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Eva Hedwig Justin 23 August 1909 in Dresden 11 September 1966 in Offenbach am Main war eine deutsche Rassenforscherin zur Zeit des Nationalsozialismus Sie arbeitete unter Robert Ritter sowohl im Reichsgesundheitsministerium als auch nach 1948 im Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt Sie nahm Untersuchungen an Haftlingen in Jugendkonzentrationslagern vor und sorgte fur deren Begutachtung Mit Interventionen bei der Polizei trug sie zum Porajmos bei dem Genozid an einem grossen Teil der als Zigeuner kategorisierten europaischen Roma Eva Justin beim Vermessen eines Sinto fur die Rassenhygienische Forschungsstelle in den Raumlichkeiten der Kripo Karlsruhe Inhaltsverzeichnis 1 Leben 1 1 Promotion 1 2 Gutachten und Arbeit in der RHF 1 3 Arbeit in Jugendkonzentrationslagern 1 4 Nachkriegszeit 2 Literatur 2 1 Belletristik 3 Weblinks 4 EinzelnachweiseLeben Bearbeiten nbsp Eva Justin begutachtet im Rahmen ihrer Tatigkeit fur die Rassenhygienische Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes zwei alte Frauen und einen Jungen Aufnahme von 1936 nbsp Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen 1944 nbsp Eva Justin bei der Feldforschung 1938 in Stein in der Pfalz Diese Erhebungen flossen in die Rassegutachten ein nbsp Eva Justin assistiert Ritter bei einer Blutabnahme 1938 in Stein in der Pfalz Eva Justin wurde als Tochter des Reichsbahnbeamten Karl Justin und seiner Ehefrau Magarethe geb Ebinger in Dresden geboren Bereits 1925 wurde sie Mitglied im Jungdeutschen Orden Das Abitur machte sie 1933 im Alter von 24 Jahren am Luisenstift in Kotzschenbroda Niederlossnitz Ab 1934 nahm sie an einem Lehrgang fur Krankenschwestern teil und wurde von Robert Ritter an die Universitatsnervenklinik in Tubingen geholt 1 Im Jahr 1936 als Ritter zum Leiter der Rassenhygienischen und Bevolkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt RHF berufen wurde nahm er Justin mit und machte sie zu seiner Stellvertreterin 2 Sie immatrikulierte sich am 2 November 1937 in Berlin 3 Justin die Romanes beherrschte erwarb sich das Vertrauen mancher Roma und Sinti Promotion Bearbeiten Justin konnte keinen Hochschulabschluss vorweisen Um ihr dennoch eine Promotion zu ermoglichen setzte man sich in ihrem Fall mehrfach uber Formalien hinweg Ein ursprunglich von ihrem Hochschullehrer Kurt Gottschaldt vorgeschlagenes Thema ignorierte sie und brach auch die Besuche seiner Vorlesungen ab Anfang Marz 1943 legte sie stattdessen eine Arbeit Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen vor ein Thema das mit keinem Professor der Universitat vereinbart worden war 4 Ihre Promotion bedurfte also prominenter Unterstutzung Sie besuchte von Robert Ritter unterstutzt den emeritierten Eugeniker und ehemaligen NS Rektor der Berliner Universitat Eugen Fischer bei einem Kuraufenthalt in Baden Baden In einem Brief vom 4 Marz 1943 an seine alte Universitat bezeichnete Fischer die Psychologiestudentin Justin als Anthropologin Am 12 Marz nahm die Universitat die Dissertation an Als indirekter Doktorvater sprang Ritter ein der nicht zur Betreuung von Dissertationen berechtigt war Gutachter der Dissertation waren Richard Thurnwald und Ritter abschliessend Fischer In ihrem Schreiben zur Promotion berief sich Justin auf weitere Protektion von Hans Reiter dem Leiter des Reichsgesundheitsamtes Herbert Linden vom Reichsministerium des Innern und Paul Werner der im Reichskriminalpolizeiamt fur vorbeugende Verbrechensbekampfung zustandig war Die mundliche Prufung fand am 24 Marz zwischen 