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Die Vorstellung von einer Entartung oder Degeneration lateinisch de ent genus Art Geschlecht des Menschen oder der menschlichen Zivilisation hatte zwischen den 1850er bis zu den 1950er Jahren grossen Einfluss auf die Wissenschaft die Kunst und die Politik Aus bestimmten morphologischen Merkmalen Stigmata degenerationis sollte das innerste Wesen des Menschen insbesondere sein Charakter und seine Neigung zu neurotischen und geistigen Erkrankungen aber angeblich auch seine verbrecherische Veranlagung sichtbar sein Der Degenerationsgedanke entspringt einer pessimistischen Weltanschauung 1 Eng verbunden mit diesen Vorstellungen eines allgemeinen Verfalls sind zu dieser Zeit des ausgehenden 19 Jahrhunderts und beginnenden 20 Jahrhunderts einerseits die Vererbungslehre Eugenik und andererseits Rassentheorien Im heutigen Bewusstsein wird der Begriff einerseits mit Zwangssterilisationen die im nationalsozialistischen Deutschland in der Aktion T4 ihren Hohepunkt hatten und einer Kritik der Gesellschaft am Fin de siecle andererseits verbunden Inhaltsverzeichnis 1 Begriffsgeschichte 1 1 Ursprunge des Begriffs Entartung 1 1 1 Antike bis 18 Jahrhundert 1 1 2 Epoche des 19 Jahrhunderts 1 1 2 1 Gesellschaftlicher Kontext 1 1 2 2 Vertreter des Gedankens 1 1 2 2 1 Morel 1 1 2 2 2 Magnan 1 1 2 2 3 Lombroso 1 1 2 2 4 Krafft Ebing 1 1 2 2 5 Max Nordau 1 2 Zeit des Nationalsozialismus 1 3 Kritik an derartigen Entartungs Theorien 1 3 1 Oswald Bumke 1 3 1 1 Vererbung erworbener Krankheiten 1 3 1 2 Ubertragung von Geisteskrankheiten 1 3 1 3 Einfluss der Zivilisation auf die Selektion 1 3 2 Karl Jaspers 2 Stigmata degenerationis 3 Bleibende Entwicklungen 4 Literatur 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseBegriffsgeschichte BearbeitenUrsprunge des Begriffs Entartung Bearbeiten Antike bis 18 Jahrhundert Bearbeiten Das Entartungsproblem ist sehr alt Schon bei Aristoteles 384 322 v Chr taucht die Vorstellung auf Selbstmord Verbrechen und Laster aller Art liessen ein Volk entarten und untergehen Bei Rousseau 1712 1778 finden sich einige Elemente der spateren Verwendungsweise des Terminus in der Wissenschaft Hier wird unter Entartung eine negative Abweichung vom Naturzustand verstanden Nach Rousseaus Darstellung bewirkt die Zivilisation durch zu verfeinerte Ernahrung der Reichen bzw zu schlechte Ernahrung der Armen sowie durch geistige Uberanstrengung die bestandige Schwachung der ursprunglich robusten menschlichen Natur L homme nait bon la societe le corrompt In England Spleen war man im 18 Jahrhundert geradezu stolz darauf infolge dieser zivilisatorischen Verfeinerung auch besonders viele psychisch Auffallige aufzuweisen Dies war spater im 19 Jahrhundert in Amerika Neurasthenie ebenso Epoche des 19 Jahrhunderts Bearbeiten Gesellschaftlicher Kontext Bearbeiten Die industrielle Revolution und der durch sie bedingte soziale und okonomische Wandel vor allem in der zweiten Halfte des 19 Jahrhunderts fuhrten zu immensen Umwalzungen Man hat verschiedentlich von einem regelrechten Kulturschock gesprochen Dieser Gedanke hatte sich wie bereits angedeutet auch in der Bezeichnung Neurasthenie ausgehend von Amerika verbreitet In Osterreich entstand unter dem Einfluss der Wiener Decadence das von Sigmund Freud entwickelte Konzept des Unbewussten 2 Vor allem uber die Folgen der Urbanisierung machte man sich grosse Sorgen Der zunehmende Alkoholismus und die Auswirkungen der Syphilis wurden genauso als Gefahr ausgemacht wie die angenommene allgemeine Uberforderung durch Reizuberflutung sowie Homosexualitat Verbrechen Suizid und der generelle Niedergang der Sitten Solche