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Meiner verehrungswurdigen Grosmutter zu ihrem 72sten Geburtstag ist ein Gedicht von Friedrich Holderlin Die Adressatin war seine Grossmutter mutterlicherseits Johanna Rosina Heyn geborene Sutor 30 Dezember 1725 in Hattenhofen Wurttemberg 1802 Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung und Uberlieferung 2 Text 3 Aufbau Hintergrund 4 Rezeption 5 Literatur 6 EinzelnachweiseEntstehung und Uberlieferung BearbeitenDas Gedicht entstand in Homburg wohin Holderlin auf den Rat seines Freundes Isaac von Sinclair im September 1798 gezogen war nachdem er sich von dem Haus des Frankfurter Kaufmanns Jakob Friedrich Gontard Borkenstein 1764 1843 und damit von dessen Gattin Susette Gontard seiner Diotima getrennt hatte nbsp Holderlins Handschrift der Verse 21 34Am 1 Januar 1799 schrieb er an seinen Halbbruder Karl Gok 1 Auch hat mich dieser Tage ein Brief von unserer lieben Mutter wo sie ihre Freude uber meine Religiositat ausserte und mich unter anderm bat unserer theuern 72jahrigen Grosmutter ein Gedicht zu ihrem Geburtstage zu machen und noch manches andere in dem unaussprechlich ruhrenden Briefe so ergriffen dass ich die Zeit wo ich vieleicht an Dich geschrieben hatte meist mit Gedanken an sie und euch Lieben uberhaupt zubrachte Ich habe auch denselben Abend noch da ich den Brief bekommen ein Gedicht fur die l Grosmutter angefangen und bin in der Nacht beinahe damit fertig geworden Ich dachte es musste die guten Mutter freuen wenn ich gleich den Tag darauf einen Brief und das Gedicht abschikte Aber die Tone die ich da beruhrte klangen so machtig in mir wieder die Verwandlungen meines Gemuths und Geistes die ich seit meiner Jugend erfuhr die Vergangenheit und Gegenwart meines Lebens wurde mir dabei so fuhlbar dass ich den Schlaf nachher nicht finden konnte und den andern Tag Muhe hatte mich wieder zu sammeln Zeitung fur die elegante Welt 1824 nbsp nbsp Holderlin legte das Gedicht einem undatierten Brief vom Januar 1799 an die Mutter in Nurtingen bei 2 Liebste Mutter Ich muss mich schamen dass ich Ihren l Brief der mir indessen so viele innigglukliche Stunden und Augenblike gemacht hat so lange nicht beantwortet habe Noch denselben Abend da ich ihn erhalten hatte schrieb ich grostentheils das nieder was ich Ihnen fur meine theure ehrwurdige Grosmutter beilege und ich habe es Ihnen recht von Herzen bei mir selber gedankt dass Sie mich von diesem mir heiligen Geburtstage benachrichtigt haben lt gt Leben Sie nun wohl liebste Mutter bitten Sie die liebe Frau Grosmamma das Blatt als einen kleinen Theil von den frohen und ernsten Empfindungen zu nehmen mit denen ich im Herzen den ehrwurdigen Geburtstag gefeiert habe Meine herzlichen Empfehlungen an alle die Unsrigen Ihr treuer Sohn Friz Die Verse 21 bis 34 sind als Autograph auf der Ruckseite eines Briefs von Karl Gok an Holderlin erhalten Das ganze Gedicht ist in zwei Abschriften von fremder Hand uberliefert Gedruckt wurde es zuerst in Nr 146 der Zeitung fur die elegante Welt vom Juli 1824 In einer Fussnote heisst es verfasst vielleicht von Karl Philipp Conz 3 Da vielleicht noch um Laufe dieses Jahres eine Sammlung der Gedichte von diesem geistreichen durch sein lt en gt Hyperion und mehrere in den Horen den Almanachen und andern Zeitschriften erschienenen Poesieen bekannten durch ein ungluckliches Schickal in seiner Wirksamkeit seit vielen Jahren gehemmten Mannes erscheinen wird so kann dies gegenwartige das der Einsender unter seinen Papieren gefunden hat sollte es etwa auch schon gedruckt seyn auf die bevorstehende Erscheinung seiner Auswahl das Publikum aufmerksam machen Holderlin wird hier nach der von Friedrich Beissner Adolf Beck und Ute Oelmann 