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Klassifikation nach ICD 10F29 1 Nicht naher bezeichnete nichtorganische PsychoseICD 10 online WHO Version 2019 Als Geisteskrankheit oder Geistesstorung wurden fruher unterschiedliche Verhaltensbilder und Krankheiten bezeichnet die sich durch Verhaltensformen ausdrucken die in der Gesellschaft nicht akzeptiert werden siehe Kapitel Staatsmedizin Beide Bezeichnungen werden heute kaum noch verwendet 2 Geisteskrankheiten konnen heute als Oberbegriff fur jede Art von psychischer Storung verstanden werden oder spezieller als Psychose d h als Krankheitsgruppe mit schwerer ausgepragter Symptomatik und eher ungunstiger Prognose 3 Inhaltsverzeichnis 1 Heutiger Gebrauch des Begriffs 2 Historische Wurzeln des Begriffs 3 Staatsmedizin 4 Situation seit den 1980er Jahren 5 Siehe auch 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseHeutiger Gebrauch des Begriffs BearbeitenIm juristischen Sprachgebrauch und insbesondere in der forensischen Psychiatrie findet der Begriff weiterhin Verwendung fur psychische Storungen von erheblichem Ausmass wie Schizophrenie oder auch fur geistige Behinderung und bestimmte Personlichkeitsstorungen so etwa im Betreuungsrecht bei der Entmundigung und der Schuldunfahigkeit Im medizinischen und psychologischen Sprachgebrauch wird der Begriff Geisteskrankheit heute wegen definitorischer Schwierigkeiten dagegen kaum noch verwendet 4 Fur die historische Verbreitung des Begriffs hat vor allem der Satz Wilhelm Griesingers gesorgt Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten sieheHistorische Wurzeln des Begriffs Die Definitionsversuche des Begriffs konnen heute als eher mangelhaft angesehen werden 5 Man spricht anstelle von Geisteskrankheiten heute meist von psychischen Storungen oder seelischen Krankheiten Aber noch in dieser Wortwahl macht sich das historische Erbe bemerkbar vgl auch Historische Wurzeln des Begriffs Von den Geisteskrankheiten wurden die Gemutskrankheiten als umschriebene affektive Psychosen und die Geistesschwache als Storung mit klinisch schwacher ausgepragter Symptomatik abgegrenzt Historische Wurzeln des Begriffs BearbeitenNach Klaus Dorner wurde der Begriff Geisteskrankheit massgeblich durch Friedrich Wilhelm Schelling und seine Identitatsphilosophie um 1800 gepragt Schelling wandte sich hier gegen Hegel indem er behauptete dass die Seele nicht erkranken konne da sie gottlichen Ursprungs sei Nicht der Geist wird vom Leib sondern umgekehrt der Leib vom Geist infiziert 6 7 Hier liegen auch die Ursprunge fur die deutsche Endogenitatslehre 7 und die franzosische Degenerationslehre 7 sowie ihre vermutete Vorwegnahme korperlicher Begrundbarkeit Es handelte sich hierbei um den Standpunkt der Psychiker wonach vor allem Sunde und moralische Verfehlungen eine Geisteskrankheit verursachen Es musste dahingestellt bleiben ob Seele oder Geist erkranken 8 Fur die Seelenkrankheit setzte sich im 19 Jahrhundert der Begriff Gemutskrankheit durch fur die Geisteskrankheit ab 1845 der Begriff Psychose 3 Dies war allerdings auch der Zeitpunkt ab dem die allgemeine Geltung der Psychiker ins Wanken geriet Psychische Storung meint ebenfalls eher den naturwissenschaftlich definierten Begriff von Krankheit vgl die Unterscheidung von Psyche und Seele und die von Johann Christian Reil gepragte Bezeichnung Psychiatrie Das von Wilhelm Griesinger mit seinem Lehrbuch Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten 1845 verkundete Fazit Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten erforderte ein Umdenken der Psychiatrie im Sinne der Somatiker 8 Damit kam die Forschung aber erst recht auf die Bahn einer Suche nach somatischen Befunden bei Psychosen wie sie vor allem die klassische deutsche Psychiatrie vertrat Die Sichtweise Freuds und der von ihm