Die lateinische Epigraphik (aus altgriechisch ἐπιγράφειν epigráphein „auf-, einschreiben“) ist eine historische Hilfswissenschaft, die sich mit dem Studium, der Erstellung von Verzeichnissen und der Übersetzung von antiken lateinischen Inschriften befasst. Gegenstand sind im Wesentlichen alle originären lateinischen Schriftzeugnisse aus römischer Zeit, die auf dauerhaftem Material überliefert sind. Allerdings zählen auch Inschriften auf nicht beständigen Materialien, etwa Wachstafeln (tabulae ceratae) oder mit Tinte beschriebene Holztäfelchen, dazu, während Münzinschriften und Dokumente auf Papyrus oder Pergament eigenen Disziplinen vorbehalten sind.
Bedeutung, Geschichte und Publikation der Inschriften Bearbeiten
Lateinische Inschriften sind für die allseitige Erforschung römischer Lebenswelt und Geschichte von unschätzbarem Quellenwert. Zu den bekanntesten Beispielen gehören der Tatenbericht des Kaisers Augustus (Res gestae divi Augusti), der von Theodor Mommsen als „Königin der lateinischen Inschriften“ bezeichnet wurde, die Rede des Kaisers Claudius im Senat im Jahre 48 auf einer Bronzetafel aus Lyon sowie die Grabrede eines Witwers aus Augusteischer Zeit, die sogenannte Laudatio Turiae.
Der exakte Zeitraum der lateinischen Epigraphik in der römischen Welt lässt sich nur regional genauer und damit unterschiedlich fassen. Die zeitlich weiteste Ausdehnung erstreckt sich von den frühesten Zeugnissen aus der römischen Königszeit bis zum Jahre 711 n. Chr., dem Datum der arabischen Eroberung Spaniens als dem westlichsten Teil des Römischen Reiches, das somit auch das Ende der genuin römischen Epigraphik markiert.
Inschriften auf Stein finden sich auf zahlreichen Gebäuden, mit einem erklärenden oder kommentierenden Titulus. Zudem finden sich Inschriften auf Sockeln von Statuen, auf Sarkophagen (Epitaphe), auf Stelen, auf Meilensteinen (Miliaria) oder auf Bronzetafeln mit Gesetzestexten, z. B. die Tabula Clesiana. Zur lateinischen Epigraphik gehört auch das Studium der römischen Namen, ihrer Abkürzungen und der Titulatur von Würdenträgern. Im Laufe der Jahrhunderte wurden zahlreiche Inschriften entdeckt. Sie werden in Sammlungen wie dem Corpus Inscriptionum Latinarum zusammengefasst, neue Funde werden jährlich in L’Année épigraphique verzeichnet.
Inschriftenklassen Bearbeiten
Instrumenta publica Bearbeiten
Als Instrumenta publica gelten alle die staatliche Gemeinschaft regelnden Dokumente. Dies betrifft zunächst Gesetze, Senatsbeschlüsse und kaiserliche Erlasse (constitutiones), dann Militärdiplome und schließlich Patronatstafeln zur Bestätigung der Aufnahme einer Gemeinde, eines Municipium oder Familienverbandes in die Klientel eines Patrons.
Kalender, Protokolle Bearbeiten
Inschriften mit Angaben zum römischen Kalender, insbesondere zu den Dies fasti und nefasti, dienten der römischen Gesellschaft zur Orientierung im staatlichen, religiösen und wirtschaftlichen Leben. In diesen Bereich gehören auch die Acta fratrum arvalium, die Sitzungsprotokolle der Arval-Priesterschaft, deren Mitglieder aus den höchsten Kreisen Roms ernannt wurden. Ein Beispiel dafür ist das Carmen Arvale, ein Kultgesang aus archaischer Zeit, der in den Akten der Arval-Priesterschaft aus dem Jahre 218 n. Chr. als antiquarische Abschrift bewahrt wurde, die damals schon nicht mehr verstanden wurde.
Weihinschriften Bearbeiten
Auf Weihinschriften (tituli sacri) werden seit der römischen Frühzeit Tempel, Statuen, Altäre, aber auch Gebrauchsgegenstände wie Waffen, Gefäße oder bloße Votivtäfelchen einer oder mehreren Gottheiten zugeeignet. Dazu gehören auch die sogenannten Fluchtafeln (defixionum tabellae). Dies sind in der Regel dünne, meist aufgerollte Bleitafeln, oft mit einem Nagel durchbohrt. Auf ihren Innenseiten finden sich Verfluchungen von Personen (Dieben, Nebenbuhlern), auch von Tieren (Pferde beim Wagenrennen), oft verbunden mit kryptischen, magischen Zeichen. Die Texte sind anonym abgefasst, meist vergraben bewahrt und im Gegensatz zu Inschriften im Allgemeinen an keine „Öffentlichkeit“ gerichtet. Adressaten, wenn überhaupt genannt, sind vielmehr chthonische Götter wie Hekate oder die Götter der Unterwelt insgesamt.
