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Der Begriff Elendsalkoholismus wurde im 20 Jahrhundert gepragt und wird in der Literatur verwendet fur die Beschreibung von Alkoholismus als Massenphanomen der unteren Bevolkerungsschichten als Folge von Armut und Pauperismus vor allem in Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbruchen der Industriellen Revolution Einige Historiker lehnen die Verwendung dieses Begriffs als irrefuhrend ab da es keine Kausalitat zwischen Alkoholismus und Industrialisierung gebe 1 Der Gegenbegriff ist Wohlstandsalkoholismus William Hogarth machte 1751 in seinen beruhmten Stichen Beer Street und Gin Lane die Folgen der englischen Gin Epidemie anschaulich Inhaltsverzeichnis 1 Historischer Hintergrund 2 Industrialisierungstheorie 3 Gegenpositionen 4 Literatur 5 EinzelnachweiseHistorischer Hintergrund BearbeitenAlkoholische Getranke waren schon im Mittelalter in Europa Alltagsgetranke fur alle Bevolkerungsschichten allerdings in Form von Wein und Bier mit niedrigem Alkoholgehalt Ein Grund dafur war dass das Trinkwasser haufig verunreinigt war und deshalb nicht pur getrunken werden konnte 2 Ausserdem galten Wein und Bier nicht als Genussmittel sondern als starkende Lebensmittel Seit dem 17 Jahrhundert ging die Bierbrauerei in Deutschland zuruck 3 Nach den Befreiungskriegen 1813 1815 wurde Branntwein durch neue und bessere industrielle Herstellungsverfahren und durch die Verwendung der Kartoffel als Ausgangsmaterial deutlich billiger als Bier Die grossten Kartoffelanbaugebiete im Norden und Osten Deutschlands wurden zu Zentren der Kartoffelschnapsbrennerei meist betrieben von adligen Gutsbesitzern Der billige Schnaps wurde zum Alltagsgetrank fur grosse Teile der Bevolkerung 3 Fur den massenhaften Konsum wurde von Zeitgenossen der Begriff Branntweinpest gepragt Eine ahnliche Entwicklung gab es in England Dort wurde 1694 die Biersteuer erhoht so dass sich die unteren Bevolkerungsschichten nur noch den billigeren Branntwein leisten konnten Der Pro Kopf Konsum verzehnfachte sich bis 1750 ein erwachsener Londoner trank damals statistisch rund 63 Liter pro Jahr 1751 wurde die Steuer auf Branntwein erhoht und der Verbrauch ging prompt stark zuruck 4 Die Grundkonstellation der Gin Epidemie sollte sich noch vielfach wiederholen Irland USA Deutschland Skandinavien Allein die Lander mit einer ungebrochenen Tradition Wein oder Bier als Nahrungsmittel zu betrachten wie Italien oder Bayern zeigen sich gefeit 5 In Preussen verfunffachte sich der jahrliche Schnapsverbrauch von 1800 bis 1830 auf fast 25 Liter pro Kopf was uber 40 Liter entspricht bezogen auf die erwachsene Bevolkerung 4 Der starke Anstieg des Branntweinkonsums fallt zeitlich zusammen mit der Auflosung der traditionellen Standegesellschaft in Europa die bis zum 18 Jahrhundert jedem einen festen Platz im sozialen Gefuge zugewiesen hatte Noch nie in der europaischen Geschichte war das Leben breitester Schichten so elend wie in den Dezennien die der Industrialisierung vorangingen 6 Eine wichtige Voraussetzung der Industrialisierung war die so genannte Bevolkerungsexplosion ab Mitte des 18 Jahrhunderts Wahrend bis zum 18 Jahrhundert die Sterberate etwa so hoch war wie die Geburtenrate war die Geburtenrate nun deutlich hoher Damit stieg der Bedarf an Nahrungsmitteln zwangslaufig an Die Beschrankungen der Zunfte fielen weg die Gewerbefreiheit und die freie Wahl des Wohnsitzes wurden eingefuhrt Die verarmte Landbevolkerung stromte in die Stadte Landflucht und stand fur die neu entstehenden Fabriken als billige Arbeitskrafte zur Verfugung Der Lohn eines Arbeiters reichte nicht aus um eine Familie zu ernahren so dass Frauen und Kinder mitarbeiten mussten Das verbreitete Elend der Arbeiterfamilien in den Stadten des 19 Jahrhunderts wird auch als Pauperismus bezeichnet Beschaftigte die besonders anstrengende Tatigkeiten verrichteten haufig Uberstunden leisten mussten oder unter extremen Bedingungen arbeiteten wie die Arbeiter in der Giesserei bei Krupp erhielten vom Arbeitgeber eine tagliche Ration Schnaps zugeteilt 2 Nachdem 1826 in Boston die American Temperance Society gegrundet worden war folgten ahnliche Vereinigungen der Abstinenzbewegung in Europa zunachst in Grossbritannien und kurze Zeit spater im Deutschen Bund Mitte des 19 Jahrhunderts endete die erste Abstinenzwelle ehe der Alkoholismus Jahrzehnte spater erneut