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Die Opferthese war ein nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitetes Argumentationsmuster in Osterreich uber die Zeit vor dem Anschluss Verbot der NSDAP NS Putschversuch 1934 NS Anschlage in Osterreich Tausend Mark Sperre etc bzw die Rolle Osterreichs in der Zeit des Nationalsozialismus Nach der Opferthese war der Staat Osterreich das erste Opfer der nationalsozialistischen Aggressionspolitik Als Synonym fur Opferthese wird in Anlehnung an Begriffe wie Habsburgermythos Kaisermythos oder Grundungsmythos auch Opfermythos gebraucht Die Opferthese wird da sie im kollektiven Gedachtnis die Verleugnung und das Verdrangen der osterreichischen Mittaterschaft an den Untaten der Nationalsozialisten bewirkte auch als Lebensluge der Zweiten Republik bezeichnet Installation Monumyth 2019 von Eduard Freudmann am Grazer Befreiungsdenkmal mit Schriftzug O du Opfer Inhaltsverzeichnis 1 Ursprung 2 Auswirkungen und Langzeitfolgen 3 Opferthese in Sudtirol 4 Siehe auch 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseUrsprung BearbeitenAls Legitimation fur die Annahme des Opferstatus Osterreichs wurde im Einklang mit der Inhaftierung osterreichischer Regierungsangehoriger unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen auf den unfreiwilligen Untergang Osterreichs als Volkerrechtssubjekt verwiesen Als Unterstutzung dieser These diente eine Textpassage in der Moskauer Deklaration vom 1 November 1943 in der die Aussenminister von Grossbritannien der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion die Ansicht vertreten dass Osterreich das erste freie Land sei das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte und von deutscher Herrschaft befreit werden soll und dass der Anschluss von 1938 als null und nichtig 1 gelte In der Folge galt der Staat Osterreich staatsrechtlich als Opfer der NS Politik Dazu gesellte sich nach Kriegsende der Opferstatus von Einzelpersonen Dabei wurde in der gesetzlichen Behandlung dieser zwischen politischen Opfern und Kriegsopfern unterschieden Heftig unterstutzt wurde die Opferthese durch eine Vielzahl kultureller Aktivitaten Die Salzburger Festspiele beriefen sich auf die Abberufung des Festspielprasidenten Heinrich Freiherr von Puthon und des Mozarteum Direktors Bernhard Paumgartner durch die Nationalsozialisten sowie auf deren Absetzung des Festspielstuckes Jedermann am Domplatz Die Wiener Eisrevue prasentierte in ganz Europa Operetten und Walzer Seligkeit das Wiener Mozart Ensemble gastierte eifrig in Florenz Paris Amsterdam Brussel London und Moskau Die Sissi Filmtrilogie mit Romy Schneider und Karlheinz Bohm portratierte ein unschuldiges Osterreich der exzellenten Liebenswurdigkeit und der absoluten Harmlosigkeit Auswirkungen und Langzeitfolgen Bearbeiten nbsp Mahnmal gegen den Mythos des ersten Opfers am Wiener MexikoplatzEinen fruhen Niederschlag fand die Opferthese in Formulierungen in der Unabhangigkeitserklarung vom 27 April 1945 Denn mittels dieser sagte sich Osterreich vom Deutschen Reich los und das Dokument gilt als ein Grundungsdokument der Zweiten Republik Darin heisst es u a dass der Anschluss des Jahres 1938 durch militarische Bedrohung von aussen und dem hochverraterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet und durch militarische und kriegsmassige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Osterreichs aufgezwungen worden ist 2 Auswirkungen zeigte die Opferthese schon in der Nachkriegszeit insofern als die Entnazifizierung in den ersten Nachkriegsjahren Verbotsgesetz 1947 zwar zunachst scharfer als in Deutschland erfolgte im Zuge des Kalten Krieges aber praktisch eingestellt wurde und somit ruckblickend betrachtet nicht im genugenden Ausmass erfolgte Auch wurde die Restitution geraubter Vermogenswerte zunehmend verzogert Auch war die Verdrangung der Mittaterschaft zahlreicher Osterreicher an den Graueltaten wahrend der NS Zeit dafur verantwortlich dass die Wiedergutmachung an den politischen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung Juden Roma u a nur ausserst schleppend vor sich ging Anders hingegen wurden die Kriegsopfer behandelt Da die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers das macht und willenlos gemachte Volk Osterreichs in einen sinn und aussichtslosen Eroberungskrieg gefuhrt hat den kein Osterreicher jemals gewollt hat 2 war