Ehreninschriften Bearbeiten
Ehreninschriften (tituli honorarii) veröffentlichen Namen, Ämter und Ehrungen einer verstorbenen Persönlichkeit.
Bauinschriften Bearbeiten
Die Bauinschriften zeichnen sich durch große Vielfalt aus. Dazu gehören zunächst die Inschriften auf öffentlichen und privaten Bauen (tituli operis publici et privati). Bekanntestes Beispiel für die Inschrift auf einem antiken Gebäude ist wohl jene vom Architrav des Pantheons in Rom:
Übersetzung:
Weitere Beispiele für Bauinschriften sind aber auch Meilensteine (Miliaria). Sie markierten an den viae publicae, den römischen Reichsstraßen, die Entfernung vom Ausgangspunkt einer Wegstrecke. Ferner werden auch die Grenzsteine der Stadt Rom (Termini) dazu gezählt.
Grabinschriften Bearbeiten
Grabinschriften (tituli sepulcrales) finden sich auf Aschenkisten und Urnen größerer Grabbauten, auf Kolumbarien, am häufigsten jedoch auf Stelen, sowohl an den Gräberstraßen Roms als auch in den Grabstätten provinzialer Städte oder auf den Friedhöfen der Kastelle längs des Limes. Dabei werden oft diverse Arten von Abkürzungen verwendet:
- Siglum – Abkürzungszeichen, bestehend aus einem Buchstaben wie L(ucius);
- Nota – Teile eines Wortes, wie aed(ilis), l(e)g(io), co(n)s(ul),
- oder Nummern: DDD NNNN; d(omini) n(ostri)(quattuor).
Beispiel einer Grabinschrift Bearbeiten
Erhalten hat sich die Inschrift auf dem Grabstein des Marcus Valerius Celerinus, den man in Köln gefunden hat und heute dort im Römisch-Germanischen Museum besichtigen kann. Auf der Inschrift ist folgender Text zu lesen:
Löst man die Abkürzungen der Inschrift auf, so erhält man folgenden Text. Zur besseren Übersicht wurden die Ergänzungen und die beiden Korrekturen bei CIVES und VIVOS kursiv und mit kleinen Buchstaben hinzugesetzt:
Übersetzung:
Dipinti, Graffiti und Kleininschriften Bearbeiten
Schließlich sind jene Zeugnisse anzuführen, die von vornherein nicht für die Ewigkeit bestimmt waren, sondern dem Zufall der Überlieferung zu verdanken sind und uns so einen Einblick in den antiken Alltag gewähren. Dazu gehören Dipinti (tituli picti, oft in Form von Wahlaufrufen) und Graffiti (tituli scarifati), von denen die meisten in Pompeji, Herculaneum und Stabiae entdeckt wurden – der Städte, die im Jahre 79 n. Chr. im Aschenregen des Vesuv untergegangen waren.
Eine letzte Kategorie, zahlreich und vielfältig wie keine andere, wird als Kleininschriften (instrumentum domesticum) zusammengefasst und findet sich auf Gegenständen des täglichen Gebrauchs gestempelt, eingeritzt oder aufgemalt.
Übliche Abkürzungen (Auswahl) Bearbeiten
- A= annus Jahr; asses Asse
- AN [XXXII semissis]= annorum [Triginta duorum semissis] im Alter von [32,5] Jahren
- AVG= Augustus; Augur
- B R P N= bono rei publicae natus zum Wohle des Staates geboren
- B T O Q= bene tua ossa quiescant mögen deine Knochen in Frieden ruhen
- B VIX= bene vixit hat gut gelebt
- CAES= Caesar
- COS(S)= Consule (Consulibus) im Jahre des Konsulats des … (und…)
- C V= clarissimus vir hochangesehener Mann
- DM= Dis Manibus den Göttern der Unterwelt (geweiht)
- F= Filius Sohn; Fastus; fecit, fecerunt Er/sie ließ(en) anfertigen
- H S E= Hic situs est Er liegt hier (begraben)
- ID= Idibus An den Iden (am 13./15.)
