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Kritische Phanomene sind in der Physik ein Oberbegriff fur die charakteristischen Verhaltensweisen von Materialien in der Nahe eines ihrer kritischen Punkte Kritische Phanomene treten zum Teil jedoch nicht ausschliesslich bei Phasenubergangen zweiter Ordnung auf Besonders charakteristisch ist bei fast allen Modellen die Divergenz der Korrelationslange 3 displaystyle xi bei Annaherung an die kritische Temperatur T c displaystyle T text c 3 T T c n displaystyle xi propto T T text c nu mit einem modellabhangigen aber innerhalb sehr grosser Universalitatsklassen einheitlichen Wert des kritischen Exponenten n displaystyle nu Quantitativ sind die kritischen Phanomene ausserdem vor allem durch algebraische Divergenzen von Ordnungsparametern und Skalierungsbeziehungen zwischen verschiedenen Grossen fraktales Verhalten und die Verletzung der Ergodizitat gekennzeichnet Kritische Phanomene werden auch in der Soziophysik betrachtet 1 2 Inhaltsverzeichnis 1 2D Ising Modell 1 1 Kritischer Punkt 1 2 Verletzung der Ergodizitat 2 Kritische Exponenten und Universalitat 2 1 Kritische Dynamik 2 2 Kritische Opaleszenz 3 Mathematische Hilfsmittel 4 Anwendungen 5 Literatur 6 Einzelnachweise2D Ising Modell Bearbeiten nbsp Das 2D Ising Modell am kritischen Punkt mit H 0 nbsp Das gleiche Modell bei einer Temperatur deutlich unterhalb des kritischen WertsZur Veranschaulichung des Verhaltens kritischer Phanomene kann das zweidimensionale Ising Modell verwendet werden Dieses beschreibt ein Feld klassischer Spins die nur die zwei diskrete Zustande 1 und 1 annehmen konnen Die Wechselwirkung wird durch den klassischen Hamiltonoperator beschrieben H J i j S i S j displaystyle H J sum i j S text i cdot S text j nbsp Dabei erstreckt sich die Summe uber benachbarte Paare und J displaystyle J nbsp ist eine als konstant angenommene Kopplungskonstante Falls sie positiv ist weist das System unterhalb einer kritischen Temperatur T c displaystyle T text c nbsp der Curietemperatur ferromagnetische langreichweitige magnetische Ordnung auf Oberhalb dieser Temperatur ist es paramagnetisch und bei zeitlicher Mittelung ohne Ordnung Am absoluten Nullpunkt kann der thermische Erwartungswert S i T displaystyle langle S text i rangle T nbsp nur einen der Werte 1 oder 1 annehmen T 0 S i T 1 displaystyle T 0 qquad langle S text i rangle T pm 1 nbsp Bei hoheren Temperaturen ist der Zustand unterhalb von T c displaystyle T text c nbsp insgesamt gesehen noch immer magnetisiert 0 lt T lt T c S i T s T displaystyle 0 lt T lt T text c qquad langle S text i rangle T pm sigma T nbsp mit 0 lt s T lt 1 displaystyle 0 lt sigma T lt 1 nbsp d h es treten jetzt Bereiche Cluster mit unterschiedlichem Vorzeichen auf Den typischen Durchmesser dieser Cluster bezeichnet man als Korrelationslange 3 displaystyle xi nbsp Mit Erhohung der Temperatur bestehen die Cluster selbst aus immer kleineren Clustern Die Korrelationslange wachst mit der Temperatur bis sie am kritischen Punkt divergiert T T c 3 displaystyle T to T text c qquad xi to infty nbsp Dies bedeutet dass das gesamte System jetzt einen einzelnen Cluster bildet und es keine globale Magnetisierung mehr gibt Oberhalb der kritischen Temperatur ist das System global ungeordnet besteht jedoch aus geordneten Clustern deren Grosse sich mit steigender Temperatur verringert Die Grosse der Cluster definiert wiederum die Korrelationslange Im Grenzwert sehr grosser Temperaturen ist diese Null und das System vollstandig ungeordnet T 3 0 displaystyle T to infty qquad xi to 0 nbsp Kritischer Punkt Bearbeiten Am kritischen Punkt divergiert die Korrelationslange Diese Divergenz ist die Ursache dafur dass auch andere physikalische Grossen z B die spezifische Warme an diesem Punkt divergieren oder mit speziellen Potenzgesetzen gegen Null gehen konnen Dabei gibt die