es leicht Angehorige der Wehrmacht als Kriegsopfer zu titulieren Zu diesen wurden auch Angehorige der Waffen SS gerechnet die ab 1 Oktober 1943 beigetreten waren denn ab diesem Datum galt eine Zugehorigkeit als erzwungen Dabei ging es weitgehend um die innenpolitische Aufteilung des Dritten Lagers durch die beiden Parteien SPO und OVP Die Opferthese wurde weiter in den Verhandlungen uber den Osterreichischen Staatsvertrag von den osterreichischen Regierungsmitgliedern welche alle als KZ Haftlinge Emigranten etc wirkliche NS Verfolgte waren genutzt um den Passus der staatlichen Mitschuld wegzuverhandeln und um weitreichende Forderungen der UdSSR abzuwehren Durch das konsequente Beibehalten der Opferthese uber mehrere Jahrzehnte wurde in Osterreich die Zeit des Nationalsozialismus bis in die fruhen 1990er Jahre kaum aufgearbeitet und die Tatereigenschaft vieler Osterreicher kaum wahrgenommen Erst ab 1986 im Zuge der Waldheim Affare und des Bedenkjahres auch Gedenkjahres 1988 begann eine differenzierte Auseinandersetzung mit der NS Vergangenheit So war Bundeskanzler Franz Vranitzky im Jahre 1991 der erste offizielle Vertreter Osterreichs der die von Osterreichern begangenen Verbrechen eingestand und dafur um Entschuldigung bat Entsprechend kontrovers wurde deshalb auch die Wehrmachtsausstellung diskutiert da sie bis dahin tabuisierte Inhalte offen zur Schau brachte Dieses Umdenken ermoglichte auch die Realisierung des vom Innsbrucker Politikwissenschafter Andreas Maislinger bereits Ende der 70er Jahre vorgeschlagenen Gedenkdienstes durch den fur den Zivildienst zustandigen Innenminister Franz Loschnak Sehr spat namlich erst im Jahre 1998 setzte Osterreich unter massivem internationalen Druck insbesondere durch Klagen aus den USA die Historikerkommission der Republik Osterreich ein um den Vermogensentzug zwischen 1938 und 1945 sowie Ruckstellungen und Entschadigungen nach 1945 zu erforschen und daruber zu berichten Als Ergebnis dieser Forschungen und Bemuhungen erfolgte ab diesem Zeitpunkt eine Vielzahl von Restitutionen Zusammenfassend ist der staatsrechtliche Vorgang 1938 im Hinblick auf die Republik Osterreich als janusartiger Akt zu verstehen dessen Interpretation in der Nachkriegszeit in Verbindung mit den verschiedensten Interessen wahrend des Kalten Krieges zu sehen ist Wahrend der Staat Republik Osterreich aus einem Blickwinkel Opfer der NS Politik wurde waren aus einem anderen Blickwinkel Staatsburger der Republik Osterreich willfahrige Tater bei der Durchsetzung der NS Politik Als Manifestation der Opferthese werden hier mit umgekehrten Vorzeichen von einigen Journalisten die Reaktionen auf die so genannten EU Sanktionen angesehen 3 Als sich die damals 14 anderen EU Mitgliedstaaten gegen eine Beteiligung der rechtspopulistischen FPO an der neu zu bildenden Regierung ausgesprochen hatten und nach trotzdem erfolgter Koalition der OVP mit der FPO auch diplomatische Sanktionen gegen diese Regierung eingeleitet worden waren wurden von politischer Seite und in den Medien des Landes diese als bevormundende Massnahmen gegen Osterreich also gegen das gesamte Land interpretiert Im Februar 2022 erntete eine Aussage des osterreichischen Aussenministers Alexander Schallenberg im Ukrainekonflikt Kritik in der er ausdruckte Osterreich habe 1938 erlebt wie es ware allein gelassen zu werden Damit die Opferthese bemuht zu haben wies Schallenberg als Missverstandnis zuruck 4 5 Opferthese in Sudtirol BearbeitenIn Sudtirol entwickelte sich unter anderen ereignisgeschichtlichen Vorzeichen ebenfalls eine Opferthese die in wesentlichen Grundzugen dem in Osterreich verbreiteten Argumentationsmuster gleicht In der nach dem Ersten Weltkrieg vom Konigreich Italien annektierten mehrheitlich deutschsprachigen Provinz entstand schon in den fruhen 1930er Jahren unter faschistischer Herrschaft mit dem Volkischen Kampfring eine dezidiert nationalsozialistische Bewegung die eine enorme Breitenwirkung erreichte und entscheidend dazu beitrug dass bei der Option ca 85 der Befragten die Emigration ins Deutsche Reich wahlten 6 Der Einmarsch deutscher Truppen im September 1943 wurde vom Grossteil der Sudtiroler als Befreiung begrusst in der anschliessend errichteten Operationszone Alpenvorland unterstutzte der Sudtiroler Ordnungsdienst den Kampf gegen die verhaltnismassig wenigen Widerstandler und die Organisation des Holocaust 7 Nach dem