- I S= infra scriptus untenstehend
- I O M= Iovi Optimo Maximo dem besten und größten Jupiter
- KAL [IVL]= Kalendis [Iuliis] am 1. Juli
- L= Libertus Freigelassener (oder römischer Name Lucius)
- LEG [X]= Legionis [Decimae] der [zehnten] Legion
- MIL= Miles Soldat
- NON= Nonis An den Nonen (am 5./7.)
- Q= Quästor
- PRO(COS)= proconsul/ pro consule Prokonsul/für den Konsul
- S C= Senatus consultum Senatsbeschluss
- STIP [XXV]= stipendiorum [Viginta quinque] Nach [25] Kriegsjahren
- VET= Veteranus Veteran (pensionierter Soldat)
- V IL= Vir illustris hervorragender Mann
- V S [L] L M= Votum solvit [laetus] libens merito er/sie löste das Gelübde [froh,] gern und nach Gebühr ein
Namen (Häufige Abkürzungen) Bearbeiten
Die gebräuchlichsten männlichen Vornamen:
- A(ulus)
- C(aius)
- CN(aeus)
- D(ecimus)
- K(aeso)
- L(ucius)
- M’(anius)
- M(arcus)
- P(ublius)
- Q(uintus)
- S(purius)
- SER(vius)
- SEX(tus)
- T(itus)
- TIB(erius), auch TI abgekürzt
Anmerkungen Bearbeiten
- Name des Toten: meist im Nominativ oder Dativ
- Stifter: meist im Nominativ (eventuell mit Angabe der Beziehung zum Toten: z. B. frater)
- Filiation: z. B. M F: Sohn des Marcus
- Gesellschaftsstand: z. B. M. Terenti L: Freigelassener des Marcus Terentus
- Herkunft: meist im Ablativ: z. B. Ara (aus Köln), Bononia (aus Bonn)
- Beruf/militärischer Rang: z. B. miles, centurio, praefectus
- Dienstzeit: stipendiorum (XV)
- Alter: annorum (XXX)
- Weihung für eine Gottheit: im Dativ: z. B. Dis Manibus, IOM, Deae Fortunae, Deo Mithrae
- Weihe/Stiftungsformel: z. B. V S L L M/faciendum curavit/fecit
- Grabformel: z. B. Hic situs est, Hic iacet
- de suo/de suis: aus eigenem Vermögen
Beispiel eines epigraphischen Textes Bearbeiten
Inschrift auf dem Septimius-Severus-Bogen in Rom, 203 n. Chr.
Anmerkung: | Zeilenwechsel. [ ] Ausgemeißelter und später überschriebener Teil. Quelle: CIL VI, 1033 = ILS 425
Übersetzung:
Literatur Bearbeiten
- Giancarlo Susini: Epigrafia romana (= Guide allo studio della civiltà romana. Band 10,1, ZDB-ID 2459323-0). Jouvence, Rom 1982, ISBN 88-780-1017-0.
- Leonhard Schumacher: Römische Inschriften. Philipp Reclam, Stuttgart 1988, ISBN 3-15-008512-8.
- Knud Paasch Almar: Inscriptiones Latinae. Eine illustrierte Einführung in die lateinische Epigraphik (= Odense University classical studies. Band 14). Odense University Press, Odense 1990, ISBN 877-492701-9.
- John Bodel: Epigraphic Evidence. Ancient history from Inscriptions. Routledge, London/New York 2001, ISBN 0-415-11623-6.
- Jean-Marie Lassère: Manuel d’épigraphie romaine (= Antiquité, Synthèses. Band 8,1–2). 2 Bände (Band 1: L’individu – la cité. Band 2: L’état – index.). Picard, Paris 2005, ISBN 2-7084-0732-5.
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2., durchgesehene und bibliographisch aktualisierte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, ISBN 978-3-534-23642-8.
- Alison Cooley: The Cambridge manual of Latin epigraphy. Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-0-521-54954-7.
Einzelnachweise Bearbeiten
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 1.
- CIL 13, 1668; Wikisource; fr.WP: Table claudienne.
- CIL 6, 1527 (Abbildungen (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2019. Suche in Webarchiven.) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.).
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 2.
- CIL 5, 5050.
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 31–43.
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 27–30.
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 44–49.
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 50.
- CIL 6, 896
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 57–64.
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 65.
- Die Inschrift befindet sich heute im Römisch-Germanischen Museum in Köln, ein Foto der Inschrift ist hier zu finden.
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 73–74.
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 76.
- Manfred G. Schmidt: Einführung in die lateinische Epigraphik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 85–86.