Befurchtungen waren an sich nichts Neues allerdings verband man sie nun mit eugenischer rassischer und medizinischer Forschung Besonders in der Psychiatrie wurde uber die vermeintliche Verwandtschaft dieser Erscheinungen mit den Geisteskrankheiten diskutiert Die Idee der Degenerationslehre wurde wesentlich in der franzosischen Anstaltspsychiatrie 3 von der franzosischen psychiatrischen Schule gepragt die in der Zeit von 1800 bis 1900 fuhrend war und sich den Ideen der Somatiker geoffnet hatte 1 Vertreter des Gedankens Bearbeiten Morel Bearbeiten Der franzosische Psychiater Benedict Augustin Morel 1809 1873 gab Erklarungen fur somatische und psychologische Anomalien oder Pathologien die er ausgehend von einem durch Gott geschaffenen type normal 4 des Menschen als Degenerationen bezeichnete Einflussreich wurde sein Buch Traite des Degenerescences physiques Intellectuelles et Morales de l Espece Humaine Zudem ist bei Morel ausdrucklich von einem sich verstarkenden Prozess die Rede Mit seiner Vorstellung der Entartung als einer von Generation zu Generation fortschreitenden Verschlechterung der Art die durch erbliche Einflusse bedingt ist beeinflusste er in einem hohen Masse das Denken der Zeit im Allgemeinen und das der heranwachsenden Psychiatergeneration im Besonderen Morel war beeindruckt von den anthropologisch somatischen Forschungen von Gall 1758 1828 demgegenuber sich schon Jean Etienne Esquirol 1772 1840 als aufgeschlossen erwiesen hatte 1 Die Degeneration konnte laut Morel entstehen durch 1 Vergiftung Malaria Alkohol in seiner heute erkannten keimschadigenden Wirkung wahrend der Schwangerschaft Opium Nahrungsmittelvergiftung etc das soziale Milieu krankhaftes Temperament moralische Erkrankung Angeborene oder erworbene Schaden ErblichkeitMorels Degenerationsbegriff basiert einerseits auf einer Mischung aus religiosen Vorstellungen und ethnologisch anthropologischem Gedankengut Die Menschheit entwickle sich fort von einem type primitif bzw type normal also einem Ursprungsmenschen der mit Adam als identisch angesehen werden kann Andererseits wurde Morels Theorie moglich durch Ideen der Zeit vor Darwin besonders denen Jean Baptiste Lamarcks Dieser behauptete bestimmte angenommene Charakteristika Drogenkonsum Perversionen etc konnten vererbt werden Praktisch alles wurde als vererbbar gesehen so auch Kratze oder Aussatz Ein sehr verschwommenes Konzept der erblichen Pradisposition erlaubte es Morel die verschiedenartigsten Krankheiten in einer Generation auf ganz andersgeartete in der vorhergehenden Generation zuruckzufuhren Besonders Morels Degenerationsschema hatte auf die Psychiatrie der zweiten Jahrhunderthalfte eine tiefe Wirkung Demnach sollen Pathologien von Generation zu Generation zunehmen erste Generation nervoses Temperament und Ausschweifungen zweite Generation Schlaganfalle Epilepsie Hysterie und Alkoholismus sowie in der dritten Generation Selbstmord Psychosen und Geistesschwache und endlich in der vierten Generation angeborene Blodsinnszustande und MissbildungenDie letzte Stufe der Entartung sei immer die Sterilitat Den Entarteten erkenne man an den Stigmata der Entartung Asymmetrien der Gesichtshalften oder sonstiger korrespondierender Korperteile ferner Anomalien des Schadelbaues abstehende oder ungleiche Ohren angewachsene Ohrlappchen Schielen Stottern Missbildung der Zahne fehlende oder uberzahlige Gliederteile Verkummerung oder abweichende Bildung der Geschlechtsorgane Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Theorie die jeder Tertianer an Hand der historischen Genealogien hatte Lugen strafen konnen Eugen Bleuler Erst zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im 