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Der Stand der Wissenschaft ist die wissenschaftstheoretische und philosophische Zusammenfassung der jeweils gegenwartigen Erkenntnisse einer Wissenschaft oder aller Wissenschaften Der ideale Stand der Wissenschaft wird durch jede neue wissenschaftliche Erkenntnis direkt weiterentwickelt Der allgemeine Stand der Wissenschaft ist von einzelnen Menschen nur in Grundzugen beschreibbar fur ihre eng begrenzte Einzelwissenschaft konnen gut informierte Wissenschaftler den Stand darstellen Der Stand der Wissenschaft ergibt sich somit standig neu aus einer Gesamtheit von Forschung Publikationen und wissenschaftlicher Fachdiskussion Vortrage auf Fachkongressen interne Informationen graue Literatur Dass es einen Stand der Wissenschaft zu einer Frage gibt und welcher dies ist wird oft von den Wissenschaftlern des betreffenden Gebiets in Konsensverfahren festgestellt und berichtet Dieser wissenschaftliche Konsens und dessen Kommunikation spielen eine bedeutende Rolle in der Offentlichkeit und als Grundlage fur politische und rechtliche Entscheidungen Inhaltsverzeichnis 1 Wissenschaftstheorie 2 Wissenschaftlicher Konsens 3 Rechtswissenschaft 4 Siehe auch 5 Literatur 6 EinzelnachweiseWissenschaftstheorie BearbeitenAnders als reines Glaubenswissen reprasentiert der Stand der Wissenschaft gultige beweisbare und uberprufbare Erkenntnisse Diese mussen sich zunachst von anderen Auspragungen des Standes der Wissenschaft identifizierbar und erkennbar unterscheiden Zu entsprechenden Prufungen gehoren als erste grobe Filter zunachst elementare Methoden der Modellbildung und validierung sowie elementare Methoden der Mathematik und der Informatik Weiter folgen gultige Beweismethoden Die gultigen Beweismethoden sind in Philosophie und Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie beschrieben Sie heben Wissenschaft von pseudowissenschaftlichen Behauptungen politischen und anderen Ideologien und von Meinungen ab Der deduktive Beweis wird als strenger Beweis bezeichnet 1 Der Induktive Beweis ist indirekt er muss durch die Zahl der uberpruften Einzelfalle also empirische Induktion erhartet werden 2 Erkenntniserweiternd ist die Abduktion Ein bekanntes Mittel zur Uberprufung wissenschaftlicher Hypothesen sind wiederholbare und verallgemeinerbare Experimente 3 Die schonungslose Kritik 4 an bisheriger Erkenntnis ist im Gegensatz zu Pseudowissenschaft und anderen ideologischen Systemen wissenschaftsimmanent siehe Metaphysik Ontologie und Ethik Der Stand der Wissenschaft reprasentiert daher das gegenwartige Wissen in uberprufbarer Beziehung zur Wirklichkeit Daraus ergibt sich die besondere Bedeutung fur Bildung insbesondere aber fur globale politische Entscheidungen und zukunftswichtige Technologien auch fur die offentliche Diskussion und Wissensvermittlung soweit sie Folgen fur das Leben vieler Menschen haben Beispiele Medizin Recht Klimapolitik Umwelttechnik technische und soziale Risiken Lebensmittelproduktion Umgang mit Energiequellen Friedensforschung Meinungsbildung Wissenschaftlicher Konsens BearbeitenDer wissenschaftliche Konsens ist die weitgehende Ubereinstimmung im Fachkreis was Stand der Wissenschaft ist die auf einer soliden Basis hochwertiger Belege diskutierte und wohluberlegt formulierte Antwort auf eine Fragestellung die so akzeptierte Gultigkeit einer Hypothese oder Theorie 5 Ein Konsens ist nicht zu verwechseln mit einem Dogma da ein Konsens sich verandern oder umgestossen werden kann wenn neue gewichtige Erkenntnisse dies erforderlich machen 6 Die Tatsache dass es einen wissenschaftlichen Konsens gibt ist aber keine Gewahr fur den Wahrheitsgehalt des Standes der Wissenschaft 7 Ein Konsens