behandelten Neurosen erschien daher wie ein Ruckfall in die romantische Medizin Gesellschaftspolitische Bezuge wurden so aber eher nicht hergestellt sondern arztlicherseits meist ein rein naturwissenschaftliches Paradigma ohne gesellschaftliches Engagement behauptet siehe Kap Staatsmedizin Ein triadisches System der Psychiatrie und die mit ihm verbundene multikonditionale Betrachtungsweise Ernst Kretschmer bildeten sich erst nach und nach heraus Auch die Sichtweise einer Mitbedingtheit psychischer Erkrankungen durch korperliche und seelische Faktoren wie sie die psychosomatische Medizin mit Modellvorstellungen von psychophysischer Korrelation vertritt ist ein erst vergleichsweise junger Entwicklungsschritt in der seit zwei Jahrhunderten wahrenden Geschichte der Erforschung von Geisteskrankheiten 9 Staatsmedizin Bearbeiten nbsp Charles Louis Muller 1820 1895 Pinel befreit die Irren von ihren KettenIn Deutschland waren die Anfange der institutionellen Psychiatrie im 19 Jahrhundert weitestgehend durch eine Staatsmedizin 7 bestimmt die ihre staatstragenden ideologischen Anleihen vorwiegend aus den Morallehren der Philosophie und der Religion ubernahm die aber auch durch die beginnende Industrialisierung zunehmend sozialokonomische Gesichtspunkte in die staatspolitischen Uberlegungen aufnahm Das Vorhandensein staatlicher Prasenz erschien vor allem deshalb unerlasslich weil man von der Grundannahme der Uneinfuhlbarkeit und Unverstandlichkeit des tatigen Verhaltens bei Geisteskrankheiten ausging so insbesondere auch von der Gefahr der Tobsucht 10 Dies bewirkte dass man Geisteskranke teilweise in Fortsetzung der absolutistischen Ausgrenzung von Unvernunft 11 7 etwa durch die Methoden des Hopital general potentiell als gemeingefahrlich hielt Die Grundannahme der Gemeingefahrlichkeit begunstigte die Befurwortung von Zwangsmassnahmen 12 Philippe Pinel 1745 1826 wird allgemein dafur geruhmt die Kranken von ihren Ketten befreit zu haben weil er die Grundannahme der Gemeingefahrlichkeit umkehrte und gegenuber dem jakobinischen Schreckensmann Georges Couthon vor den Anstaltsinsassen behauptete die Tobsuchtigen seien deshalb aggressiv weil sie wegen der Zwangsmassnahmen dieses Verhalten angenommen hatten 7 Eine reale Befreiung von Ketten durch Pinel ist allerdings nicht nachweisbar 13 Der Begriff Geisteskrankheit spielte daher auch in rechtlicher Hinsicht eine entscheidende Rolle Bis Ende 1991 war der Begriff Geisteskrankheit gemass 6 BGB gesetzestextlich verankert Situation seit den 1980er Jahren BearbeitenAnnahmen aus den 1960er und 1970er Jahren dass von psychiatrischen Patienten kein hoheres Risiko fur die Allgemeinheit ausgehe als von den ubrigen Mitburgern wurden seit den 1980er Jahren durch zahlreiche psychiatrisch epidemiologische Untersuchungen in Nordeuropa Grossbritannien und Nordamerika in Frage gestellt 14 15 Unabhangig von kriminalstatistischen Erkenntnissen wird der Schutz der Allgemeinheit jedoch in modernen Rechtsstaaten fur konkrete Gefahren im Einzelfall gesetzlich geregelt zum Beispiel in Deutschland durch den Massregelvollzug und in Osterreich durch den Massnahmenvollzug Siehe auch BearbeitenWahnsinn Schwachsinn Geschichte der PsychiatrieWeblinks Bearbeiten nbsp Wiktionary Geisteskrankheit Bedeutungserklarungen Wortherkunft Synonyme Ubersetzungen Eintrag in Edward N Zalta Hrsg Stanford Encyclopedia of Philosophy Vorlage SEP Wartung Parameter 1 und weder Parameter 2 noch Parameter 3Einzelnachweise Bearbeiten Alphabetisches Verzeichnis zur ICD 10 WHO Version 2019 Band 3 Deutsches Institut fur Medizinische Dokumentation und Information DIMDI Koln 2019 S 315 Pschyrembel klinisches Worterbuch Verlag de Gruyter 267 Auflage 2017 ISBN 978 3 11 049497 6 Stichwort Geisteskrankheit online a b Uwe Henrik Peters Worterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie 3 Auflage Urban amp Schwarzenberg Munchen 1984 Lexikon Stw Geisteskrankheit S 212 Lexikon Stw Gemutskrankheit S 215 Wissenschaftlicher Dienst Hoffmann La Roche Roche Lexikon Medizin Elsevier Munchen c Urban amp Fischer 2003 Roche Lexikon Medizin 5 Auflage online Memento des Originals vom 9 Januar 2013 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot www tk de Stichworteingabe Geisteskrankheit erforderlich Rolf Kaiser Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten Eine historisch kritische Untersuchung am Beispiel Schizophrenie Pahl Rugenstein Verlag Koln 1983 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Stuttgarter Privatvorlesungen 1810 In Werke Ed Schroter Munchen 1927 Band IV S 360 a b c d e f Klaus Dorner Burger und Irre Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie 1969 Fischer Taschenbuch Bucher des Wissens Frankfurt M 1975 ISBN 3 436 02101 6 a zu Stw Geisteskrankheit S 263 f 270 f Fussnote 224 b zu Stw Endogenitat S 56 58 98 178 260 288 339 f c zu Stw Degenerationslehre S 187 214 267 271 309 327 329 d zu Stw Staatsmedizin S 199 202 e zu Stw Ausgrenzung der Unvernunft ausgenzender Zwang usw siehe Text auf dem Cover Ruckseite sowie Seiten 26 36 43 49 55 57 73 f 87 89 119 132 137 f 140 144 f 155 164 190 202 211 230 239 242 244 251 258 274 286 332 335 f zu Stw Pinel und Crouthon S 159 f a b Erwin H Ackerknecht Kurze Geschichte der Psychiatrie 3 Auflage Enke Stuttgart 1985 ISBN 3 432 80043 6 a Standpunkt der Psychiker S 59 b Standpunkt der Somatiker S 61 Thure von Uexkull Grundfragen der psychosomatischen Medizin Rowohlt Taschenbuch Reinbek bei Hamburg 1963 Stw Geisteskrankheit S 44 ff 72 98 f 215 Karl Jaspers Allgemeine Psychopathologie 9 Auflage Springer Berlin 1973 ISBN 3 540 03340 8 4 Teil Die Auffassung der Gesamtheit des Seelenlebens 2 Die Grundunterscheidungen im Gesamtbereich des Seelenlebens II Wesensunterschiede d Gemutskrankheiten und Geisteskrankheiten naturliches und schizophrenes Seelenleben Uneinfuhlbarkeit und Unverstandlichkeit S 483 f Michel Foucault Wahnsinn und Gesellschaft Histoire de la folie Paris 1961 Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft Suhrkamp stw 39 1973 ISBN 3 518 27639 5 Das Vorwort verwendet Begriffe wie Absplitterung Abgrenzung und Geschichte der Grenzen als gangige Vokabel fur das Verhaltnis von Vernunft und Unvernuft um das Anliegen des Werks verdeutlichen siehe insbesondere Seite 9 Rudolf Degkwitz u a Hrsg Psychisch krank Einfuhrung in die Psychiatrie fur das klinische Studium Urban amp Schwarzenberg Munchen 1982 ISBN 3 541 09911 9 a zu Stw Psychische Erkrankungen im Urteil der Fachwelt und der Bevolkerung S 7 Sp 1 b zu Stw Gemeingefahrlichkeit und Zwangsunterbringung S 402 404 Magdalena Fruhinsfeld Kurzer Abriss der Psychiatrie In Anton Muller Erster Irrenarzt am Juliusspital zu Wurzburg Leben und Werk Kurzer Abriss der Geschichte der Psychiatrie bis Anton Muller Medizinische Dissertation Wurzburg 1991 S 9 80 Kurzer Abriss der Geschichte der Psychiatrie und 81 96 Geschichte der Psychiatrie in Wurzburg bis Anton Muller S 70 Hans Ludwig Krober Dieter Dolling Norbert Leygraf Henning Sass Hrsg Handbuch der forensischen Psychiatrie Band 4 Kriminologie und forensische Psychiatrie Springer Verlag 2009 ISBN 9783798517462 Vorschau Google Books S 322 ff Jan Volavka Neurobiology of Violence 2 uberarbeitete Aufl American Psychiatric Publishing Washington D C 2008 ISBN 9781585627820 Vorschau Google Books S 234 ff Dieser Artikel behandelt ein Gesundheitsthema Er dient nicht der Selbstdiagnose und ersetzt nicht eine Diagnose durch einen Arzt Bitte hierzu den Hinweis zu Gesundheitsthemen beachten Normdaten Sachbegriff GND 4047734 4 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Geisteskrankheit amp oldid 236666127