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Privation lateinisch privatio Beraubung altgriechisch sterhsis steresis ist in der Philosophie die Bezeichnung fur das Fehlen einer positiven Bestimmtheit bei einem Ding Eigenschaftentrager das von Natur aus grundsatzlich fahig ist diese Qualitat zu besitzen In manchen Fallen ist damit die Vorstellung verbunden dass das Fehlende vorhanden sein sollte die Privation wird dann als Mangel betrachtet und ist daher negativ konnotiert Eine spezielle Begriffsverwendung ist die Definition des Ubels als Fehlen oder Beeintrachtigung des Guten lateinisch privatio boni Konkret handelt es sich jeweils um das Fehlen oder die Beeintrachtigung eines bestimmten naturlichen Gutes beispielsweise der Gesundheit Indem das Ubel und damit auch das Bose als blosser Mangel an etwas aufgefasst wird wird ihm eine eigenstandige Existenz abgesprochen Inhaltsverzeichnis 1 Aristoteles 2 Plotin 3 Augustinus 4 Mittelalterliche und neuzeitliche Rezeption 5 Literatur 6 AnmerkungenAristoteles BearbeitenDer Ausdruck steresis der allgemeinsprachlich Beraubung bedeutet wurde von Aristoteles in die philosophische Fachsprache eingefuhrt Er wird in philosophischem Kontext mit Verlust Enteignung oder Mangel ubersetzt oder mit dem Fachwort Privation das von der lateinischen Ubersetzung abgeleitet ist wiedergegeben Der Gegenbegriff hexis bezeichnet den Besitz oder das Haben von etwas In der als Kategorienschrift bekannten Abhandlung einem Fruhwerk bespricht Aristoteles die verschiedenen Begriffsverwendungen ausfuhrlich 1 und in seiner Metaphysik geht er erneut darauf ein 2 Er unterscheidet mehrere Bedeutungen von Privation wobei ihm die Sehkraft als Beispiel dient In einem allgemeinen Sinn wird von Privation in samtlichen Fallen gesprochen in denen ein Ding etwas was seiner Natur nach gehabt werden kann nicht hat also auch dann wenn es fur dieses Ding prinzipiell ausgeschlossen ist das Fehlende zu haben etwa ein Organ oder eine Fahigkeit Beispielsweise ist bei den Pflanzen Privation der Sehkraft festzustellen weil sie nicht mit Augen ausgestattet sein konnen Die zweite Bedeutung liegt vor wenn ein Ding etwas zwar theoretisch haben konnte aber es artbedingt oder individuell nicht hat Beispielsweise ist der Maulwurf seiner Art nach ohne Sehkraft und ein blinder Mensch aufgrund seiner individuellen Beschaffenheit Die Maulwurfe konnten im Gegensatz zu den Pflanzen im Prinzip mit Sehkraft ausgestattet sein so wie andere Arten der Gattung der sie angehoren und der Blinde konnte seiner menschlichen Natur nach sehen wenn er nicht dieser Fahigkeit beraubt worden ware Ein dritter Fall liegt dann vor wenn ein Ding etwas in einer bestimmten Hinsicht etwa zu einer bestimmten Zeit oder auf eine bestimmte Weise nicht hat obwohl dieses Ding von Natur aus geeignet ware das Fehlende in dieser Hinsicht zu haben Ausserdem kann Privation graduell sein etwa wenn ein Ding etwas uneingeschrankt besitzen konnte aber es nur auf unzulangliche Weise oder in zu geringem Mass hat 3 Die allgemeinste Begriffsverwendung Privation als Nichtvorhandensein einer Qualitat im weitesten Sinn ist als Negation ein Thema fur sich Im philosophischen Diskurs versteht man unter Privation gewohnlich nur die Abwesenheit einer Eigenschaft die einem Ding zukommen konnte oder sollte Verwendet wird der Begriff in der Logik wo er in der Lehre von den Gegensatzen eine wichtige Rolle spielt in der Ontologie und in der Naturphilosophie Bei der Bestimmung der Arten des Entgegengesetztseins unterscheidet Aristoteles zwischen Widerspruch oder kontradiktorischem Gegensatz antiphasis