Zweiten Weltkrieg breitete sich Schweigen uber die nationalsozialistischen Verstrickungen der Sudtiroler Im kollektiven Gedachtnis wurde die Option als Willkurakt fremder Machte gedeutet der die Sudtiroler zu Opfern von gleich zwei totalitaren Diktaturen machte die uberwaltigende Mehrheit fur die Emigration ins Deutsche Reich wurde im Wesentlichen als direkte Folge der aggressiven Italianisierungskampagne des faschistischen Italien erklart Ermoglicht wurde diese Opferthese durch eine vollig fehlende Entnazifizierung wie auch Entfaschisierung in Italien strategisch diente sie zunachst politischen Forderungen nach einer Ruckgliederung nach Osterreich spater der Legitimierung der Autonomie Sudtirols Obwohl Claus Gatterer das Themenfeld bereits in den spaten 1960er Jahren kritisch zu bearbeiten begonnen und insbesondere Leopold Steurer in den 1980ern das herkommliche Sudtiroler Geschichtsbild zur NS Zeit dekonstruiert hatte blieb die Opferthese bis in die 1990er Jahre hinein eine dominante geschichtspolitische Stromung ehe sie im Zuge einer intensiven Aufarbeitung zunehmend zuruckgedrangt wurde 8 Siehe auch BearbeitenLegende von der sauberen Wehrmacht Brava Gente MythosLiteratur BearbeitenGerhard Botz Geschichte und kollektives Gedachtnis in der Zweiten Republik Opferthese Lebensluge und Geschichtstabu in der Zeitgeschichtsschreibung In Wolfgang Kos Georg Rigele Hrsg Inventur 45 55 Osterreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik Sonderzahl Wien 1996 ISBN 3 85449 092 5 S 51 85 Ewald Ehtreiber Stichworte Opferthese Vergangenheitsbewaltigung Wehrmachtsausstellung und Wiedergutmachung In Oswald Panagl Peter Gerlich Hrsg Worterbuch der politischen Sprache in Osterreich OBV Wien 2007 ISBN 978 3 209 05952 9 Anton Legerer Gedenkdienste NS Bewaltigung in Osterreich In Tatort Versohnung Aktion Suhnezeichen in der BRD und in der DDR und Gedenkdienst in Osterreich Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2011 ISBN 978 3 374 02868 9 S 409 458 Andreas Maislinger Vergangenheitsbewaltigung in der Bundesrepublik Deutschland der DDR und Osterreich Psychologisch padagogische Massnahmen im Vergleich In Deutschland Archiv September 1990 Gunther Sandner Vergangenheitspolitik im Kabinett Die Debatten um die osterreichischen Kriegsopfer am Beginn der Zweiten Republik In Oswald Panagl Ruth Wodak Hrsg Text und Kontext Theoriemodelle und methodische Verfahren im transdisziplinaren Vergleich Konigshausen amp Neumann Wurzburg 2004 ISBN 3 8260 2838 4 S 131 147 Weblinks BearbeitenHeidemarie Uhl Das erste Opfer Der osterreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik PDF 83 kB Osterreichische Zeitschrift fur Politikwissenschaft 1 2001 Malte Switkes vel Wittels Osterreich die Moskauer Erklarung und der Opfermythos In www zukunft braucht erinnerung de Abgerufen am 19 Oktober 2017 Emrawi Kollektiv Austrian Victimmyth Identity Einzelnachweise Bearbeiten Zit n Ehtreiber 2007 Stichwort Opferthese a b Akustisches Dokument auf www staatsvertrag at Memento des Originals vom 20 Dezember 2008 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot www staatsvertrag at Hrsg Technisches Museum Wien mit Osterreichischer Mediathek abgerufen am 30 November 2008 Vgl etwa Nina Horaczek Echte Patrioten gegen Osterreich Vernaderer In Martin Strauss Karl Heinz Strohle Hrsg Sanktionen 10 Jahre danach Die Massnahmen der Lander der Europaischen Union gegen die osterreichische Regierung im Jahr 2000 StudienVerlag Innsbruck Wien Bozen 2010 ISBN 978 3 7065 4823 6 1938 am eigenen Leib erlebt Kritik an 21 Februar 2022 abgerufen am 22 Februar 2022 Aussenminister Alexander Schallenberg in der ZiB 2 Die Sprachbilder des Diplomaten Abgerufen am 22 Februar 2022 Hannes Obermair Grossdeutschland ruft Sudtiroler NS Optionspropaganda und volkische Sozialisation La Grande Germania chiamaǃ La propaganda nazionalsocialista sulle Opzioni in Alto Adige e la socializzazione volkisch 2 Auflage Sudtiroler Landesmuseum fur Kultur und Landesgeschichte Schloss Tirol 2021 ISBN 978 88 95523 36 1 S 16 ff Rolf Steininger Sudtirol Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart StudienVerlag Innsbruck Wien Munchen Bozen 2003 ISBN 3 7065 1348 X S 40 62 Eva Pfanzelter Die un verdaute Erinnerung an die Option 1939 In Geschichte und Region Storia e regione 2 2013 S 13 40 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Opferthese amp oldid 232604367