20 Jahrhundert konnte diese Annahme aufgrund der Unhaltbarkeit vor allem der Vererbungsthesen durch die Wiederentdeckung und rasche Ausbreitung der Mendelschen Regeln ab 1900 widerlegt werden Magnan Bearbeiten Eine Veranderung des Entartungsbegriffs trat mit dem Darwinismus auf Valentin Magnan der zweite grosse franzosische Entartungstheoretiker verwarf den religiosen Degenerationsgedanken der eine Entartung seit dem Sundenfall annahm und verband die Regression im Sinne Darwins mit dem Entartungsgedanken Ein vollendeter Menschentyp konne niemals am Anfang der menschlichen Entwicklung stehen sondern nur an ihrem Ende Er sieht im Evolutionsweg des Menschen bestimmte immanente Storungen angelegt die seine Entwicklung nicht nur hemmen sondern die Bewegungsrichtung zum Untergang hin verandern konnen Die wichtigste Neuerung ist der Instabile oder degenere superieur dessen wichtigstes Merkmal die Disharmonie ist Er tragt dieselben Merkmale wie die normalen Entarteten ist aber intelligent Er ist gekennzeichnet durch den Mangel an Gleichgewicht nicht nur zwischen den intellectuellen und moralischen Fahigkeiten sondern auch zwischen den einzelnen intellectuellen Fahigkeiten selbst Ein Hereditarier kann ein Gelehrter ein geschickter Staatsmann sein und dabei in moralischer Hinsicht klaffende Lucken zeigen wunderliche Neigungen uberraschende Unregelmassigkeiten der Lebensfuhrung Lombroso Bearbeiten Der italienische Begrunder der Kriminalanthropologie Cesare Lombroso dem Nordau spater sein Buch Entartung widmete postulierte mit seinen Arbeiten Der Verbrecher Genie und Irrsinn und Entartung und Genie zum ersten eine Verbindung von Entartung und einer kriminellen Disposition und der Entartung und dem Genie andererseits Der geborene Kriminelle nach Lombroso leidet unter einem Ruckschritt zu einem priminativeren Gehirntyp was sich auf sein Verhalten auswirkt Lombroso wollte die kriminelle Disposition des Menschen anhand ausserlicher Anzeichen wie der Kopfform feststellen Deshalb wurde er teilweise als der Prototyp des Pseudo Wissenschaftlers par excellence angesehen Lombroso versuchte seine Studien durch Abmessungen des Menschen und statistische Methoden sowie soziale und wirtschaftliche Daten zu untermauern Etwa ein Drittel der Kriminellen seien geborene Kriminelle Hippolyte Taine schrieb an Lombroso dieser habe die Menschen als schmierige wilde Orang Utans mit menschlichem Gesicht gezeigt die nicht anders handeln konnten als sie es tun Wenn diese vergewaltigten stehlen und toteten taten sie es wegen ihrer Natur und ihrer Vergangenheit Dies sei ein Grund mehr diese sobald man Sicherheit sagen konne dass diese Orang Utans sind und bleiben werden zu vernichten Deshalb sei auch die Todesstrafe zu befurworten Lombroso veroffentlichte diese Einschatzung spater im Vorwort seines Buches L Homme criminel sprach sich aber fur eine menschliche Behandlung der Kriminellen aus und sprach sich fur Begrenzungen der Todesstrafe aus Lombroso begann auch Kunst und schriftliche Erzeugnisse von Delinquenten zu sammeln und in seinem Museum auszustellen In den schonen Kunsten wollte er die krankhaften Symptome ubertriebener Genauigkeit im Detail den Missbrauch von Symbolen Beschriftungen und Accessoires die Bevorzugung einer einzelnen Farbe und das ungezugelte Streben nach Neuem erkennen Krafft Ebing Bearbeiten In Deutschland wurden bedeutende Psychiater wie Wilhelm Griesinger und Richard von Krafft Ebing ergebene Anhanger Morels die auch die deutsche Psychiatrie fur Jahrzehnte unter seinem Einfluss stehen liessen Krafft Ebing entwickelte die Idee von Psychoneurosen die er als Ubergangszustand zur Entartung ansah Er ist