kontrarer Opposition und privativem Gegensatz Bei einem kontradiktorischen Gegensatz zwischen zwei Aussagen einer Bejahung und einer Verneinung muss die eine Aussage wahr und die gegenteilige zwangslaufig falsch sein und auf jedes Ding kann nur entweder die Bejahung oder die Verneinung der betreffenden Bestimmung zutreffen Bei kontrarer oder privativer Opposition hingegen gilt dass ein Ding im Prinzip fahig ist jede der beiden gegensatzlichen Bestimmungen aufzunehmen allerdings nicht in derselben Hinsicht Beispielsweise kann etwas weiss oder schwarz sein aber nicht in derselben Hinsicht zugleich weiss und schwarz oder jemand kann blind oder sehend sein aber nicht beides zum selben Zeitpunkt Jeder kontrare Gegensatz ist zugleich privativ weil dem Ding eine der beiden kontraren Bestimmungen fehlt obwohl sie ihm zukommen konnte aber nicht jeder privative Gegensatz ist auch kontrar Kontrar ist der Gegensatz wenn das Gegensatzpaar aus Extremen besteht beispielsweise Schwarz und Weiss dann fehlt jeweils die entgegengesetzte Qualitat vollig Privativ aber nicht kontrar ist der Gegensatz wenn er nicht maximal ist wie bei Schwarz und Grau oder wenn etwas nur in einer bestimmten Hinsicht fehlt 4 In der aristotelischen Naturphilosophie ist die Privation eines der drei Prinzipien archai die fur die Analyse des Werdens benotigt werden Die beiden anderen Prinzipien sind die Form eidos und das Zugrundeliegende hypokeimenon Alles Werden hangt nach dem aristotelischen Verstandnis von diesen drei Faktoren ab Unter Form versteht Aristoteles das was in den Dingen jeweils der Materie eine bestimmte konkrete Beschaffenheit Gestalt Struktur Funktion Fahigkeiten verleiht und dadurch ein Ding zu dem macht was es ist Das hypokeimenon ist der Trager der Eigenschaften das Substrat das den wechselnden Qualitaten zugrunde liegt und die Kontinuitat der Substanz sichert das ist die an sich formlose unbestimmte Materie Das Nacheinander von Abwesenheit und Anwesenheit einer Form an einem Zugrundeliegenden macht die Werdeprozesse aus Durch den Wechsel der Form nimmt das Zugrundeliegende eine neue Bestimmung auf und damit tritt in Bezug auf die entgegengesetzte Bestimmung eine Privation ein 5 Siehe dazu auch Hylemorphismus Plotin BearbeitenBei Plotin dem Begrunder des Neuplatonismus dient das Konzept der steresis als Erklarung fur die Existenz des Ubels In seinem System ist die schlechthin qualitatslose Materie das Extrem der Privation im Sinne von Beraubtsein und Mangelhaftigkeit Sie verhalt sich zu dem ihr entgegengesetzten Extrem des Guten wie das vollige Dunkel zum reinen Licht Im menschlichen Leben entstehen die Ubel dadurch dass die an sich gute Seele in einen materiellen Korper eingetreten ist und sich damit in die prinzipiell mangelhaften Strukturen verwickelt hat die ein solches Dasein pragen Die Grundlage dieses Konzepts ist Plotins Uberzeugung dass dem Ubel einschliesslich des Bosen keine eigenstandige Existenz zukomme da Schlechtigkeit nur in der Entfernung vom Guten bestehe Demnach ist der Materie nicht Schlechtigkeit oder Bosartigkeit als reale Eigenschaft zuzuordnen Vielmehr ist sie nur insofern schlecht als sie in der ontologischen Hierarchie am weitesten vom Guten entfernt ist Fur die Seele wird die Materie aber zur Ursache des Ubels Der Grund dafur ist dass sich die Seele vergeblich bemuht die Materie dem Guten zuzufuhren und sie besser zu machen als sie ihrer Beschaffenheit nach sein kann Die unvermeidlichen Fehlschlage dieser Bemuhungen enttauschen und entkraften die Seele 6 Augustinus BearbeitenDer stark vom Platonismus beeinflusste spatantike