entsteht oft informell und wird normalerweise zunachst nicht festgehalten auch wenn er spater in Lehrbuchern auftaucht 8 Es gibt aber auch Falle von einem dokumentierten Konsens Dieser ist z B wichtig fur politische oder rechtliche Entscheidungen sowie fur die Offentlichkeit 9 und fur Fachleute die den Stand der Wissenschaft in die Praxis umsetzen bzw anwenden mussen zum Beispiel in der Medizin 10 In der Regel ist es um von einem wissenschaftlichen Konsens zu sprechen nicht notwendig dass samtliche Wissenschaftler des Gebiets ihm zustimmen oder wenigstens nicht widersprechen Je nach Bereich und Zweck fur den der Konsens ermittelt wird kann eine Mehrheitsmeinung genugen 5 ein Konsens kann aber auch nahezu einhellig sein Man spricht auch von einem Grad des Konsenses 10 Ein Konsens ist somit nicht mit Einstimmigkeit zu verwechseln da es praktisch immer einzelne Personen mit abweichender Meinung gibt die von ihrer Ansicht nicht abweichen wollen oder konnen 6 Kosolosky und Van Bouwel unterscheiden den akademischen Konsens den Wissenschaftler zunachst untereinander erzielen und den zu Fachfremdem nach aussen in die Offentlichkeit kommunizierten Schnittstellenkonsens Schliesslich sprechen sie bei Einigkeit uber Verfahren der Konsensbildung von einem Meta Konsens 10 Es gibt verschiedene Verfahren zur Konsensbildung und feststellung im Innern und nach aussen dazu zahlen fachbegutachtete Ubersichtsarbeiten und darauf aufbauend Konsenskonferenzen zum Beispiel die der National Institutes of Health in den USA 10 Wissenschaftsakademien formulieren und veroffentlichen Konsenserklarungen Weitere Indikatoren sind Expertenbefragungen 11 und die Auswertung von Facharbeiten zum Beispiel mittels bibliometrischer Verfahren wie der Haufigkeit von Zitaten Aussenseiter und Minderheitenmeinungen werden nicht als Grund angesehen nicht von einem wissenschaftlichen Konsens zu sprechen Eine skeptische Grundhaltung und Dissens spielen fur den Fortschritt der Wissenschaft eine entscheidende Rolle Das Kritisieren Prufen Verbessern und Verwerfen von Hypothesen und das Formulieren alternativer Erklarungen sind Motor der wissenschaftlichen Erkenntnis Beatty und Moore weisen darauf hin dass das Vorhandensein einer aktiven abweichenden Minderheit den Konsens sogar starken kann weil es ein Zeichen dafur sei dass der Stand der Wissenschaft weiter unter die Lupe genommen wird 12 Das Vernachlassigen und Verdrangen von kritisierenden Einzelstimmen kann dazu fuhren dass der wissenschaftliche Fortschritt erstarrt und an fehlerhaften Theorien festhalt 13 14 Dissens kann aber auch schadlich sein sowohl nach aussen indem etwa wichtige politische Entscheidungen verzogert werden als auch im Innern der Wissenschaft indem Wissenschaftler von nicht weiterfuhrenden Einwanden und Forderungen in ihrer Forschung stark behindert werden auf Druck bestimmte Themen vermeiden oder ihre Ergebnisse nur abgeschwacht vertreten Biddle und Leuschner nennen den konstruierten Zweifel durch die Tabakindustrie oder die organisierte Klima skepsis als Beispiele 15 Sowohl fur Dissens als auch Konsens kann es neben uberzeugenden wissenschaftlichen Belegen auch soziale und personliche Motive geben 7 16 Dazu kann neben materiellen Anreizen der Wunsch gehoren eigenen Wertvorstellungen oder denen des eigenen sozialen Umfeldes entsprechende Erkenntnisse zu finden oder ihnen widersprechende zu vermeiden vgl Herdenverhalten Kognitive Dissonanz der Wunsch nach Anerkennung oder der ein non konformistischer moderner Galileo zu sein Die Untersuchung solcher sozialen Zusammenhange ist Gegenstand der Wissenschaftssoziologie Als Indizien dafur dass ein Konsens tatsachlich derzeit gultiges Wissen beinhaltet nennt Miller