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Die Wertungsjurisprudenz ist eine Methodenlehre der Rechtswissenschaft Entwickelt wurde sie im deutschen Rechtskreis als kleinster gemeinsamer Nenner verschiedener Richtungen in den 1960er Jahren Sie folgt dem dogmatischen Ansatz dass die Anwendung von Gesetzen was deren Auslegung einschliesst stets wertend erfolgt Vertreten wird die Auffassung vom uberwiegenden Teil des Schrifttums und von der Rechtsprechung Die Wertungsjurisprudenz baut auf der Interessenjurisprudenz auf welche wiederum zur historisch vorangegangenen Begriffsjurisprudenz in Abkehr steht Teils werden Interessen und Wertungsjurisprudenz synonym verwendet was aber zu Abgrenzungsschwierigkeiten fuhrt Insoweit eine terminologische Unterscheidung nicht weiterhilft lassen sich fur das heutige Verstandnis aber inhaltliche Unterschiede bei der Konstruktion des Verhaltnisses zum Gesetzgeberwillen festmachen eingeschlossen der Umgang mit Gesetzeslucken und Rechtsfortbildung Inhaltsverzeichnis 1 Herleitung 2 Massstabe 3 Kritik 4 Literatur 5 AnmerkungenHerleitung BearbeitenDie Dogmatik der Wertungsjurisprudenz steht in einer Tradition verschiedener Grunduberlegungen zum positiven Recht Seit den grossen kontinentaleuropaischen Kodifikationen 1 um die Wende zum 19 Jahrhunderts stellt sich die Frage ob und wie Gesetzeswortlaut und Rechtspraxis in Einklang gebracht werden konnen Die noch dem Vernunftrecht verschriebene Begriffsjurisprudenz suchte nach einer dogmatischen Losungstechnik die einen mathematisch logischen Denk und Arbeitsansatz verfolgte Fur die Bildung von juristischen Begriffen war hochstmogliche Abstraktion angedacht Formal von der Pandektistik gepragt und inspiriert durch die Logik der Naturwissenschaften wurden ganze Begriffssysteme geschaffen um aus ihnen Rechtssatze deduzieren zu konnen Sie folgten den Idealen der Luckenlosigkeit und insbesondere der Wertungsfreiheit Damit sich keine Rechtswiderspruche ergeben wurden Definitionen aus Obersatzen abgeleitet Einer richterlichen Auslegung sollte kein Raum mehr zugewiesen werden konnen weshalb es zu vermeiden galt dass sich Gesetzeslucken uberhaupt auftun 2 Trotz der investierten einst hochgelobten juristischen Detailarbeit scheiterte das System aber an den Praktikabilitatserfordernissen des Rechtsverkehrs Entgegen den Bestrebungen fuhrte das System Gegenteiliges vor Augen denn es bedurfte des rechtsschopfenden Tatigwerdens des Richters erst recht sollten valide Losungen fur den Rechtsalltag nicht ausser Sicht geraten Die Lebenswirklichkeit war zu vielfaltig und zu stark interessensgepragt als dass sie sich in festgelegten Formen modellhafter Rechtsableitung fundieren liess 3 4 In Abkehr zu den von der Begriffsjurisprudenz gesetzten Massstaben erlangte in den 1920er Jahren daher die Interessenjurisprudenz Bedeutung Weit flexibler erkannte sie dass sich in Widerstreit befindende Interessen schon funktional nicht ohne Wertungen auskommen Da das Verstandnis dahin ging dass jede Rechtsnorm als Entscheidung uber Konflikte der sozialen Interessen betrachtet wurde 5 wurde fortan uberpruft welche der Gesetzgeber bei Abfassung der Norm konkret im Auge hatte Der neue Losungsansatz erleichterte die praktische Arbeit des Richters erheblich denn ihm war damit gestattet die Norm herauszusuchen in welcher der Gesetzgeber den zugrundeliegenden Interessenskonflikt der Art nach bereits entschieden hat 6 Das Verhaltnis