Kirchenvater Augustinus griff das neuplatonische Privationskonzept auf 7 und machte es zur Grundlage seiner Lehre vom Ubel lateinisch malum Das malum schliesst alles Schlechte Bose Unvollkommene Mangelhafte Verdorbene Verkehrte Ordnungswidrige und Irrige ein Fur alle diese Erscheinungsformen von Negativitat wollte Augustinus eine umfassende Erklarung bieten indem er das ihnen Gemeinsame bestimmte Er entwickelte seine Doktrin im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Weltbild des Manichaismus dem zufolge das Bose als eigenstandiges Prinzip dem Guten feindlich gegenubersteht und ein Reich des absolut Bosen existiert Dagegen machte der Kirchenvater geltend das Ubel sei nichts anderes als die Verderbnis von Mass Form oder naturlicher Ordnung 8 somit nichts als eine Beeintrachtigung von etwas Gutem eine Beraubung Nach seiner Auffassung ist alles von Natur aus gut Jedes Ding bleibt hinsichtlich seiner eigenen guten Natur immer gut auch wenn es verdorben ist nur hinsichtlich der Verderbnis corruptio der es unterliegt ist es schlecht Die Verderbnis ist keine eigenstandige negative Qualitat sondern nichts als der Verlust einer positiven Qualitat Daher kann es etwas absolut Schlechtes nicht geben denn jeder Mangel muss sich auf ein an sich gutes Ding beziehen dessen Beeintrachtigung er ist Eine absolute Schlechtigkeit musste die gute Natur vernichten und damit auch ihrer eigenen Existenz ein Ende setzen 9 Mittelalterliche und neuzeitliche Rezeption BearbeitenDie von Augustinus gefundene Formel wurde fur die mittelalterliche Metaphysik wegweisend Unter den mittelalterlichen Philosophen und Theologen bestand uber die Privationstheorie weitgehend Konsens So konnte Meister Eckhart feststellen dass diese Lehre die einhellige Auffassung der Philosophen und der kirchlichen Autoritaten sei und der Wahrheit entspreche Allerdings hielt Thomas von Aquin das sittlich Bose fur ein Etwas im positiven Sinn positive aliquid und betrachtete nur die sonstigen Ubel als Privationen Als ontologisches Konzept verlor die Privationstheorie fur die spatmittelalterlichen Nominalisten ihren Sinn da im Nominalismus das Ubel nicht ontologisch betrachtet wird 10 Die Formel des Augustinus beeinflusste auch den Diskurs in der Fruhen Neuzeit stiess aber ab dem 17 Jahrhundert auf scharfe Kritik Pierre Gassendi ein Kritiker des Aristotelismus befand 1658 es sei vollig absurd die Privation zum Prinzip zu machen Pierre Bayle verwarf 1697 die Deutung des Schlechten als privatio boni ebenso wie alle anderen Versuche das Problem der Existenz des Ubels mit Vernunftgrunden zu losen Er war der Meinung es lasse sich empirisch nicht entscheiden ob eine moralisch bose Handlung als Fehlen des Guten zu deuten sei oder eine gute Handlung als Fehlen des Bosen 11 Dagegen wandte sich Gottfried Wilhelm Leibniz der an dem augustinischen Konzept festhielt Im Unterschied zur theologischen Tradition fuhrte Leibniz aber die privatio boni nicht auf den Sundenfall und die Erbsunde zuruck sondern hielt sie fur einen notwendigen Aspekt der Schopfung Die Privation sei eine zwangslaufige Folge der unvermeidlichen Beschranktheit die ein Merkmal alles Geschaffenen sei Anderer Meinung war Immanuel Kant der das Ubel als eigenstandige negative Grosse auffasste 12 Martin Heidegger untersuchte den aristotelischen Begriff der Privation Er wies darauf hin dass die steresis nur im Bereich und auf dem Grunde der griechischen Auslegung des Seins hinreichend begriffen werden konne Aristoteles scheine sie als eine Art des Sagens aufzufassen Daher bezeichne er das Warme als so etwas wie Ansprechung kategoria tis