es auch der eine Vielzahl von sexuellen Normabweichungen als Entartungsphanomene einordnet Er war der Ansicht die moderne Zivilisation stelle enorme Anforderungen an das Nervensystem und verursache damit Trieb Fehlfunktionen Die Pradisposition zu Nervenkrankheiten Neurasthenie lasse sich zwar vererben nicht aber die Nervenkrankheiten selbst Die Erklarung von Pathologien durch erbliche Degeneration geht nicht nur bei Krafft Ebing sondern auch anderen Grossen der Psychiatrie im Deutschland des 19 Jahrhunderts etwa Emil Kraepelin mit antisemitischen rassistischen Vorstellungen einher Besonders Juden seien als Rasse erblich degeneriert und in grosserem Masse zu Schwachsinn disponiert So schreibt etwa Theodor Kirchhoff in seinem Grundriss der Psychiatrie fur Studierende und Arzte Vielleicht muss man den Juden eine verhaltnismassig grossere Veranlagung zum Irrsinn zuschreiben aber auch hier mag ein anderer Grund vorliegen als eine Rasseneigenthumlichkeit Bekanntlich heirathen die Juden vielfach in engen Familienkreisen darum fuhrt die Vererbung durch Inzucht zu einer rasch wachsenden Anlage 5 Max Nordau Bearbeiten Max Nordaus Schrift Entartung 1892 ist eine polemische Abrechnung mit den Hauptstromungen der zeitgenossischen Kunst auf dem Standpunkt einer krankhaften Fehlentwicklung in der alle Erscheinungen der modernen Kunst die ihm personlich unsympathisch waren als Symptome der Entartung und zwar einer rein arztlich verstandenen Entartung gebrandmarkt wurden Oswald Bumke Nordau meinte sogar durch die moderne Zivilisation seien ganz neue Geisteskrankheiten entstanden Manche Erkrankungen des Nervensystems werden schon in ihrer Benennung als unmittelbare Folge bestimmter Kultur Einwirkungen bezeichnet Der Name Eisenbahn Ruckenmark und Eisenbahn Gehirn zeigt dass sie die englischen und amerikanischen Pathologen als ihre Ursache die Erschutterungen erkennen die der Reisende im Eisenbahnzuge bestandig erleidet In seiner Schrift Entartung ubernahm Nordau den von Lombroso gepragten Begriff der Degeneration und ubertrug ihn auf die Werke von Kunstlern wie Nietzsche Tolstoi Richard Wagner Zola und Ibsen und auf kunstlerische Erscheinungen wie Symbolismus Spiritualismus Egomanie Mystizismus Parnassianismus und Diabolismus Des Weiteren kundigte Nordau hier eine menschliche Katastrophe von nie gekanntem Ausmass an Das Buch loste eine Kontroverse aus die bis in die 1960er Jahre anhielt Zahlreiche Autoren bemuhten sich um die Widerlegung der darin vorgebrachten Thesen darunter George Bernard Shaw 6 Zeit des Nationalsozialismus Bearbeiten Zentrale Verwendung kam dem Begriff Entartung innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie zu In dieser Ideologe bildeten die Begriffe Entartung und Verfall den Gegenpol zur volkischen Idee 7 Entartung wurde im Nationalsozialismus nicht nur als Entartung der Seele sondern organizistisch als Entartung des Blutes aufgefasst als physischer und geistiger Niedergang einer Rasse eines Volkes infolge von Rassenmischung erblicher Krankheiten und Auswirkungen der modernen Lebenswelt Die Vorstellung der Entartung wurde zur Legitimation fur staatliche Massnahmen und Eingriffe in das Leben der einzelnen herangezogen die in der Ermordung von Menschengruppen gipfelten 8 Ausserdem verwendeten die NS Machthaber den Begriff Entartung fur Formen von Kunst die nicht ihrem asthetischen Ideal und ideologischen Weltbild entsprachen siehe Entartete Kunst und Entartete Musik Allerdings war der Begriff entartet im Nationalsozialismus entgegen landlaufiger Meinung zumindest im Bereich der bildenden Kunst nicht primar mit dem Judentum verbunden 7 Kritik an derartigen Entartungs Theorien