zwischen Begriffsjurisprudenz Interessensjurisprudenz und Wertungsjurisprudenz beschrieb Hans Peter Haferkamp in Ansehung der modernen gesellschaftlichen Entwicklungen wie Praxisnahe Verkehrsbedurfnis Richterrecht und Einzelfallgerechtigkeit kurz praktische Bedurfnisse so dass das 19 Jahrhundert Recht und Leben entzweit und das 20 Jahrhundert sie wieder zusammengefuhrt habe 7 Da der Protagonist der Interessenjurisprudenz Philipp Heck die Frage der Rechtsfortbildung aussparte besser unbeantwortet liess wurde sie von den Vertretern der Wertungsjurisprudenz aufgegriffen und die Methode auf die Falle erweitert in denen fur den konkreten Einzelfall eine rechtliche Regelung fehlte Mittels sinngemasser Vergleichsbetrachtung konnte der Richter rechtliche Parallelbewertungen vornehmen was zur Bildung von Analogien verhalf Im Sinne einer kategorialen Betrachtung war das die Befugnis zur Rechtsfortbildung Die Methode spiegelte die Lebenswirklichkeit noch besser als der Ansatz der Interessenjurisprudenz und liess die Bewertung unterschiedlichster Interessenslagen zu Der Richter interpretierte und wurde gegebenenfalls rechtsschopfend tatig 8 6 Erkannten Gesetzeslucken sollte er in der Weise begegnen dass er zu deren Schliessung in die Rolle des Gesetzgebers soll schlupfen durfen Besonders wurde diese Auffassung von den Vertretern der sogenannten Freirechtsschule postuliert 9 Immer dann wenn es an einer eindeutigen gesetzlichen Regelung ermangelte oder auch nicht ermangelte weil eine gesetzliche Regelung bestand aber diese nach Auffassung des Richters nach einem vollzogenen gesellschaftlichen Wandel unzeitgemass und bedeutungslos war durfte freies Recht mithin richterlich geschaffenes Recht entstehen 10 11 Massstabe BearbeitenDie Vertreter der Wertungsjurisprudenz stellten fest dass Interessenskonflikte durch Wertentscheidungen des Gesetzgebers ausgelost werden denn einer Norm liegen durchweg bestimmte zumindest aber bestimmbare ethische Grundwerte zugrunde Diese Auffassung wird heute ganz uberwiegend vertreten 12 13 Eine steuernde Rolle spielen dabei die verfassungsrechtlichen Grundwertentscheidungen den diese bilden die Spitze der Normenhierarchie Da das Verfassungsrecht dem niederrangigen Recht vorangestellt ist beseelt es mit seinen Wertentscheidungen das aus ihm heraus derivierte Recht Da bereits das Reichsgericht diesen Geist auf die Weimarer Verfassung anwandte trug sich Heinrich Stoll 1931 mit dem Gedanken die Interessenjurisprudenz in Wertungsjurisprudenz umzubenennen 14 Auch Franz Wieacker suchte nach einer Abgrenzung der Terminologien und unterschied nach eher rechtsphilosophischen Gesichtspunkten Er vertrat die Auffassung dass die Interessenjurisprudenz einen durch die Interessen kausal vorgegebenen Determinismus einschliesse die Wertungsjurisprudenz hingegen eine indeterministische und damit freie gesetzgeberische Wertung zuliesse 15 Franz Bydlinski hielt diese Unterscheidung wiederum fur unergiebig weil sich Heck einer rechtsphilosophischen Beurteilung gerade enthalten habe und methodischer Erkenntnisgewinn nicht erzielt werden konne 16 Die Grundwertentscheidungen der Verfassungsnormen gelten rechtsubergreifend Sie treten damit in den privatrechtlichen Rechtsnormen zum Vorschein Im Zweifel musste die Rechtsordnung zusatzlich einbezogen werden 17 Sich auftuende Regelungslucken sind vom Richter im Lichte dieser Wertentscheidungen zu fullen Die Wertmassstabe finden sich