9 15 und 10 15 in Ritters Privatwohnung statt Fischer der Justin in Anthropologie u a uber Rothaarige prufte unterbrach dafur seine Kur Wolfgang Abel fuhrte eine weltanschauliche Besprechung durch der Volkerkundler Thurnwald befragte sie zu afrikanischen Wildbeutervolkern Fischer gab ihr ein knappes gut Abel sehr gut Thurnwald gut 5 Wahrend ihres Studiums besuchte sie nach eigenen Angaben Vorlesungen von prominenten NS Professoren und Verfechtern des erbpathologischen Paradigmas Wolfgang Abel Eugen Fischer Kurt Gottschaldt Hans F K Gunther Gunther Hertwig Paula Hertwig Fritz Lenz Wilhelm Emil Muhlmann Hans Reinerth Hans Reiter Robert Ritter Rupp Bruno Kurt Schultz Eduard Spranger Richard Thurnwald und Otto Wuth Die volkerkundliche Feldforschung Thurnwald fur ihre Dissertation fand im Fruhherbst 1942 fur sechs Wochen im katholischen Kinderheim St Josefspflege in Mulfingen statt wo insgesamt etwa 70 Heimkinder lebten Darunter fanden sich auch 40 zwischen sieben und 16 jahrige Sinti Kinder von Mulfingen die aufgrund verschiedener behordlicher Zwangsmassnahmen zusammengezogen worden waren Die deutschblutigen Kinder des Heimes wurden von Justin nicht beachtet 6 Grundlage fur die Zusammenfuhrung in diesem Heim war der wurttembergische Heimerlass fur Zigeunerkinder vom 7 November 1938 7 Ein Teil der Eltern war aufgrund von Heinrich Himmlers Asozialenerlass vom 14 Dezember 1937 8 ins KZ eingewiesen weitere Eltern waren infolge des Auschwitz Erlasses vom 16 Dezember 1942 deportiert worden oder Kinder waren aufgrund der Denunziation einer NSV Fursorgerin ihren Eltern entzogen und der Heimerziehung zugefuhrt worden 6 9 Auf die Sinti Kinder von Mulfingen wurde Himmlers Auschwitz Erlass zunachst nicht angewendet 10 Die Rohabzuge der Dissertation wurden am 5 November 1943 verschickt die endgultige Druckfassung am 9 Marz 1944 ausgeliefert Damit war Justins Promotionsverfahren abgeschlossen Wenige Tage spater jetzt konnte Justin sicher sein dass sie ihr Untersuchungsgut nicht mehr benotigte Gilsenbach gab die Polizei dem Kinderheim bekannt dass ein Abtransport der Kinder in ein Zigeunerlager geplant sei 11 Die 39 Sinti Kinder wurden am 9 Mai 1944 deportiert sie trafen am 12 Mai 1944 im Zigeunerlager Auschwitz ein Im August 1944 wurden diese Kinder bis auf vier im KZ Auschwitz Birkenau in der Gaskammer umgebracht 12 In ihrer Dissertation 13 kam Justin zu dem Ergebnis dass Zigeuner durch ihre mangelhaften Anpassungsfahigkeiten in der Regel doch mehr oder weniger asozial wurden Fast alle Zigeuner und Zigeunermischlinge sind durch eine mehr oder weniger grosse Haltschwache gefahrdet Es wurde immer neues minderwertiges Erbgut in den deutschen Volkskorper einsickern Das deutsche Volk braucht aber zuverlassige und strebsame Menschen und nicht den zahlreichen Nachwuchs dieser unmundigen Primitiven Aus diesen Grunden trat sie vehement fur die Zwangssterilisation von Sinti und Romafrauen ein Gutachten und Arbeit in der RHF Bearbeiten Nach 1943 arbeitete Eva Justin weiter als wissenschaftliche Assistentin in der RHF Dort unterzeichnete sie allein zwischen Februar und Oktober 1944 1320 Rassegutachten So schrieb sie an die staatliche Kriminalpolizei Berlin am 10 Juli 1944 uber die rassische Zuordnung einer Familie von funf Musikern aus Ungarn Wahrend das Aussere der Familienangehorigen nicht gerade typisch zigeunerisch ist sondern abgesehen von der Mutter an Neger Bastarde denken lasst sprachen Gestik Affektivitat und Gesamtverhalten nicht nur fur artfremde sondern gerade auch fur zigeunerische Herkunft Die unechte Art scheinbar urbanen