Bearbeiten Spatestens seit den 1920er Jahren war wissenschaftlich erwiesen dass solch weitreichende Vererbungsthesen wie sie bei Morel und seinen Nachfolgern zugrunde liegen haltlos sind Oswald Bumke Bearbeiten In seiner Schrift Uber nervose Entartung von 1912 kritisierte Oswald Bumke die bisherige Entartungsforschung Die Hauptpunkte seiner Kritik sind die Vererbung erworbener Krankheiten die Vorstellungen der Ubertragung von Geisteskrankheiten und der angeblich negative Einfluss der modernen Kultur auf die Selektion Vererbung erworbener Krankheiten Bearbeiten Das ganze Entartungsdogma steht und fallt mit der Annahme dass erworbene pathologische Eigenschaften auf die Nachkommenschaft ubertragen werden oder doch wenigstens ubertragen werden konnen Bumke kritisiert die bisherige Forschung an Meerschweinchen Diese wurde durch operative Eingriffe epileptisch gemacht woraufhin einige ihrer Nachkommen ebenfalls epileptisch waren Wenn durch Operationen krank gemachte Tiere kranke Nachkommen erzeugten so liege keine Vererbung sondern eine Keimschadigung vor Bumke versucht seine These damit zu untermauern dass seit Jahrtausenden rituelle Beschneidungen vorgenommen wurden oder die Fusse der Chinesinnen verstummelt werden Eine erbliche Ubertragung derartiger Veranderungen sei jedoch niemals beobachtet worden Noch weniger moglich sei eine Vererbung der Nervenkrankheiten Ubertragung von Geisteskrankheiten Bearbeiten Ganz allgemein kritisiert Bumke die Grundlagen der psychiatrischen Hereditatsforschung Der Versuch sei absurd alles was an pathologischen Zugen in der Aszendenz eines Menschen nachweisbar ist zusammenaddieren und nun in einem psychiatrischen Kurszettel die Gesamtbelastung in Prozentzahlen darstellen zu wollen Zwischen vier und neunzig Prozent aller Geisteskrankheiten wurden als erblich belastet angesehen werden je nachdem wie weit man den Begriff auslegte Ein weiterer Angriffspunkt seiner Kritik sind die Stigmata degenerationis Diese spielen in Bumkes Zeiten unter anderem in den Arbeiten Nackes noch eine Rolle Sind die Degenerationszeichen wirklich wertlos Bumke meint die meisten der sogenannten Entartungszeichen seien nichts als gewohnliche Varietaten die gegen die geistige Gesundheit des damit behafteten selbst dann nichts beweisen wurden wenn sie das Gehirn selbst betrafen Bumke kommt auch zu dem Schluss dass sich Geisteskrankheiten nicht dominant vererben Die Aussichten durchzuschlagen seien fur pathologische Qualitaten nicht grosser als fur normale wie z B die Augenfarbe Die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung bestunde nur fur den bei dessen Entstehung von beiden Eltern zwei gleichgerichtete pathologische Vererbungstendenzen zusammentreffen Einfluss der Zivilisation auf die Selektion Bearbeiten Vorstellungen einer negativen Selektion durch die moderne Kultur waren weit verbreitet schlechtes Genmaterial so glaubte man werde bevorzugt So schreibt Nietzsche dass die Civilisation den physiologischen Niedergang einer Rasse nach sich zieht Der Vorwurf der Panmixie wird gegenuber der Zivilisation erhoben August Weismann schreibt Denken wir nur an die Zahne bei welchen die Kunst der Zahntechniker es beinahe schon so weit gebracht dass man die kunstlichen Zahne den naturlichen vorziehen mochte Jedenfalls braucht heute Niemand mehr an ungenugender Ernahrung in Folge schlechter Zahne zu Grunde gehen Dieselben Vorwurfe wurden gegenuber Kurzsichtigkeit geringer Korperkraft oder auch der Unfahigkeit zu stillen erhoben Verstarkt wurde diese Tendenz noch durch die moderne Hygiene So sei auch die Sauglingspflege ein Faktor der Gefahrdung der Gute unserer Rasse Schallmeyer Die Kritik Bumkes