Korrelationslange die Langenskala wieder auf der eine Korrelation zwischen Ereignissen besteht bzw auf der sich Fluktuationen erstrecken Neben der Korrelationslange ist die magnetische Suszeptibilitat eine am kritischen Punkt divergierende Grosse Wenn man das System einem kleinen Magnetfeld aussetzt im Hamiltonoperator realisiert durch einen zusatzlichen Term h S i displaystyle h sum S text i nbsp so wird dieses nicht in der Lage sein einen grossen koharenten Cluster zu magnetisieren Falls jedoch kleine fraktale Cluster existieren so andert sich das Bild die kleinsten dieser Cluster werden problemlos beeinflusst da sie ein nahezu paramagnetisches Verhalten zeigen Diese Veranderung beeinflusst jedoch nachstgrossere Cluster und die Storung breitet sich rasch aus und verandert das gesamte System radikal Kritische Systeme sind daher ausserst sensibel gegenuber kleinen Veranderungen in der Umgebung Verletzung der Ergodizitat Bearbeiten Ergodizitat ist die Annahme dass ein System bestimmter Temperatur den gesamten Phasenraum erkundet In einem Ising Ferromagneten unterhalb von T c displaystyle T mathrm c nbsp geschieht dies jedoch nicht Stattdessen wahlt das System hier vielmehr eine globale Magnetisierung wobei positive und negative Werte mit gleicher Wahrscheinlichkeit vorkommen so dass der Phasenraum in zwei Gebiete geteilt ist 0 lt T lt T c S i T s T displaystyle 0 lt T lt T text c qquad langle S text i rangle T pm sigma T nbsp mit 0 lt s T lt 1 displaystyle 0 lt sigma T lt 1 nbsp Es ist nicht moglich von einem Gebiet in das andere zu gelangen ohne ein Magnetfeld anzulegen oder die Temperatur uber die kritische Temperatur T c displaystyle T text c nbsp zu erhohen Bei Heisenberg Magneten sind unterhalb der kritischen Temperatur sogar alle beliebigen Richtungen als aquivalent separate Ergozitatskomponenten zugelassen die Beschreibung des Uberganges als kritisches Phanomen insbesondere mit den oben genannten kritischen Exponenten ist trotzdem gultig Bei Spinglasern bestimmten ungeordneten Spinsystemen gilt das nicht mehr jedenfalls in drei Dimensionen nicht im Wesentlichen weil sie dort ein Kontinuum von nichtaquivalent separaten Ergozitatskomponenten haben Kritische Exponenten und Universalitat BearbeitenBei kritischen Phanomen gilt generell dass sich die Observablen bei Annaherung an den kritischen Punkt verhalten wie A T T T c a displaystyle A T propto T T text c alpha nbsp mit einem Exponenten a displaystyle alpha nbsp Dabei hat der Exponent a displaystyle alpha nbsp oberhalb und unterhalb von T c displaystyle T text c nbsp im Allgemeinen denselben Wert Er ist bei Konvergenz positiv a gt 0 displaystyle left alpha gt 0 right nbsp bei a 0 displaystyle alpha 0 nbsp ist logarithmische Divergenz oder unstetiges Verhalten moglich im Divergenzfall negativ a lt 0 displaystyle left alpha lt 0 right nbsp Die Exponenten fur verschiedene physikalischer Grossen werden als kritische Exponenten bezeichnet und sind charakteristische Observablen die insbesondere gegen Storungen unempfindlich sind sofern diese nicht die Symmetrie des Systems verandern Zwischen den kritischen Exponenten bestehen verschiedene Skalenbeziehungen wie n g 2 h displaystyle nu frac gamma 2 eta nbsp mit den kritischen Exponenten n displaystyle nu nbsp fur die Korrelationslange g displaystyle gamma nbsp fur die Suszeptibilitat h displaystyle eta nbsp fur die Korrelationsfunktion Dieses Phanomen wird als scaling bezeichnet Daruber hinaus gilt Universalitat d h die erwahnten Exponenten hangen zwar von der Dimension des Systems und der vorliegenden Symmetrie ab haben aber jeweils fur eine unendlich grosse Klasse von Modellen den gleichen Wert Sowohl das scaling als auch die Existenz der Universalitatsklassen konnen von der Renormierungsgruppentheorie qualitativ und quantitativ erklart werden Kritische Dynamik Bearbeiten Auch bei dynamischen