ersichtliche Ubereinstimmung der Belege soziale Vielfalt der Forscher und soziale Kalibrierung d h Ubereinstimmung der Wissenschaftler in wesentlichen Fachbegriffen und Hintergrundannahmen 17 Rechtswissenschaft BearbeitenPraktische Bedeutung als Technikstandard gewinnt der Stand der Wissenschaft bei der Genehmigung emittierender Anlagen zur Gewahrleistung eines bestimmten Schutzniveaus fur Mensch und Umwelt Das deutsche Recht unterscheidet in verschiedenen Gesetzen die unbestimmten Rechtsbegriffe des Stands von Wissenschaft und Technik 7 Abs 2 Nr 3 AtG den Stand der Technik 5 Abs 1 Nr 2 BImschG und die anerkannten Regeln der Technik 3 Abs 1 des Gesetzes uber technische Arbeitsmittel 18 als sicherheitstechnische Anforderungen denen die jeweiligen Anlagen oder Gegenstande genugen sollen um behordlich genehmigt zu werden In der Kalkar Entscheidung legt das Bundesverfassungsgericht die unterschiedlichen Rechtsbegriffe aus 19 und uberlasst dem Gesetzgeber einen bestimmten Gestaltungsspielraum bei der Verwendung Es ist damit dem Gesetzgeber uberlassen die technischen Sicherheitsanforderungen an die einzelnen Anlagen durch Verwendung des einen oder anderen Begriffs in den unterschiedlichen Genehmigungsvorschriften festzulegen Der Schutz vor moglichen Schaden wird dabei abgewogen mit dem technisch Machbaren und dem Anlagenbetreiber wirtschaftlich Zumutbaren In Anlehnung an die Kalkar Entscheidung ist nach der in der Literatur so bezeichneten Drei Stufen Theorie der Stand der Technik zwischen dem Stand der Wissenschaft und Forschung und den allgemein anerkannten Regeln der Technik anzusiedeln 20 Die strengste Technikklausel ist der Stand von Wissenschaft und Technik Das Anforderungsprofil stellt auf die neuesten technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse ab Lassen sie sich technisch noch nicht verwirklichen darf die Genehmigung nicht erteilt werden die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwartig Machbare begrenzt 21 Dagegen setzen die anerkannten Regeln der Technik die Einhaltung des allgemein wissenschaftlich Anerkannten und praktisch Bewahrten voraus Der Stand der Technik steht dazwischen Er verzichtet auf die schon erreichte allgemeine Anerkennung die fur die anerkannten Regeln der Technik gefordert ist und bezeichnet einen fortgeschrittenen Entwicklungsstand der zur Erreichung bestimmter praktischer Schutzzwecke als gesichert angesehen werden darf Der Stand der Technik gibt wieder was technisch notwendig geeignet angemessen und vermeidbar ist 22 Der Stand der Technik ist beispielhaft legaldefiniert in 3 Abs 6 BImschG 23 Auch bei Einhaltung des Stands von Wissenschaft und Technik ist ein von der Anlage ausgehendes Restrisiko nicht ausgeschlossen da diese Technikklausel den theoretischen Erkenntnisstand einer Wissenschaft einschliesslich von Streitfragen zugrunde legt ohne auf gesicherte praktische Erfahrungen zuruckgreifen zu konnen Der Stand der Technik nimmt hingegen ein Grenzrisiko in Kauf Dieses Grenzrisiko wird durch das wirtschaftlich Vertretbare bestimmt weil das Praktikable haufig marktwirtschaftlichen Uberlegungen unterworfen ist In der Risikoabwagung mussen das technisch Machbare und das wirtschaftlich Vertretbare gegeneinander abgewogen werden Das wirtschaftlich vertretbare Grenzrisiko liegt meist weit hoher als das technische Der Stand von Wissenschaft und Technik dient dem bestmoglichen Grundrechtsschutz etwa vor den Gefahren der Kernenergie So darf die Anlagengenehmigung nach 7 Abs 2 Nr 3 Atomgesetz nur erteilt werden wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schaden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist Siehe auch BearbeitenLehrmeinungLiteratur BearbeitenHeinrich