hierzu setzt auf drei Ebenen an Die oberste Ebene bezieht sich auf die Wirksamkeit der Selektion Deren Wirkung sei ganz einfach generell beschrankt Ausserdem bezweifelt er dass die Kurzsichtigkeit oder die Unfahigkeit zu Stillen haufiger vererbt wird Weiterhin registriert er es sei das Grundprinzip des Entwicklungsgedankens dass die Eigenschaften herausgezuchtet werden die fur den Bestand der Art vorteilhaft sind Es sei eine triviale Wahrheit dass die Entwicklung der Gehirnleistung bei der Evolution des Menschen ausschlaggebend ist Insofern sei die Idee eine zu hoch entwickelte Intelligenz ware unnaturlich und gefahrlich und die Vorstufe der Entartung keineswegs so selbstverstandlich wie es vielen erscheint Dasselbe gelte fur die Hygiene Infektionskrankheiten wirkten nicht reinigend auf eine Rasse Hygiene verhindere das Krankwerden von Gesunden und nicht das Ausmerzen von Kranken Zu der Behauptung geistig Behinderte konnten sich wegen des Uberlebens in Irrenanstalten fortpflanzen meinte er das Gegenteil trafe zu Die meisten Anstaltsinsassen hatten vor 100 Jahren in Freiheit gelebt und hatten dort Kinder gezeugt Es sei zudem sehr fraglich ob dieser Zustand ein gar so grosses Ungluck gewesen sei Er sieht in den Forderungen nach Sterilisation dieser Behinderten die Gefahr dass der Kreis der als bedenklich geltenden Individuen immer weiter gezogen wird und dass demnachst ahnliche Wunsche auch fur die Behandlung nachweislich sic oder angeblich minderwertiger Rassen erhoben werden konnten Karl Jaspers Bearbeiten Karl Jaspers systematisierte den Gegenstand der Degenerationslehre die Stigmata zwar als sinnhaft objektivierbare Tatbestande im Rahmen der Ausdruckspsychologie hob jedoch hervor dass diese Stigmata nicht wissenschaftlich exakt beobachtbar und erfassbar seien d h nicht messbar und quantifizierbar Es handle sich bei der Degenerationslehre also um eine zwar intuitiv und vor allem kunstlerisch erfassbare Wirklichkeit um eine Typologie die zwar unseren Formensinn scharfe aber nicht zu praktischen Schlussfolgerungen berechtigte Damit stellte er die Degenerationslehre auf eine Stufe mit der Physiognomik der Konstitutionstypologie Ernst Kretschmers der Mimikerkennung und der Graphologie Es resultiere also hochstens ein naturwissenschaftliches Scheinwissen insofern die Degenerationslehre ein umfassendes Wissen uber das Wesen aller Tatsachen beabsichtige und anstrebe 9 Insofern unterscheidet sich die psychiatrische Degenerationslehre von dem in der ubrigen Medizin gebrauchten Begriff der Degeneration Stigmata degenerationis BearbeitenAls morphologische Abnormitaten galten Vom Durchschnitt stark abweichende Korperproportionen wie z B im Verhaltnis zum Oberkorper zu lange Beine wunderliche Schadelformen wie Turmschadel abweichende Knochenformen wie mangelndes Kinn ubermassige Kleinheit der Processus mastoidei Zahnverbildungen hoher Gaumen Hemmungsmissbildungen wie Hasenscharte ubermassige oder fehlende Korperbehaarung Zittern Schwerhorigkeit Status dysraphicus etwa im Zusammenhang mit Kyphoskoliose oder Spina bifida 10 Tics Strabismus ubermassiger Speichelfluss etc Starkes Interesse zeigte man fur Nasen und Ohrformen z B angewachsene Ohrlappchen grosse abstehende Ohren Hervortreten des Darwinschen Ohrhockers und fur bewegliche Ohren 9 Bleibende Entwicklungen BearbeitenMagnan war nicht der einzige bekannte Psychiater der sich dem Antialkoholismus zuwandte Auch Forel Kraepelin und Bleuler widmeten sich dieser Aufgabe Im 19 Jahrhundert entstanden auch der Guttempler Orden in Boston 1826 in England 1832 das Blaue Kreuz in Deutschland 1851 und viele andere Trinkerheilstatten 1 In positiver Hinsicht machte