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Selbstausschaltung des Parlaments ist die vom damaligen osterreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuss CS gepragte Bezeichnung fur die am 4 Marz 1933 eingetretene Vorsitzlosigkeit des osterreichischen Nationalrates Nach uberwiegender Ansicht von Verfassungsjuristen handelte es sich um eine Geschaftsordnungskrise die einvernehmlich beizulegen gewesen ware Dieser Losungsansatz wurde jedoch am 15 Marz 1933 von Dollfuss unter Einsatz der Exekutive unterbunden die Abgeordneten konnten nicht zusammentreten In der Folge verbot die christlichsoziale Bundesregierung ab 20 Mai 1933 von der Vaterlandischen Front getragen sukzessive die anderen Parteien und errichtete die austrofaschistische Diktatur nach standestaatlichem Muster Inhaltsverzeichnis 1 Die Ereignisse des 4 Marz 1933 2 Interpretation Dollfuss 3 Die Ereignisse des 15 Marz 1933 4 Die Rolle des Bundesprasidenten 5 Die Sitzung des Rumpfparlaments vom 30 April 1934 6 Rezeption in der Zweiten Republik 7 Literatur 8 Weblinks 9 EinzelnachweiseDie Ereignisse des 4 Marz 1933 BearbeitenAm 4 Marz 1933 standen drei Antrage zum Eisenbahnerstreik auf der Tagesordnung die Eisenbahner protestierten damit gegen die Auszahlung der Marz Gehalter in drei Raten Die Christlichsozialen beantragten Disziplinierungsmassnahmen gegen die streikenden Eisenbahner wahrend die Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP und die Grossdeutsche Volkspartei jeweils eigene Antrage in dieser Causa stellten Wahrend der sozialdemokratische Antrag mehrheitlich abgelehnt wurde nahm der Nationalrat den Antrag der Grossdeutschen mit drei Stimmen Mehrheit 82 zu 79 an In der Folge entspann sich eine Geschaftsordnungsdebatte daruber ob uber den Antrag der Christlichsozialen noch abgestimmt werden solle nachdem bereits der Antrag der Grossdeutschen angenommen worden war Nationalratsprasident Karl Renner SDAP unterbrach die Sitzung fur etwas weniger als eine Stunde und teilte danach mit dass es wahrend der Abstimmung zu Unregelmassigkeiten gekommen sei Im weiteren Verlauf korrigierte er das Abstimmungsergebnis auf 81 zu 80 Der Antrag der Grossdeutschen galt somit trotzdem als angenommen Danach kam es zu lautstarken Protesten christlichsozialer Abgeordneter die eine neue Abstimmung forderten Karl Renner sah sich laut stenographischem Protokoll 1 nach kurzer Zeit ausser Stande weiter den Vorsitz zu fuhren und trat zuruck Tatsachlich erfolgte dieser Rucktritt nicht aufgrund von Handlungsunfahigkeit sondern auf Rat von Otto Bauer und Karl Seitz der Renner von Parteisekretar Adolf Scharf mitgeteilt wurde In seinen Erinnerungen spricht Scharf davon dass er zu diesem Ratschlag eine bose Ahnung hatte und Robert Danneberg zum Begleiter nahm als er Renner informierte Beide weder Bauer noch Seitz bedachten aber dass es doch nicht angangig sei einerseits fur die Sozialdemokratie als die relativ starkste Partei Funktion und Amt des ersten Prasidenten zu fordern anderseits jedoch wenn die Ausubung dieses Amtes der Partei sozusagen ein Opfer auferlegte sofort nein zu sagen 2 Nun ubernahm der zweite Prasident des Nationalrates der christlichsoziale Abgeordnete Rudolf Ramek den Vorsitz und erklarte die Abstimmung fur ungultig was heftige Proteste der Sozialdemokraten zur Folge hatte Daraufhin trat auch Ramek von seiner Funktion zuruck 3 Als dritter Prasident