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Moshe Lewin auch Misha Lewin 7 November 1921 im damals polnischen Wilno litauisch Vilnius 14 August 2010 in Paris war ein Historiker Er befasste sich vor allem mit der Geschichte Russlands und der Geschichte der Sowjetunion Lewin galt als ein Doyen der sogenannten revisionistischen Schule diese setzte sich seit Ende der 1960er Jahre von Untersuchungen ab die der Totalitarismustheorie zuzuordnen sind Moshe Lewin Mitte der 1980er Jahre Inhaltsverzeichnis 1 Leben 1 1 Fruhe Jahre 1 2 Wissenschaftliche Karriere 1 3 Ehrungen Tod und Nachlass 2 Werke 3 Einzelnachweise 4 WeblinksLeben BearbeitenFruhe Jahre Bearbeiten Lewin war Kind eines judischen Vaters und einer ukrainischen oder russischen Mutter 1 die Eltern starben spater im Zuge des Holocaust Die ersten 20 Jahre seines Lebens verbrachte er in Polen Im Juni 1941 floh er vor der heranruckenden deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion 2 In den nachsten zwei Jahren arbeitete Lewin in einer Kolchose und als Hochofenarbeiter Die Erfahrungen als Land und Industriearbeiter in der Sowjetunion pragten spater sein akademisches Schaffen 1 Im Sommer 1943 trat er in die Rote Armee ein Er wurde auf eine Offiziersschule geschickt Dort verbrachte er die restliche Kriegszeit am letzten Tag des Krieges wurde er befordert 2 1946 ging er zuruck nach Polen bevor er nach Frankreich emigrierte Er forderte im Rahmen der Bricha die Einwanderung von Juden nach Palastina Alija Bet und wurde Mitglied der sozialistisch zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair 3 Als langjahriger Anhanger des linken Zionismus wanderte er 1951 nach Israel ein dort wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei 3 und arbeitete als Kibbuznik sowie als Journalist 2 Insbesondere Aktionen der israelischen Streitkrafte wie das Qibya Massaker und Vorgange im Sinai Krieg enttauschten Lewin Sie fuhrten dazu dass er sich neu orientierte und ein Studium aufnahm 3 1961 verlieh ihm die Universitat Tel Aviv den akademischen Grad eines Bachelors 4 Im selben Jahr erhielt Lewin der Russisch Jiddisch Polnisch Deutsch Hebraisch Englisch sowie Franzosisch sprach ein Forschungsstipendium und schrieb sich an der Pariser Sorbonne ein An dieser Universitat erforschte er die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft 5 Fur seine Dissertation verlieh ihm die Sorbonne 1964 den Doktorgrad Ph D 4 Wissenschaftliche Karriere Bearbeiten Von 1965 bis 1966 arbeitete Lewin als Studiendirektor an der Ecole pratique des hautes etudes in Paris 4 In dieser Zeit verfasste er auch ein Buchmanuskript dem seine Dissertation zugrunde lag Das Buch erschien 1966 in Franzosisch die englische Ubersetzung kam 1968 unter dem Titel Russian Peasants and Soviet Power heraus In dieser Monographie befasste sich Lewin mit der Getreidebeschaffungskrise von 1928 und den damit zusammenhangenden politischen Konflikten an der Spitze der kommunistischen Partei Diese Auseinandersetzungen mundeten seinerzeit in die Entscheidung fur eine gewaltsame Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft In seiner Arbeit betonte Lewin die Kollektivierung sei eine zweckmassige wenngleich extreme Antwort des sowjetischen Regimes auf reale Probleme gewesen Er kennzeichnete sie zugleich als eine von mehreren denkbaren Losungswegen Die Kollektivierung sei keineswegs unvermeidlich und vorherbestimmt gewesen sie sei vielmehr eine brutale Manifestation von Realpolitik Seine Interpretation unterschied sich