nach der bewertenden Dogmatik nicht nur in den bestimmten Rechtsbegriffen angelegt weil unscharfe Randzonen stets anzunehmen sind sondern auch in den unbestimmten also dort wo das Gesetz Mehrdeutigkeit bewusst zulasst Am Ende der Entwicklung steht die heute aktualisierte 18 19 aber bereits 1914 von Arthur Nussbaum eingefuhrte Rechtstatsachenforschung 20 Vertreter der Wertungsjurisprudenz sind sich daruber bewusst dass alternative Wertungen moglich sind und daraus dann die sachgerechteste ermittelt werden muss 13 Mit der zunehmenden Klarstellung des Begriffs erlangten verschiedene Rechtsbegriffe starkere Konturen so etwa der des Personlichkeitsrechts der des Immaterialguterrechts oder das Institut des subjektiven Rechts 12 Billigkeitsgesichtspunkte und moralische Werte wurden in die Rechtsbildung und die Rechtsfindung eingebunden Rein logisch argumentierende Lehrmeinungen gerieten ins Hintertreffen wahrend Meinungen die die Bewertung von Fragen zu sozialen Konflikten einbezogen Konjunktur hatten Kritik BearbeitenDie Vertreter der international durchaus beachteten kritischen Jurisprudenz 21 halten der Wertungsjurisprudenz entgegen sie sei wertlos und verschleiere lediglich den Rechtsfindungsprozess Von einer Rechtsnorm konne nicht mehr an Wertmassstaben entnommen werden als ihr der Gesetzgeber mitgegeben habe Eine wertende Interpretation Auslegung gehe in Wahrheit vom Rechtsanwender aus Zur Losung anstehender Rechtsprobleme sei vielmehr eine sorgfaltige und verantwortungsbewusste Diskussion daruber empfehlenswert welche alternative Wertung der Norm beigemessen werden konne und auch durfe Primat der teleologischen Interpretation 22 13 Im Rahmen eines Reviews zur Diskussion uber die Prinzipien der Gesetzesinterpretation Gegenstand sind die Analysen Jan Schroders in dessen Grundlagenwerk zur juristischen Methodenlehre 23 aussert H P Haferkamp den Verdacht dass die Wertungsjurisprudenz die die subjektive Auslegung als bindend ablehnt die lange abgelehnte Wortsinngrenze wieder belebe und einer historischen Auslegung als Erkenntnishilfe gegebenenfalls den Weg ebne 24 Literatur BearbeitenClaus Wilhelm Canaris Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts Berlin 1969 2 uberarbeitete Auflage 1983 Helmut Coing Juristische Methodenlehre 1972 S 7 62 sind eine Sonderausgabe des VI Kapitels aus Grundzuge der Rechtsphilosophie 2 Aufl 1969 Reprint Sammlung Goschen De Gruyter 2017 ISBN 978 3 11 004111 8 Hans Peter Haferkamp Psychologismus bei Ernst Zitelmann in Mathias Schmoeckel Hrsg Psychologie als Argument in der juristischen Literatur des Kaiserreichs Baden Baden 2009 S 215 224 Karl Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft Heidelberg 1960 Mehrfache Neuauflagen ISBN 3 540 59086 2 Anmerkungen Bearbeiten PrALR Code civil ABGB Zu allem Ulrich Falk Ein Gelehrter wie Windscheid Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz 2 Auflage Frankfurt am Main 1999 Ius Commune Sonderhefte Studien zur Europaischen Rechtsgeschichte 38 ISBN 978 3 465 03027 0 Hans Peter Haferkamp Begriffsjurisprudenz In Enzyklopadie zur Rechtsphilosophie der Deutschen Gesellschaft fur Philosophie 2011 Begriffsjurisprudenz Ulrich Falk Ein Gelehrter wie Windscheid Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz Frankfurt am Main 1989 Ius Commune Veroffentlichungen des Max Planck Institutes fur Europaische Rechtsgeschichte Sonderhefte 38 Helmut Coing Europaisches Privatrecht 1800 1914 