und als Aussehen eidos die Kalte als steresis Somit ist so Heidegger warm eine Zusage und kalt eine Absage Mit dem Satz Das Wasser ist kalt wird dem Wasser die Warme abgesagt Davon ausgehend ist nach Heideggers Interpretation die Feststellung des Aristoteles zu deuten dass die steresis irgendwie Aussehen eidos pos sei In der Kalte als Weg nahme in der Art des Ab sagens zeigt sich etwas Spurbares west etwas an im Gespurten das anwest west aber zugleich etwas ab und zwar so dass wir gerade kraft der Abwesung das so Anwesende besonders spuren Die steresis als Abwesung ist nicht als das blosse Gegenteil der Anwesung ousia also einfach Abwesenheit zu verstehen denn sie selbst west an Die Gestellung in das Aussehen morphe ist Anwesung der Abwesung sie ist nach den Worten des Aristoteles zwiefach denn sie lasst stets so anwesen dass zugleich in der Anwesung eine Abwesung anwest Heidegger erlautert dies mit einem Beispiel Wir sagen heute z B das Fahrrad ist weg und meinen dabei nicht nur es sei fort sondern wir wollen sagen es fehlt Das Fehlen beunruhigt dann und das kann es nur weil es selbst da ist es ist das heisst Es macht ein Sein aus 13 Literatur BearbeitenIngolf U Dalferth Malum Theologische Hermeneutik des Bosen Mohr Siebeck Tubingen 2008 ISBN 978 3 16 149447 5 S 123 217 Johannes Fritsche Privation In Historisches Worterbuch der Philosophie Band 7 Schwabe Basel 1989 Sp 1378 1383 Michael Thomas Liske steresis Privation Beraubung In Otfried Hoffe Hrsg Aristoteles Lexikon Kroners Taschenausgabe Band 459 Kroner Stuttgart 2005 ISBN 3 520 45901 9 S 536 539 Rolf Schonberger Die Existenz des Nichtigen Zur Geschichte der Privationstheorie In Friedrich Hermanni Peter Koslowski Hrsg Die Wirklichkeit des Bosen Fink Munchen 1998 ISBN 3 7705 3291 0 S 15 47Anmerkungen Bearbeiten Aristoteles Kategorien 12a26 ff Aristoteles Metaphysik 1022b22 1023a7 Siehe dazu Michael Thomas Liske steresis Privation Beraubung In Otfried Hoffe Hrsg Aristoteles Lexikon Stuttgart 2005 S 536 539 Vgl Burkhard Hafemann Aristoteles Transzendentaler Realismus Berlin 1998 S 261 269 Michael Thomas Liske steresis Privation Beraubung In Otfried Hoffe Hrsg Aristoteles Lexikon Stuttgart 2005 S 536 539 hier 537 Siehe dazu Michael Thomas Liske steresis Privation Beraubung In Otfried Hoffe Hrsg Aristoteles Lexikon Stuttgart 2005 S 536 539 hier 538 f Johannes Fritsche Privation In Historisches Worterbuch der Philosophie Band 7 Basel 1989 Sp 1378 1383 hier 1379 Siehe dazu Ingolf U Dalferth Malum Tubingen 2008 S 145 152 Christian Schafer Unde malum Wurzburg 2002 S 105 169 Siehe dazu Hermann Haring Die Macht des Bosen Das Erbe Augustins Zurich 1979 S 34 f Augustinus De natura boni 4 Siehe dazu Christian Schafer Unde malum Die Frage nach dem Bosen bei Plotin Augustinus und Dionysius Wurzburg 2002 S 219 225 Rolf Schonberger Die Existenz des Nichtigen In Friedrich Hermanni Peter Koslowski Hrsg Die Wirklichkeit des Bosen Munchen 1998 S 15 47 hier 17 f 37 f Christoph Schulte Radikal bose Munchen 1988 S 126 129 Ingolf U Dalferth Malum Tubingen 2008 S 125 f 164 f Christoph Schulte Radikal bose Munchen 1988 S 129 132 Ingolf U Dalferth Malum Tubingen 2008 S 198 200 Martin Heidegger Wegmarken Gesamtausgabe 1 Abteilung Band 9 Frankfurt am Main 1976 S 294 297 Vgl Eric Schumacher Heidegger on the Relationship between Steresis and Kairos Heidegger s Interpretation of Aristotle s Steresis as the Basic Movement of Kairological Vision In International Journal of Philosophy and Theology Bd 3 Nr 1 2015 S 78 84 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Privation Philosophie amp oldid 226901284