Schmidt Georgi Schischkoff Philosophisches Worterbuch 18 Auflage Kroner Stuttgart 1969 Kroners Taschenausgabe 13 ZDB ID 986558 5 Einzelnachweise Bearbeiten Schmidt Schischkoff Philosophisches Worterbuch 18 Auflage Taschenausgabe Bd 13 Alfred Kroner Stuttgart 1969 S 98 2 Schmidt Schischkoff Philosophisches Worterbuch 18 Auflage Taschenausgabe Bd 13 Alfred Kroner Stuttgart 1969 S 278 4 Schmidt Schischkoff Philosophisches Worterbuch 18 Auflage Taschenausgabe Bd 13 Alfred Kroner Stuttgart 1969 S 163 2 Schmidt Schischkoff Philosophisches Worterbuch 18 Auflage Taschenausgabe Bd 13 Alfred Kroner Stuttgart 1969 S 339 4 a b Herbert Schattke Wechselbeziehungen zwischen Recht Technik und Wissenschaft am Beispiel des Atomrechts In Alexander Rossnagel Hrsg Recht und Technik im Spannungsfeld der Kernenergiekontroverse 1984 ISBN 978 3 531 11694 5 doi 10 1007 978 3 322 83941 1 a b Vgl Florian Fisch Wissenschaftlich erwiesen Gutesiegel oder Etikettenschwindel Weinheim 2016 S 44 47 a b Michael Mulkay Consensus in science In Information International Social Science Council 17 Jg Nr 1 1978 S 107 122 Vgl Florian Fisch Wissenschaftlich erwiesen Gutesiegel oder Etikettenschwindel Weinheim 2016 S 193 Stephan Lewandowsky Gilles E Gignac und Samuel Vaughan The pivotal role of perceived scientific consensus in acceptance of science In Nature Climate Change 2013 doi 10 1038 nclimate1720 a b c d Laszlo Kosolosky und Jeroen Van Bouwel Explicating Ways of Consensus Making in Science and Society Distinguishing the Academic the Interface and the Meta Consensus In Carlo Martini und Marcel Boumans Hrsg Experts and Consensus in Social Science Ethical Economy Studies in Economic Ethics and Philosophy Band 50 2014 ISBN 978 3 319 08550 0 doi 10 1007 978 3 319 08551 7 4 Edward W Maibach und Sander L van der Linden The importance of assessing and communicating scientific consensus In Environmental Research Letters Band 11 Nr 9 September 2016 doi 10 1088 1748 9326 11 9 091003 John Beatty und Alfred Moore Should We Aim for Consensus In Episteme Band 7 Nr 3 2012 doi 10 3366 E1742360010000948 Anna Leuschner Is it appropriate to target inappropriate dissent On the normative consequences of climate skepticism In Synthese 2016 doi 10 1007 s11229 016 1267 x Kristen Intemann und Inmaculada de Melo Martin Are there limits to scientists obligations to seek and engage dissenters In Synthese Band 191 Nr 12 August 2014 doi 10 1007 s11229 014 0414 5 Justin B Biddle und Anna Leuschner Climate Skepticism and the Manufacture of Doubt Can Dissent in Science be Epistemically Detrimental In European Journal for the Philosophy of Science Band 5 Nr 3 Oktober 2015 doi 10 1007 s13194 014 0101 x Carol Reeves Scientific Consensus In Susanna Hornig Priest Hrsg Encyclopedia of Science and Technology Communication Band 1 SAGE Publications 2010 ISBN 978 1 4129 5920 9 Boaz Miller When is consensus knowledge based Distinguishing shared knowledge from mere agreement In Synthese Band 190 Nr 7 Mai 2013 doi 10 1007 s11229 012 0225 5 BGBl I S 717 BVerfG Beschluss vom 8 August 1978 2 BvL 8 77 Rdnr 90 ff 96 ff Tomasz Lawicki Was bedeutet Stand der Technik Abbildung 1 Drei Stufen Theorie in Anlehnung an die Kalkar Entscheidung abgerufen am 4 Juni 2019 BVerfG Beschluss vom 8 August 1978 2 BvL 8 77 Rdnr 98 BVerfG Beschluss vom 8 August 1978 2 BvL 8 77 Rdnr 97 Mark Seibel Abgrenzung der anerkannten Regeln der Technik vom Stand der Technik Memento vom 23 November 2015 im Internet Archive PDF In NJW 2013 3000 Technikklauseln Anerkannte Regeln der Technik Stand der Technik Beste verfugbare Technik Stand der Wissenschaft Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Stand der Wissenschaft amp oldid 218958496