zu einem offentlich diskutierten Thema wurde und von Medizinern als Krankheit eingestuft wurde 4 Industrialisierungstheorie Bearbeiten nbsp Gustav Imlauer Ihr zu Fussen 1883 Ein Zusammenhang zwischen der sozialen Lage des Einzelnen und Alkoholismus wurde in Deutschland seit dem Vormarz diskutiert Die Theorie dass es sich bei dem vermehrten Alkoholkonsum der unteren Bevolkerungsschichten im 18 und 19 Jahrhundert um Elendsalkoholismus handele der eine direkte Folge des Industrialisierungsprozesses sei geht vor allem auf die Gesellschaftstheorien des Marxismus zuruck die Beschreibung des Elendsalkoholismus und der notwendigen Gegenmassnahmen wurde ein Thema von Staatswissenschaftlern und anderen medizinischen Laien wie Robert von Mohl oder Friedrich Engels Engels wie auch spater Teile der SPD sahen im Konsum von Alkohol ein Symptom des Industriekapitalismus d h eine notwendige Folge der aus den kapitalistischen Produktionsverhaltnissen resultierenden Verelendung des Proletariats Eine Uberwindung des Kapitalismus hatte demnach zwangslaufig auch zur Beseitigung des Alkoholismus gefuhrt 7 Engels Bericht aus dem Jahr 1845 mit dem Titel Die Lage der arbeitenden Klasse in England hatte grossen Einfluss auf die Position der deutschen Arbeiterbewegung und der SPD zum Alkoholkonsum der Arbeiterschaft Laut Engels fuhrten die schlechten Lebensbedingungen des Proletariats fast zwangslaufig zur Trunksucht Auch Teile der SPD sahen den Alkoholismus vor allem als Hindernis im Klassenkampf an Diese Position wurde vehement vom 1903 gegrundeten Deutschen Arbeiter Abstinenten Bund DAAB vertreten der 1905 1300 Mitglieder hatte Er forderte vollige Abstinenz und wollte laut Statut durch Bekampfung des Alkoholgenusses und der Trinksitten innerhalb der Arbeiterschaft den Befreiungskampf der Arbeiterklasse fordern 8 Der DAAB bezeichnete den Alkohol sogar als bewusst von der Bourgeoisie eingesetztes Mittel gegen das Proletariat und pragte den Begriff Alkoholkapital 8 In dieser Sichtweise wird davon ausgegangen dass viele Fabrikanten gezielt hochprozentigen Alkohol an ihre Arbeiter ausgaben um sie zum einen gefugig und zum anderen leistungsfahiger zu machen So heisst es bei einem Autor Leistung und Gehorsam auch das erkauften sich so manche Fabrikbesitzer mit dem Alkohol Gegenuber leicht berauschten Arbeitern war die neue Ordnung leichter durchzusetzen 2 Die Einschatzungen uber das Phanomen Branntweinpest als Elendsalkoholismus zurzeit der aufkommenden Industrialisierung gehen von einer Kausalkette von industrieller Fabrikarbeit schlechter Arbeits und Lebensbedingungen Massenarmut und Trunksucht aus 9 Der Elendsalkoholismus wurde auch zu einem literarischen Topos bei den Vertretern des Naturalismus wie Emile Zola Gegenpositionen BearbeitenDie Theorie vom Elendsalkoholismus der stadtischen Industriearbeiterschaft im 19 Jahrhundert ist unter Historikern umstritten Kritisiert wird vor allem der angenommene Kausalzusammenhang zwischen Industrialisierung und Alkoholismus bzw steigendem Alkoholkonsum 1 3 So schreibt Heinrich Tappe Die Branntweinpest ging in Deutschland der Industrialisierung voraus und lasst sich insofern weder von Seiten der Nachfrage noch der Produktionsstrukturen mit ihr in Verbindung bringen 3 Nach 1800 habe sich der billige Kartoffelschnaps zunachst als Alltagsgetrank bei der Bevolkerung der landlichen Regionen Nord und Ostdeutschlands ausgebreitet und aus diesen Regionen kam die Masse der fruhen Fabrikarbeiter die in den Stadten ihre Trinkgewohnheiten beibehielten Auch der Pauperismus ging der Industriellen Revolution voraus 3 Gunther Hirschfelder vertritt die Auffassung dass bereits vor der Industrialisierung im Handwerk und in den Manufakturen relativ viel Alkohol getrunken wurde Neu war im 19 Jahrhundert nur dass der Branntwein Wein und Bier abgelost hatte Er untersuchte anhand von Quellen den Alkoholkonsum der Arbeiter in Manchester und in Aachen und kommt zu dem Schluss dass es sich bei dem Begriff Elendstrinken vor allem um ein verbreitetes Schlagwort handelt und spricht von einem Mythos im Zusammenhang mit der Industriearbeiterschaft 1 Im gesamtgesellschaftlichen Kontext muss beachtet werden dass es keinesfalls Handwerker oder Arbeiter waren die in vor oder fruhindustrieller Zeit am meisten tranken die absolute Spitzenstellung hatten in dieser Hinsicht wohlhabende mannliche Kaufleute und Wohlstandsburger