kam nun der Grossdeutsche Sepp Straffner an die Reihe der die Funktion im Affekt sofort niederlegte 4 Dass zumindest der Rucktritt Karl Renners aus abstimmungstechnischen Grunden erfolgte wird von Scharf und zwei weiteren sozialdemokratischen Zeitzeugen bestatigt Otto Bauer schrieb 1934 Am folgenden Tag erkampfte Hitler in Deutschland seinen grossen Wahlsieg wir hatten im Eifer die Eisenbahner zu schutzen nicht bedacht welchen unmittelbaren Einfluss die Umwalzungen in Deutschland auf Osterreich uben konnten So haben wir durch Renners Demission der Regierung Dollfuss den Vorwand zur Ausschaltung des Parlamentes geliefert Das war unzweifelhaft eine linke Abweichung 5 Wilhelm Ellenbogen 1863 1951 erinnerte sich spater Die Schicksaltragodie wollte jedoch dass der sozialdemokratische Abgeordnete Scheibein seinen Stimmzettel mit dem seines Nachbarn Abram verwechselte sodass zwei Abram Stimmen aufschienen worauf die Mehrheit die Ungultigkeitserklarung fur diese Abstimmung verlangte in der Hoffnung dass das Resultat durch die Gewinnung eines parteilosen Abgeordneten verbessert werden konne Die ablehnende Antwort des Prasidenten Renner fuhrte zu einer Kontroverse gegen ihn worauf er da unglucklicherweise Bauer was wie er spater eingestand ein Fehler war ihm hierzu geraten hatte seine Stellung als Prasident niederlegte 6 Nach den Rucktritten der drei Nationalratsprasidenten konnte die Sitzung nicht mehr ordnungsgemass beendet werden wodurch eine Situation entstand die die osterreichische Bundesverfassung und die Geschaftsordnung des Nationalrats nicht vorgesehen hatten Das Parlament war nicht beschlussfahig und ging auseinander Interpretation Dollfuss Bearbeiten nbsp Engelbert Dollfuss 1933 Fur Dollfuss waren die Ereignisse des 4 Marz 1933 unerwartete Hilfe in seinen Absichten autoritar zu regieren Er sprach sofort davon das ohnehin standig zerstrittene und daher zu konstruktiver Arbeit unfahige Parlament habe sich selbst ausgeschaltet Der Staat sei aber deswegen keineswegs in einer Notsituation da die Regierung handlungsfahig sei Dollfuss wollte nun aufgrund des von ihm zuvor bereits erprobten Kriegswirtschaftlichen Ermachtigungsgesetzes KWEG aus dem Jahr 1917 regieren das zum schnellen Erlass von Wirtschaftsvorschriften im Ersten Weltkrieg dienen sollte nicht aber zur Losung einer Parlamentskrise Er war daher entschlossen den Wiederzusammentritt des Nationalrates nicht zuzulassen Durch diesen Staatsstreich gegen das Parlament brach Dollfuss putschartig mit der bis dahin gultigen Verfassung von 1920 7 Bundesprasident Wilhelm Miklas liess ihn gewahren Die Ereignisse des 15 Marz 1933 BearbeitenDer Versuch der sozialdemokratischen und grossdeutschen Opposition die am 4 Marz unterbrochene Sitzung am 15 Marz 1933 fortzusetzen und ordnungsgemass zu schliessen wurde von der Polizei im Auftrag der Regierung unter Androhung des Waffengebrauchs verhindert Der zuruckgetretene dritte Prasident des Nationalrates der grossdeutsche Abgeordnete Sepp Straffner hatte seinen Rucktritt widerrufen Mit ihm befanden sich bereits grossdeutsche und sozialdemokratische Abgeordnete im Sitzungssaal Weiteren Abgeordneten wurde von Polizisten der Zugang zum Parlament das von diesen umstellt war verwehrt Die im Sitzungssaal noch Anwesenden wurden von der Polizei aus dem Haus eskortiert Polizeiprasident Franz Brandl hatte dazu einen schriftlichen Einsatzbefehl