die Degenerationslehre auf die soziale Frage aufmerksam und kann damit in gewisser Hinsicht als Vorlaufer der heutigen Sozialpsychiatrie gelten Man kann die Degenerationslehre auch als Vorlaufer der biologischen Psychologie ansehen Literatur BearbeitenErwin H Ackerknecht Kurze Geschichte der Psychiatrie 3 Auflage Enke Stuttgart 1985 ISBN 3 432 80043 6 S Ascheim Nordau Nietzsche and Degeneration In Journal of Contemporary History 28 1993 S 42 57 Ian Dowbiggin Degeneration and Hereditarianism In Bynum Porter Shepherd Hrsg Anatomy of Madness Band 1 1987 Andrew Lyndsay Farrall The Origins and Growth of the English Eugenics Movement 1865 1925 Garland New York 1985 Sander Gilman The Mad Man as Artist Medicine History and Degenerate Art In Journal of Contemporary History 20 4 Medicine History and Society 1985 S 575 597 Sander Gilman R Chamberlin Hrsg Degeneration The Dark Side of Progress New York 1985 Richard M Goodman Genetic disorders among the Jewish people Baltimore 1979 S 421 431 W Greenslade Degeneration Culture and the Novel 1880 1940 Cambridge 1994 M Hawkins Social Darwinism in 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declining birthrate in twentieth century Britain University of North Carolina Press Chapel Hill 1990 M Thomson Sterilisation Segregation amp Community Care In History of Psychiatry 1992 E Traverso The Origins of Nazi Violence New York 2003 Paul Weindling Health Race and German Politics between National Unification and Nazism 1870 1945 Cambridge University Press 1989 Peter Weingart Jurgen Kroll Kurt Bayertz Rasse Blut und Gene Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland Frankfurt 1988 Henry Maudsley Heredity in Health and Disease In Fortnightly Review Band 39 1886 S 648 659 Max Nordau Degeneration 1895 Nachdruck mit Einfuhrung von George Mosse Lincoln 1993 George Bernard Shaw The Sanity of Art An Exposure of the Current Nonsense about Artists being Degenerate 1895 In Shaw Major Critical Essays Penguin Books Harmondsworth 1986 Weblinks BearbeitenStephanie Kenen Syllabus PDF zu einem Seminar uber Medizin Degeneration und Eugenik englisch mit Bibliografie Udo Leuschner Entartung Zur Genese eines fatalen Schlagworts bei Max Nordau Andrew Wikholm Morel Discovers Degeneration Memento vom 15 Marz 2008 im Internet Archive gayhistory 1999 degeneration im WictionaryEinzelnachweise Bearbeiten a b c d e Erwin H Ackerknecht Kurze Geschichte der Psychiatrie 3 Auflage Enke Stuttgart 1985 ISBN 3 432 80043 6 a zu Stw Pessimismus S 53 b zu Stw Pragung des Degenerationsgedankens durch die franzosische Psychiatrie S 41 53 c zu Stw Franzosische Schule Morel Esquirol Seiten 48 60 d zu Stw Faktoren der Degeneration nach Morel S 55 e zu Stw Antialkoholismus S 56 Mario Erdheim Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit Eine Einfuhrung in den ethnopsychoanalytischen Prozess 2 Auflage suhrkamp taschenbuch wissenschaft 456 Frankfurt am Main 1988 ISBN 3 518 28065 1 S 41 161 Vgl Benedict Augustin Morel Traite des degenerescences physiques intellectuelles et morales de l espece humaine et des causes qui produisent ces varitetes maladives Paris 1857 Volker Roelcke 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Schadigung durch Inzucht oder durch Bastardierung 2 Degeneration S 423 f a zu Stw Allgemeine Beurteilung hauptsachlich S 223 f b zu Stw Stigmata S 223 f 424 Immo von Hattingberg Status dysraphicus Spina bifida und Myelodysplasie In Ludwig Heilmeyer Hrsg Lehrbuch der Inneren Medizin Springer Verlag Berlin Gottingen Heidelberg 1955 2 Auflage ebenda 1961 S 1350 f Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Entartung Medizingeschichte amp oldid 233749665