damit deutlich von der traditionellen Geschichtsschreibung seiner Zeit Russian Peasants and Soviet Power war zunachst angelegt als erster Teil einer umfassenden Studie zur Sozialgeschichte Russlands bis 1934 dem Todesjahr von Sergei Kirow 6 Diese Vorstellung zerschlug sich jedoch moglicherweise auch deswegen weil die britischen Historiker Edward Hallett Carr und Robert W Davies ein vergleichbares Vorhaben vorantrieben 1968 erschien ebenfalls Lenin s Last Struggle 7 Es handelte sich um einen ausfuhrlichen Essay der die Entwicklung von Lenins Uberlegungen zur wachsenden sowjetischen Burokratie nachzeichnete Moshe Lewin arbeitete in dieser Schrift ebenfalls die Nachfolgekampfe heraus die bereits in der Endphase von Lenins todlicher Erkrankung tobten Hier verwies er ebenfalls auf verlorengegangene Alternativen zur realen historischen Entwicklung Lewin prasentierte auf diese Weise abermals eine historiografische Perspektive die sich von der Mehrzahl aller Fachstudien deutlich unterschied Diese Studien unterstellten gemass der in der akademischen Welt dominierenden Totalitarismustheorie die Sowjetunion sei ein grundsatzlich nicht wandlungsfahiges und monolithisches Gebilde Von 1967 bis 1968 war Lewin Senior Fellow an der Columbia University in New York City Anschliessend nahm er von 1968 bis 1978 eine Professur an der Birmingham University wahr 4 In dieser Periode veroffentlichte er Political Undercurrents in Soviet Economic Debates From Bukharin to the Modern Reformers Innerhalb des akademischen Diskurses uber die 1920er Jahre der Sowjetunion trug diese Studie zusammen mit den Arbeiten von Stephen F Cohen Historiker an der Princeton University dazu bei die Bedeutung von Nikolai Bucharin und seinen Ideen zu unterstreichen Lewin hob hervor dass viele Kritikpunkte die Bucharin 1928 und 1929 gegen die Politik Josef Stalins vorbrachte Jahrzehnte spater von Reformkommunisten als die ihrigen ausgegeben wurden Allein dies unterstreiche die Wichtigkeit historischer Studien fur die jeweilige Gegenwart 8 Nachdem er Birmingham verlassen hatte ging Lewin zuruck in die Vereinigten Staaten und lehrte bis zu seinem Ruhestand im Jahr 1995 an der University of Pennsylvania 4 2007 liess er sich endgultig in Frankreich nieder 9 Lewin galt als Nestor der Sozialgeschichte und als Pate der in den 1970er und 1980er Jahren aufstrebenden revisionistischen Schule junger sozialgeschichtlich orientierter Sowjetunion Historiker Dennoch konzentrierte sich sein Werk auf die Beziehungen zwischen politischer Geschichte und Wirtschaftsgeschichte Eine auffallige Ausnahme stellte in dieser Hinsicht die 1985 veroffentlichte Aufsatzsammlung The Making of the Soviet System dar In diesem Buch behandelte Lewin eine Reihe sozialgeschichtlicher Kernthemen wie etwa landliche Sitten Volksglauben Gewohnheitsrecht in der dorflichen Gesellschaft die Sozialstruktur der russischen Bauernschaft und die sozialen Beziehungen in der sowjetischen Industrie Lewin positionierte sich als Kritiker einer politikgeschichtlich orientierten Sowjetunion Geschichtsschreibung die danach fragt wozu Einzelne und Gruppen bereit sind stattdessen bevorzugte er einen unpolitischeren Ansatz der herauszufinden versucht wie Russen ticken 10 Theorien mit weitreichendem Anspruch betrachtete er stets mit Skepsis dennoch bildeten die Schriften von Karl Marx Max Weber und der Annales Schule wichtige Bezugspunkte fur seine Forschungsarbeit zur sowjetischen Geschichte 9 Obwohl er die Totalitarismustheorie ablehnte interessierte