von Dollfuss verlangt Der Leiter des Polizeieinsatzes wies den Befehl vor die nicht angemeldete Versammlung die Regierung bezog sich auf das auf den Nationalrat nicht anwendbare Versammlungsrecht zu verhindern Straffner erklarte daraufhin die Sitzung vom 4 Marz fortzusetzen und schloss die Sitzung sofort wieder Parallel zum Polizeieinsatz hatte Innenministeriums Staatssekretar Emil Fey die Funktion des Innenministers ubte Dollfuss selbst aus Heimwehrverbande in die ehemalige Bohmische Hofkanzlei am Judenplatz im 1 Bezirk beordert die gegebenenfalls bei der Durchsetzung des juristischen Staatsstreichs zu Hilfe kommen sollten Polizeiprasident Brandl liess die Heimwehreinheiten ohne seinen Vorgesetzten Fey zu informieren von vier Wagen des Uberfallkommandos der Polizei beobachten und informierte den Wiener Burgermeister Karl Seitz Im Ministerrat vom 17 Marz emporte sich Fey daruber und behauptete die Heimwehr hatte nur fur den Fall des Ausbruchs des Generalstreiks als Nothilfe der staatlichen Sicherheitsexekutive eingreifen sollen Der Leiter des Polizeieinsatzes im Parlament gab den Einsatzbefehl an Prasident Straffner weiter der auf Grund dieses Beweisstucks Strafanzeige gegen Dollfuss wegen des Verbrechens der offentlichen Gewalttatigkeit 76 Strafgesetz 1852 8 erstattete Dollfuss kritisierte im Ministerrat vom 17 Marz Brandl habe den Einsatzbefehl so zogerlich befolgt dass Abgeordnete ins Parlament gelangen konnten bevor die Polizei das Gebaude zernierte In Hinblick darauf dass Polizeiprasident Brandl nicht uneingeschrankt auf Seiten der Regierung stand wurde er am 16 Marz 1933 zwangspensioniert 9 Die Rolle des Bundesprasidenten BearbeitenBundeskanzler Engelbert Dollfuss und Justizminister Kurt Schuschnigg nutzten die Situation fur einen juristischen Staatsstreich Die Bundesregierung unterliess es wohlweislich dem christlichsozialen Bundesprasidenten Wilhelm Miklas die Auflosung des Nationalrats und die Ausschreibung von Neuwahlen vorzuschlagen was dieser nur auf Vorschlag der Regierung anordnen konnte Obwohl eine von uber einer Million Menschen unterschriebene Petition ihn aufforderte die Regierung Dollfuss abzuberufen und auf Vorschlag einer von ihm bestellten Interimsregierung Neuwahlen zu veranlassen blieb Miklas untatig was es Dollfuss ermoglichte weiter diktatorisch zu regieren Die Sitzung des Rumpfparlaments vom 30 April 1934 BearbeitenNach dem Osterreichischen Burgerkrieg erliess die Regierung mittels des KWEG eine autoritare standestaatliche Verfassung Um diese auch im Parlament beschliessen zu konnen wurde mit einer weiteren KWEG Verordnung die Geschaftsordnung des Nationalrates geandert womit es dem zuruckgetretenen zweiten Prasidenten Ramek ermoglicht wurde am 30 April 1934 die Sitzung weiterzufuhren welche am 4 Marz 1933 nicht formal beendet worden war 10 Am 30 April versammelte sich nur mehr ein Rumpfparlament denn die Mandate der sozialdemokratischen Abgeordneten waren auf Grund des Parteiverbots vom 12 Februar 1934 11 fur erloschen erklart worden wahrend ein Grossteil der grossdeutschen Abgeordneten Nationaler Wirtschaftsblock die Sitzung als verfassungswidrig boykottierte Gegen das Vorgehen der christlichsozialen Abgeordneten protestierten zwei verbliebene grossdeutsche Abgeordnete die den Vorgang erneut als verfassungswidrig ablehnten und eine Volksabstimmung uber die neue Verfassung verlangten Sie