologie Einzelnachweise Bearbeiten a b c Alfred Benninghoff u a Lehrbuch der Anatomie des Menschen Dargestellt unter Bevorzugung funktioneller Zusammenhange 3 Band Nervensystem Haut und Sinnesorgane Urban und Schwarzenberg Munchen 1964 a b zu Kap Der Bau der Grosshirnrinde S 226 228 c zu Stw Entwicklung des reizleitenden Apparats S 107 Peter R Hofstatter Hrsg Psychologie Das Fischer Lexikon Fischer Taschenbuch Frankfurt a M 1972 ISBN 3 436 01159 2 S 206 f zu Lemma Leib Seele Problem und Stw res cogitans und res extensa Wilhelm Karl Arnold et al Hrsg Lexikon der Psychologie Bechtermunz Augsburg 1996 ISBN 3 86047 508 8 zu Lex Lemma Zentralnervensystem Stw hierarchischer Aufbau Sp 2686 f a b c Thure von Uexkull Grundfragen der psychosomatischen Medizin Rowohlt Taschenbuch Reinbek bei Hamburg 1963 a S 97 f 149 219 ff zu Stw Integrationsraum siehe die S 128 131 224 f 229 ff 234 f b S 165 ff Fritz Hartmann et al Hrsg Das Fischer Lexikon Medizin III Fischer Bucherei Frankfurt 1959 zu Stw Emotion und Emotionsverarbeitung S 152 Philip G Zimbardo Richard J Gerrig Psychologie Pearson Hallbergmoos bei Munchen 2008 ISBN 978 3 8273 7275 8 zu Stw Physiologie der Emotionen S 459 ff Leonard Landois R Rosemann Physiologie des Menschen 26 Auflage Urban amp Schwarzenberg Munchen 1950 zitiert nach Abb in Roche Wissenschaftlicher Dienst Von der Emotion zur Lasion Hoffmann La Roche Grenzach Baden 1968 S 13 a b Peter Duus Neurologisch topische Diagnostik Anatomie Physiologie Klinik 5 Auflage Georg Thieme Verlag Stuttgart 1990 ISBN 3 13 535805 4 a S 112 Dort heisst es bei der Beschreibung retinotopischer Sachverhalte vor und nach der Kreuzung der Fasern des Sehnervs im Chiasma opticum Trotz der teilweisen Kreuzung wird eine strenge somatotopische Punkt zu Punkt Anordnung bis in die Sehrinde hinein beibehalten Der Begriff der Retinotopie wird gleichwohl an anderer Stelle verwendet namlich auf den S 367 und 373 b S 362 Francis Galton Inquieries into human faculty and its developement MacMillan London 1883 S 202 f Manfred Spitzer Geist im Netz Modelle fur Lernen Denken und Handeln Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 1996 ISBN 3 8274 0109 7 S 116 Marco Mumenthaler Die Neurologie in der Ausbildung des Schweizer Arztes In Schweiz Arch Neurol Psychiatr 2008 159 S 265 256 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Topistische Hirnforschung amp oldid 207360137