Auftretens die Anpassung an sich flacher emotioneller Regungen an die jeweilige Umweltwirkung die Uneinsichtigkeit und Urteilsschwache gegenuber sachlichen Erwagungen und Folgerungen die Standpunktlosigkeit und Unfestigkeit innerer Stellungnahme zeugen bei aller Schlaue und Verschlagenheit von einer im Kern vorhandenen hochgradigen Naivitat und Primitivitat wie man sie in dieser gelockerten Art bei sesshaften Europaern mit gezuchtetem Arbeitssinn nicht trifft 14 Arbeit in Jugendkonzentrationslagern Bearbeiten 1943 waren Ritter und Mitarbeiterinnen kriegsbedingt von Berlin auch nach Furstenberg Havel umgezogen und hatten dort in der Sicherheitspolizeischule Drogen neues Quartier gefunden Am anderen Ortsende von Furstenberg lag das Frauenkonzentrationslager Ravensbruck In den Jugendschutzlagern Moringen fur mannliche und Uckermark fur weibliche Haftlinge waren Ritter und Justin fur die Begutachtung der Jugendlichen zustandig 15 Nachkriegszeit Bearbeiten Nach dem Ende des NS Regimes bezeichnete Justin sich im Fragebogen des Entnazifizierungsverfahrens als politisch nicht belastet und gab lediglich die Mitgliedschaft im Roten Kreuz und der Arbeitsfront zu Im Marz 1948 wurde sie obwohl sie niemals psychologisch mit Kindern gearbeitet hatte und auch kein Examen oder einen sonstigen Abschluss in Psychologie besass als Kinderpsychologin in Frankfurt am Main angestellt Ihr Vorgesetzter war wiederum Robert Ritter der seit dem 1 Dezember 1947 fur die Stadt Frankfurt arbeitete In der Folgezeit erstellte sie psychologische Gutachten uber schwererziehbare Kinder Justin und Ritter gaben in dieser Zeit auch die von ihnen unterschlagenen Akten des Reichsgesundheitsamtes also die Planungsunterlagen des Volkermordes an den europaischen Roma an Polizeibehorden und ehemalige Mitarbeiter der Forschungsstelle weiter 1958 ermittelte die Frankfurter Staatsanwaltschaft unter der personellen Zustandigkeit des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer gegen Justin und verkundete das Verfahren solle die nationalsozialistischen Vernichtungsmassnahmen gegen Zigeuner aufklaren 16 Nach umfangreicher Beweiserhebung konstatierte die Staatsanwaltschaft zwar dass die von Eva Justin angefertigten Rassenhygiene Gutachten uber Roma der Gruppen Sinte Gelderari Lallerie Lowari Roma aus Ungarn die Grundlage fur deren Deportation nach Auschwitz und anschliessende Ermordung gewesen seien konnte aber nicht nachweisen dass Justin die Folgen ihres Tuns gekannt habe Andere zweifelsfrei bewiesene Handlungen wie die Zwangssterilisationen wurden als verjahrt eingestuft Im Dezember 1960 stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Justin ein Bis 1962 begutachtete Justin fur die Stadt Frankfurt Zigeuner darunter auch solche die sie vor 1945 fur die Rassenhygienische Forschungsstelle begutachtet hatte Aufgrund eines Fernsehfilms von Irmgard und Valentin Senger wurde sie versetzt 17 1963 trat Justin zum katholischen Glauben uber 1964 nahm sie Feldforschungen in einem Wohnwagen beziehungsweise sogenannten Zigeunerlager bei Frankfurt Bonames vor und war danach als Angestellte der Universitats Nervenklinik in Frankfurt am Main tatig 18 Im September 1966 starb sie an Krebs Literatur BearbeitenHorst Peter Wolff Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte Elsevier Urban amp FischerVerlag 2001 ISBN 3 437 26670 5 Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam In Wolfgang Ayass Reimar Gilsenbach Ursula Korber u a Hrsg Feinderklarung und Pravention Kriminalbiologie Zigeunerforschung und Asozialenpolitik Beitrage zur nationalsozialistischen