erklarten die Grossdeutschen hatten gegen ein autoritares Regierungssystem nichts einzuwenden sie wollten dies aber mit dem Volk und nicht gegen das Volk und jedenfalls nicht dadurch erreichen dass die Minderheit der Mehrheit etwas aufzwinge Weiters wandten sie sich mit verharmlosenden Worten gegen das Argument der Regierung einer der Grunde fur das autoritare System sei die Gefahr die von Hitlerdeutschland fur Osterreich ausgehe Gegen zwei Stimmen wurde am 30 April 1934 die Verfassung des Bundesstaates Osterreich vom 1 Mai 1934 beschlossen und die Sitzung vom 4 Marz 1933 beendet womit der Nationalrat zu bestehen aufhorte 12 Rezeption in der Zweiten Republik BearbeitenDamit eine Selbstausschaltung des Nationalrats nie wieder behauptet werden kann regelt 6 Abs 2 bis 4 des Bundesgesetzes vom 4 Juli 1975 uber die Geschaftsordnung des Nationalrates GOG NR dass sofern alle drei Prasidenten verhindert sind ihr Amt auszuuben der an Jahren alteste am Sitz des Nationalrats anwesende Abgeordnete den Vorsitz fuhrt sofern er einer Partei angehort die auch einen der drei Prasidenten stellt Dieser Abgeordnete hat unverzuglich den Nationalrat einzuberufen und die Wahl dreier neuer Prasidenten vornehmen zu lassen Kommt er dieser Pflicht nicht binnen acht Tagen nach gehen die vorgenannten Rechte an den nachstaltesten Abgeordneten uber Die so gewahlten Vorsitzenden bleiben im Amt bis mindestens einer der an der Ausubung ihrer Funktionen verhinderten Prasidenten sein Amt wieder ausuben kann Literatur BearbeitenEmmerich Talos Wolfgang Neugebauer Hrsg Austrofaschismus Politik Okonomie Kultur 1933 1938 5 Aufl Lit Munster u a 2005 ISBN 3 8258 7712 4 Stephan Neuhauser Hrsg Wir werden ganze Arbeit leisten Der austrofaschistische Staatsstreich 1934 Norderstedt 2004 ISBN 3 8334 0873 1 Norbert Leser Zwischen Reformismus und Bolschewismus Wien 1968 Adolf Scharf Erinnerungen aus meinem Leben Wien 1963 Weblinks Bearbeiten 6 des Bundesgesetzes uber die Geschaftsordnung des Nationalrates Geschaftsordnungsgesetz 1975 Von der Osterreichischen Nationalbibliothek digitalisierte Ausgaben Tagesuberblick vom 5 Marz 1933 online bei ANNO Vorlage ANNO Wartung keineZtg Die Ausschaltung des Parlaments In nationalsozialismus at Abgerufen am 12 Mai 2022 Einzelnachweise Bearbeiten Der Rucktritt Renners im stenographischen Protokoll auf ALEX Adolf Scharf Erinnerungen S 117 Der Rucktritt Rameks im Stenographischen Protokoll auf ALEX Der Rucktritt Straffners im Stenographischen Protokoll auf ALEX Otto Bauer Der Aufstand der osterreichischen Arbeiter Seine Ursachen und seine Wirkungen Prag 1934 Wilhelm Ellenbogen Menschen und Prinzipien Erinnerungen Urteile und Reflexionen eines kritischen Sozialdemokraten Bearbeitet und eingeleitet von Friedrich Weissensteiner Bohlau Wien 1981 ISBN 3 205 08744 5 S 81 Demokratiezentrum Die Rettung des Vaterlandes Zeitgenossische Quellen zum Staatsstreich vom 4 Marz 1933 PDF Datei 99 KB Reichsgesetzblatt Nr 117 1852 S 511 Engelbert Steinwender Von der Stadtguardia zur Sicherheitswache Wiener Polizeiwachen und ihre Zeit Band 2 Standestaat Grossdeutsches Reich Besatzungszeit Weishaupt Verlag Graz 1992 ISBN 3 900310 85 8 S 22 BGBl Nr 238 1934 BGBl Nr 78 1934 Stenographisches Protokoll der Sitzung Protokoll der Sitzung S 3395 3396 auf ALEX Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Selbstausschaltung des Parlaments amp oldid 237565189