mittleren Alters inne 1 Auch Ulrich Wyrwa widerspricht der Theorie vom Elendsalkoholismus der Arbeiter im 19 Jahrhundert und kommt zu dem Schluss Der Alkoholkonsum der Arbeiter ist kein Symptom von Verelendung und Demoralisierung sondern ein Element ihrer Kultur und Lebensweise Trotz Mangel und Not vermochten sich die Arbeiter Situationen der Musse und des Genusses zu verschaffen sie waren nicht nur die hilflosen Opfer der Industrialisierung 10 Laut Hasso Spode gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen der offentlichen Thematisierung eines Alkoholproblems und der de facto konsumierten Alkoholmenge der Bevolkerung er spricht von vier Thematisierungkonjunkturen in Mitteleuropa seit dem Mittelalter die erste im 16 Jahrhundert die zweite um 1800 die dritte im zweiten Drittel des 19 Jahrhunderts und die letzte Ende des 19 Jahrhunderts Die Thematisierungszyklen zeigen keine Korrelation mit der absoluten Konsumhohe Sie brachten stattdessen einen Wandel in den gesellschaftlichen Einstellungen zum Umgang mit alkoholischen Getranken zum Ausdruck Seit etwa 1800 handelte es sich um globale Erscheinungen die nicht nur aber vorrangig in protestantischen Kulturen erfolgreich waren 11 Literatur BearbeitenGunther Hirschfelder Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters 1700 1850 Vergleichende Studien zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel 2 Bande Bd 1 Die Region Manchester Bd 2 Die Region Aachen Bohlau Koln 2003 2004 ISBN 3 412 15301 X Zugleich Bonn Univ Habil Schr 2000 James Roberts Der Alkoholkonsum deutscher Arbeiter im 19 Jahrhundert In Geschichte und Gesellschaft 6 H 2 1980 ISSN 0340 613X S 220 242 Hasso Spode Die Macht der Trunkenheit Kultur und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland 2 vollig neubearbeitete Auflage Leske und Budrich Opladen 1996 ISBN 3 8100 1709 4 Heinrich Tappe Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur Alkoholproduktion Trinkverhalten und Temperenzbewegung in Deutschland vom fruhen 19 Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg Steiner Stuttgart 1994 ISBN 3 515 06142 8 Studien zur Geschichte des Alltags 12 Zugleich Munster Westfalen Univ Diss 1992 Ulrich Wyrwa Branntewein und echtes Bier Die Trinkkultur der Hamburger Arbeiter im 19 Jahrhundert Junius Hamburg 1990 ISBN 3 88506 507 X Sozialgeschichtliche Bibliothek bei Junius 7 Einzelnachweise Bearbeiten a b c d Gunther Hirschfelder Der Mythos vom Elendstrinken in LpB Hg Der Burger im Staat Heft 4 2002 Nahrungskultur Essen und Trinken im Wandel S 219 225 a b c Ronald Schenkel Alkohol einst Nahrung und Lohnbestandteil heute verpont HR Today Dezember 2007 archiviert vom Original am 14 November 2010 abgerufen am 11 Januar 2016 Originalwebseite nicht mehr verfugbar a b c d e Heinrich Tappe Alkoholverbrauch in Deutschland Entwicklung Einflussfaktoren und Steuerungsmechanismen des Trinkverhaltens im 19 und 20 Jahrhundert in Burger im Staat Heft Nahrungskultur 4 2002 S 213 218 a b c Hasso Spode Art Alkoholische Getranke in Thomas Hengartner Christoph Maria Merki Genussmittel Ein kulturgeschichtliches Handbuch 2001 S 55 ff Hasso Spode Art Alkoholische Getranke in Thomas Hengartner Christoph Maria Merki Genussmittel Ein kulturgeschichtliches Handbuch 2001 S 56 Hasso Spode Art Alkoholische Getranke in Thomas Hengartner Christoph Maria Merki Genussmittel Ein kulturgeschichtliches Handbuch 2001 S 55 Wickard Puls Stress Arbeitsbedingungen und der Konsum von Alkohol Theoretische Konstruktionen und empirische Befunde 2002 S 18 a b Markus Wollina Menschen die von Alkohol durchtrankt sind SPD und Alkoholfrage 1890 1907 PDF 92 kB labour net archiviert vom Original abgerufen am 11 Januar 2016 Originalwebseite nicht mehr verfugbar Sylvia Kloppe Die gesellschaftliche Konstruktion der Suchtkrankheit 2004 S 164 Ulrich Wyrwa Branntewein und echtes Bier Zusammenfassung Universitat Potsdam archiviert vom Original am 11 Dezember 2008 abgerufen am 8 April 2019 Originalwebseite nicht mehr verfugbar Hasso Spode Zum Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen zum Thema Alkohol PDF 36 kB Deutsche Hauptstelle fur Suchtfragen DHS 12 November 2007 abgerufen am 11 Januar 2016 Grundsatzreferat auf der DHS Fachkonferenz 12 14 November 2007 zum Thema Alkohol Neue Strategien fur ein altes Problem Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Elendsalkoholismus amp oldid 233261982