Gesundheits und Sozialpolitik Bd 6 Rotbuch Berlin 1988 ISBN 3 88022 955 4 Jessica Hoffmann Dahlemer Erinnerungsorte Frank amp Timme 2007 ISBN 3 86596 144 4 Kathrin Kompisch Taterinnen Frauen im Nationalsozialismus Bohlau Verlag Koln 2008 ISBN 978 3 412 20188 3 S 83 Ernst Klee Das Personenlexikon zum Dritten Reich Fischer Frankfurt am Main 2007 ISBN 978 3 596 16048 8 Johannes Meister Die Zigeunerkinder von der St Josefspflege in Mulfingen In 1999 Zeitschrift fur Sozialgeschichte des 20 und 21 Jahrhunderts Nr 2 1987 S 14 51 Belletristik Bearbeiten Ute Bales Bitten der Vogel im Winter Rhein Mosel Verlag Zell Mosel 2018 ISBN 978 3 89801 402 1 Biographischer Roman zu Eva Justin Weblinks Bearbeiten nbsp Commons Eva Justin Sammlung von Bildern Videos und Audiodateien Dissertation in digitalisierter Fassung Literatur von und uber Eva Justin im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Zigeuner So arisch In Der Spiegel 17 1963 24 April 1963 S 45 52 abgerufen am 14 August 2020 Der Spiegel berichtete In Der Spiegel 6 1964 5 Februar 1964 S 90 abgerufen am 14 August 2020 Einzelnachweise Bearbeiten Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam S 103 Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam S 103 f Horst Peter Wolff Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte Elsevier Urban amp Fischer 2001 ISBN 3 437 26670 5 S 112 Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam S 112 Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam S 112 115 a b Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam S 117 Annette Schafer Zwangsarbeiter in der Diozese Rottenburg 1939 1945 Hohenheimer Protokolle Bd 58 Akademie der Diozese Rottenburg Stuttgart ISBN 3 926297 87 5 S 306 Digitalisat PDF Datei 2 98 MB Abgedruckt bei Wolfgang Ayass Bearb Gemeinschaftsfremde Quellen zur Verfolgung von Asozialen 1933 1945 Koblenz 1998 Nr 50 Digitalisat Stefan Janker Otto Sonja Thomas und Albert Kurz Vier Cannstatter Sinti Kinder In stolpersteine cannstatt de 29 April 2006 abgerufen am 14 August 2020 Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam S 117 f Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam S 118 Johannes Meister nach Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam S 117 f Dissertationsthema Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen Digitalisat abgerufen am 14 August 2020 Tilman Zulch In Auschwitz vergast bis heute verfolgt zur Situation der Sinti und Roma in Europa Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1979 mit einem Vorwort von Ernst Tugendhat S 189 190 Reimar Gilsenbach Wie Lolitschei zur Doktorwurde kam S 121 Peter Sandner Nachkriegskarrieren von Robert Ritter und Eva Justin in Frankfurt 1947 1966 In frankfurt1933 1945 de 1 Januar 2006 abgerufen am 14 August 2020 Rede von Bundesratsprasident Hans Eichel Ansprache des Prasidenten zum Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Volkermordes an den Sinti und Roma Bundesrat Plenarprotokoll 733 18 Dezember 1998 S 523 abgerufen am 14 August 2020 Ernst Klee Auschwitz die NS Medizin und ihre Opfer 3 Auflage S Fischer Verlag Frankfurt am Main 1997 S 80f ISBN 3 596 14906 1 Normdaten Person GND 124550959 lobid OGND AKS VIAF 311073745 Wikipedia Personensuche PersonendatenNAME Justin EvaALTERNATIVNAMEN Justin Eva Hedwig vollstandiger Name KURZBESCHREIBUNG deutsche Rassenforscherin zur Zeit des NationalsozialismusGEBURTSDATUM 23 August 1909GEBURTSORT DresdenSTERBEDATUM 11 September 1966STERBEORT Offenbach am Main Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Eva Justin amp oldid 237807994