ihn der systematische Vergleich zwischen Deutschland und Russland beziehungsweise zwischen dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus Mit seinem britischen Kollegen Ian Kershaw organisierte Moshe Lewin mehrere Kolloquien zu dieser Aufgabenstellung Beide veroffentlichten 1997 die Aufsatzsammlung Stalinism and Nazism Dictatorships in comparison 11 Einige von Lewin gepragte Begriffe zur Kennzeichnung der Reichweite sozialer Transformationsprozesse in der Sowjetunion fanden weite Verbreitung in der akademischen Debatte Er etablierte beispielsweise die Begriffe Flugsandgesellschaft Verlandlichung der Stadte und Verbauerlichung der Arbeiterklasse 12 Die spaten Arbeiten von Moshe Lewin befassten sich mit dem Aufstieg von Michail Gorbatschow und dessen Bemuhungen um eine Reform des kommunistischen Systems Perestroika Zugleich war Lewin bestrebt den Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus in eine grossere historische Perspektive einzuordnen In seinem letzten Buch The Soviet Century im Jahr 2005 publiziert argumentiert Lewin das politische und okonomische System der Sowjetunion sei ahnlich der burokratischen Monarchie Preussens im 18 Jahrhundert eine Art burokratischer Absolutismus gewesen Es habe nachgegeben nachdem es aufgehort habe jene Leistungen zu erbringen zu denen es einst in der Lage war 13 Ehrungen Tod und Nachlass Bearbeiten 1992 wurde er mit einer von den Historikern Nick Lampert and Gabor Tamas Rittersporn herausgegebenen Festschrift geehrt Sie trug den Titel Stalinism Its Nature and Aftermath Essays in Honour of Moshe Lewin 14 Beitrage lieferten unter anderem Wirtschaftshistoriker wie Alec Nove 15 und R W Davies sowie Sozialhistoriker wie Lewis Siegelbaum 16 und Ronald Grigor Suny 17 Im Jahre 2006 wurdigte ihn die American Association for the Advancement of Slavic Studies mit ihrem Award for Distinguished Contributions to Slavic Studies fur seine monumentalen Beitrage zur russischen Geschichte des 20 Jahrhunderts 18 Moshe Lewin starb im Alter von 88 Jahren am 14 August 2010 vereinsamt und zuruckgezogen Omer Bartov zufolge vermutlich wegen zunehmender Demenz und Paranoia in Paris 1 Lewins wissenschaftlicher Nachlass ist in der University of Pennsylvania archiviert Werke BearbeitenLa Paysannerie et le Pouvoir Sovietique Paris Mouton 1966 Englische Ausgabe Russian Peasants and Soviet Power A Study of Collectivization Irene Nove with John Biggart trans London George Allen and Unwin 1968 Le Dernier Combat de Lenine Paris Les Editions de Minuit 1967 Englische Ausgabe Lenin s Last Struggle A M Sheridan Smith trans New York Random House 1968 Deutsche Ausgabe Lenins letzter Kampf Aus d Franz von Eva Gartner Hoffmann und Campe Hamburg 1970 ISBN 3 455 04399 2 Political Undercurrents in Soviet Economic Debates From Bukharin to the Modern Reformers Princeton NJ Princeton University Press 1974 Wiederveroffentlichung unter dem Titel Stalinism and the Seeds of Soviet Reform The Debates of the 1960s 1991 The Making of the Soviet System Essays in the Social History of Interwar Russia New York Pantheon 1985 The Gorbachev Phenomenon A Historical Interpretation Berkeley University of California Press 1988 Deutsche Ausgabe Gorbatschows neue Politik Die reformierte Realitat und die Wirklichkeit der Reformen Aus dem Amerikan ubers von Hans Gunter Holl Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1988 ISBN 3 596 24405 6 Russia USSR Russia The Drive and Drift of a Superstate New York The New Press 1995 Stalinism and Nazism