Phanomenen gibt es kritisches Verhalten und Universalitat Die Divergenz der charakteristischen Zeit t displaystyle tau nbsp verbunden mit anderen charakteristischen Phanomenen der kritischen Verlangsamung wird durch einen dynamischen Exponenten z displaystyle z nbsp auf die Divergenz der Korrelationslange 3 displaystyle xi nbsp zuruckgefuhrt 3 t 3 z displaystyle tau xi z nbsp Die im Allgemeinen sehr umfangreichen statischen Universitatsklassen spalten in weniger umfangreiche dynamische Universitatsklassen auf mit unterschiedlichem z displaystyle z nbsp aber gleicher kritischer Statik Kritische Opaleszenz Bearbeiten Bei gewissen Flussigkeitsmischungen gibt es das als kritische Opaleszenz bezeichnete Phanomen der milchigen Eintrubung am kritischen Punkt der Flussigkeitsmischung bilden sich immer mehr mikroskopisch feine Tropfchen wobei die Wellenlange der Fluktuationen standig zunimmt 3 displaystyle xi to infty nbsp die Fluktuationsdynamik sich aber gleichzeitig immer weiter verlangsamt t displaystyle tau to infty nbsp Mathematische Hilfsmittel BearbeitenViele Eigenschaften des kritischen Verhaltens lassen sich aus der Renormierungsgruppentheorie ableiten Diese nutzt das Bild der Selbstahnlichkeit aus um Universalitat zu erklaren und numerische Werte der kritischen Exponenten vorherzusagen Eine Rolle spielt auch die Variationsstorungstheorie welche divergente Storungsreihen in konvergente Entwicklungen der starken Kopplung verandert Die Molekularfeldtheorie eignet sich nicht zur Beschreibung kritischer Phanomene da sie nur weit entfernt vom Phasenubergang gultig ist und Korrelationseffekte vernachlassigt die in der Nahe des kritischen Punktes an Bedeutung gewinnen weil dort die Korrelationslange divergiert In zweidimensionalen Systemen bildet die Konforme Feldtheorie ein wirksames Hilfsmittel Unter Ausnutzung von Skaleninvarianz und einigen weiteren Voraussetzungen die zu unendlichen Symmetriegruppen fuhren konnten eine Reihe neuer Eigenschaften zweidimensionaler kritischer Systeme gefunden werden Anwendungen BearbeitenAnwendungen gibt es ausser in Physik und Chemie auch in Fachern wie der Soziologie und der Finanzwissenschaft Okonophysik Es liegt z B nahe ein Zwei Parteien System naherungsweise durch ein Ising Modell zu beschreiben Beim Ubergang von einer Mehrheitsmeinung zur anderen kann man dann unter Umstanden die oben beschriebenen kritischen Phanomene beobachten 4 Literatur BearbeitenJames J Binney et al The theory of critical phenomena an introduction to the renormalization group Clarendon Press Oxford 2001 ISBN 0 19 851393 3 W Gebhardt U Krey Phasenubergange und kritische Phanomene Eine Einfuhrung Vieweg 1980 ISBN 3528084227 Nigel Goldenfeld Lectures on phase transitions and the renormalization group Addison Wesley Redwood City 1997 ISBN 0 201 55408 9 Igor Herbut A modern approach to critical phenomena Cambridge Univ Press Cambridge 2007 ISBN 0 521 85452 0 H Kleinert and V Schulte Frohlinde Critical Properties of f4 Theories World Scientific Singapore 2001 ISBN 981 02 4659 5 Online Einzelnachweise Bearbeiten Serge Galam Yuval Gefen Feigenblat Yonathan Shapir Sociophysics A new approach of sociological collective behaviour I mean behaviour description of a strike In The Journal of Mathematical Sociology 9 2010 S 1 doi 10 1080 0022250X 1982 9989929 Sorin Solomon Gerard Weisbuch Lucilla de Arcangelis Naeem Jan Dietrich Stauffer Social percolation models In Physica A Statistical Mechanics and its Applications Band 277 Nummer 1 2 2000 S 239 247 doi 10 1016 S0378 4371 99 00543 9 P C Hohenberg B I Halperin Theory of dynamic critical phenomena Reviews of Modern Physics Band 49 1977 DOI 10 1103 RevModPhys 49 435 W Weidlich Sociodynamics Republication by Dover Publications London 2006 ISBN 0 486 45027 9 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Kritisches Phanomen amp oldid 224062949