Munchen 1989 7 S 47 49 Vgl hierzu Okko Behrends Das Privatrecht des deutschen Burgerlichen Gesetzbuches seine Kodifikationsgeschichte sein Verhaltnis zu den Grundrechten und seine Grundlagen im klassisch republikanischen Verfassungsdenken In Okko Behrends Wolfgang Sellert Hrsg Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Burgerlichen Gesetzbuches BGB 9 Symposium der Kommission Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart Gottingen 2000 ISBN 3 525 82508 0 im Buch falsch mit Prufziffer 8 S 27 ff 28 a b Philipp Heck Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz In AcP 112 1914 Hans Peter Haferkamp Lebensbezuge in der Zivilrechtsdogmatik des 19 und 20 Jahrhunderts in Spomenica Valtazara Bogisica Gedachtnisschrift fur Valtazar Bogisica Band 1 Belgrad 2011 S 301 313 302 Philipp Heck Begriffsbildung und Interessensjurisprudenz 1932 S 17 Primat der Lebensforschung und Lebenswertung Zusammenfassung der Gesamtdiskussion bei Hans Friedrich Reichel Gesetz und Richterspruch Zur Orientierung uber Rechtsquellen und Rechtsanwendungslehre der Gegenwart Zurich 1915 Hermann Kantorowicz Der Kampf um die Rechtswissenschaft unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius 1906 S 41 Bedeutsam in diesem Zusammenhang Artikel 1 Abs 2 und 3 ZGB der dieses Recht des Richters sogar gesetzlich fixierte soweit er nicht uber sekundar anwendbares Gewohnheitsrecht weiterkam a b Helmut Coing Europaisches Privatrecht 1800 1914 Munchen 1989 7 S 51 53 a b c Gerrit Winter Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz und zu den allgemeinen Versicherungsbedingungen unter Einschluss des Versicherungsvermittlerrechtes Lebensversicherung 159 178 VVG einschl Berufsunfahigkeitsversicherung 8 Auflage Walter de Gruyter 2013 ISBN 978 3110894592 S 121 f Heinrich Stoll Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz In Festgabe fur Philipp Heck u a Beiheft zu AcP 133 1931 S 60 117 S 67 Fn 1 S 75 Fn 5 Franz Wieacker Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berucksichtigung der deutschen Entwicklung Vandenhoeck u Ruprecht Gottingen 1952 weitere Aufl 1967 1996 2016 S 574 f insb 576 und 587 Franz Bydlinski Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff Wien New York 1982 Darin u a Buch 2 Die methodologische Bedeutung des Rechtsbegriffs Stammauflage ISBN 3 211 81723 9 2 Auflage 1991 ISBN 3 211 82270 4 S 123 ff 127 ff Helmut Coing Allgemeine Rechtsgrundsatze in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Begriff der guten Sitten In NJW 1 1947 48 S 213 217 Institut fur Rechtstatsachenforschung Heidelberg Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Arthur Nussbaum Die Rechtstatsachenforschung Ihre Bedeutung fur Wissenschaft und Unterricht PDF 5 MB J C B Mohr Tubingen 1914 archive org Josef Esser Vorverstandnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung 1970 2 Aufl 1972 Vgl Franz Jurgen Sacker in MuKo BGB 7 Aufl 2015 Einleitung Anm 60 123 insb 110 119 Jan Schroder Recht als Wissenschaft Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit 1500 1990 3 Auflage 2 Bande C H Beck Munchen 2020 ISBN 978 3 406 76089 1 Hans Peter Haferkamp Jan Schroder Recht als Wissenschaft Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit 1500 1990 in Zeitschrift der Savigny Stiftung fur Rechtsgeschichte Germanistische Abteilung Band 139 Heft 1 2022 S 458 461 Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Wertungsjurisprudenz amp oldid 238269744