Dictatorships in Comparison Co edited with Ian Kershaw Cambridge England Cambridge University Press 1997 The Soviet Century London Verso 2005 Einzelnachweise Bearbeiten a b c Omer Bartov Moshe Lewin s century in Kritika Explorations in Russian and Eurasian History Volume 12 Number 1 Winter 2011 pp 115 122 Haufig wird angegeben dass beide Elternteile Lewins judischer Herkunft waren a b c Nick Lampert Preface to Nick Lampert and Gabor Rittersporn Stalinism Its Nature and Aftermath Essays in Honour of Moshe Lewin Basingstoke England Macmillan 1992 S x a b c Alain Gresh Moshe Lewin 1921 2010 Historiker des sowjetischen Jahrhunderts in SoZ Nr 10 2010 Abruf am 25 Juli 2011 a b c d e Kaiyi Chen Finding Aid for the Moshe Lewin Papers Memento des Originals vom 18 Juni 2007 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot www archives upenn edu University of Pennsylvania Philadelphia 1998 Nick Lampert Preface S xi Moshe Lewin Author s Foreword to Russian Peasants and Soviet Power A Study of Collectivization London George Allen and Unwin 1968 S 11 Deutsch 1970 bei Hoffmann und Campe unter dem Titel Lenins letzter Kampf Moshe Lewin Introduction to Political Undercurrents in Soviet Economic Debates From Bukharin to the Modern Reformers Princeton NJ Princeton University Press 1974 S xiii a b Alfred J Rieber Moshe Lewin A Reminiscence and Appreciation in Kritika Explorations in Russian and Eurasian History Volume 12 Number 1 Winter 2011 pp 127 139 Moshe Lewin Introduction to The Making of the Soviet System Essays in the Social History of Interwar Russia New York Pantheon 1985 pp 5 6 Ian Kershaw and Moshe Lewin Eds Stalinism and Nazism Dictatorships in comparison Cambridge Univ Press Cambridge u a 1997 ISBN 0 521 56345 3 Arfon Rees Moshe Lewin obituary Lively provocative scholar of Soviet social history in The Guardian 27 September 2010 Moshe Lewin The Soviet Century London Verso 2005 S 383 Nick Lampert and Gabor Rittersporn Stalinism Its Nature and Aftermath Essays in Honour of Moshe Lewin Basingstoke England Macmillan 1992 Published in the United States by M E Sharpe Siehe den Artikel uber Nove in der englischsprachigen Wikipedia Siehe die Angaben uber Siegelbaum auf der Website der Michigan State University Siehe den Artikel uber Suny in der englischsprachigen Wikipedia Siehe die entsprechenden Ausfuhrungen 1 2 Vorlage Toter Link www aseees org Seite nicht mehr abrufbar festgestellt im Mai 2019 Suche in Webarchiven nbsp Info Der Link wurde automatisch als defekt markiert Bitte prufe den Link gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis auf der Website der Association for Slavic East European and Eurasian Studies Weblinks BearbeitenAlain Gresh Moshe Lewin 1921 2010 Historiker des sowjetischen Jahrhunderts in SoZ Nr 10 2010 Abruf am 25 Juli 2011 Arfon Rees Moshe Lewin obituary Lively provocative scholar of Soviet social history in The Guardian 27 September 2010 Abruf am 25 Juli 2011 Interview von Sasha Lilly mit Moshe Lewin Against the Grain Teil 1 MP3 18 2 MB and Teil 2 MP3 20 0 MB Talking History radio show 2005 Audio files Normdaten Person GND 112519598 lobid OGND AKS LCCN n50049241 VIAF 27067647 Wikipedia Personensuche PersonendatenNAME Lewin MosheALTERNATIVNAMEN Lewin MishaKURZBESCHREIBUNG US amerikanischer Sozial und WirtschaftshistorikerGEBURTSDATUM 7 November 1921GEBURTSORT VilniusSTERBEDATUM 14 August 2010STERBEORT Paris Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Moshe 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