1949 herausgegebenen historisch kritischen Stuttgarter Ausgabe seiner Werke zitiert Die Texte des Gedichts in der historisch kritischen Frankfurter Ausgabe und der Leseausgabe von Michael Knaupp unterscheiden sich von der Stuttgarter Ausgabe nur durch ein zusatzliches Komma am Ende von Vers 17 In der Leseausgabe von Jochen Schmidt ist die Orthographie modernisiert Text Bearbeiten0000 0 0 0 0 0 Meiner verehrungswurdigen Grosmutter0000 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 zu ihrem 72sten Geburtstag0000 Vieles hast du erlebt du theure Mutter und ruhst nun000000 Gluklich von Fernen und Nah n liebend beim Namen genannt 0000 Mir auch herzlich geehrt in des Alters silberner Krone000000 Unter den Kindern die dir reifen und wachsen und bluhn 0 0 50 Langes Leben hat dir die sanfte Seele gewonnen000000 Und die Hofnung die dich freundlich in Leiden gefuhrt 0000 Denn zufrieden bist du und fromm wie die Mutter die einst den000000 Besten der Menschen den Freund unserer Erde gebahr 0000 Ach sie wissen es nicht wie der Hohe wandelt im Volke 0 100 0 0 Und vergessen ist fast was der Lebendige war 0000 Wenige kennen ihn doch und oft erscheinet erheiternd000000 Mitten in sturmischer Zeit ihnen das himmlische Bild 0000 Allversohnend und still mit den armen Sterblichen gieng er 000000 Dieser einzige Mann gottlich im Geiste dahin 0 150 Keines der Lebenden war aus seiner Seele geschlossen000000 Und die Leiden der Welt trug er an liebender Brust 0000 Mit dem Tode befreundet er sich im Nahmen der andern000000 Gieng er aus Schmerzen und Muh siegend zum Vater zuruk 0000 Und du kennest ihn auch du theure Mutter und wandelst0 200 0 0 Glaubend und duldend und still ihm dem Erhabenen nach 0000 Sieh es haben mich selbst verjungt die kindlichen Worte 000000 Und es rinnen wie einst Thranen vom Auge mir noch 0000 Und ich denke zuruk an langst vergangene Tage 000000 Und die Heimath erfreut wieder mein einsam Gemuth 0 250 Und das Haus wo ich einst bei deinen Seegnungen aufwuchs 000000 Wo von Liebe genahrt schneller der Knabe gedieh 0000 Ach wie dacht ich dann oft du solltest meiner dich freuen 000000 Wann ich ferne mich sah wirkend in offener Welt 0000 Manches hab ich versucht und getraumt und habe die Brust mir0 300 0 0 Wund gerungen indess aber ihr heilet sie mir 0000 O ihr Lieben und lange wie du o Mutter zu leben000000 Will ich lernen es ist ruhig das Alter und fromm 0000 Kommen will ich zu dir dann seegne den Enkel noch Einmal 000000 Dass dir halte der Mann was er als Knabe gelobt Aufbau Hintergrund BearbeitenJohanna Rosina Heyn die Grossmutter lebte seit ihrer Verwitwung 1772 vorwiegend bei Holderlins Mutter und hatte an Holderlins Erziehung wesentlichen Anteil Der 30 Dezember 1798 war ihr 73 nicht ihr 72 Geburtstag Holderlin hat sie auch in dem Gedicht aus seiner Maulbronner Zeit 1786 Die Meinige erwahnt 4 O und sie im frommen Silberhaare Der so heiss der Kinder Freudentrane rinnt Die so gross zurukblikt auf so viele schone Jahre Die so gut so liebevoll mich Enkel nennt lt gt Lass o lass sie lange noch geniessen Ihrer Jahre lohnende Erinnerung Lass uns alle jeden Augenblick ihr sussen Streben so wie sie nach Heiligung Das Gedicht ist in Distichen verfasst Die ersten sechs Verse reden die Grossmutter als du theure herzlich geehrt lt e gt an ruhmen ihre sanfte Seele und ihre Hoffnung auch im Leid Die mittleren Verse 7 bis 20 sprechen vordergrundig von der Glaubigkeit und Frommigkeit der Grossmutter Ihre tiefere Bedeutung gewinnen sie im Kontext von Holderlins Auseinandersetzung mit der Mutter uber seine eigene Christlichkeit Am 11 Dezember 1798 hatte er der Mutter geschrieben 5 Liebste Mutter Sie haben mir schon manchmal uber Religion geschrieben als wussten Sie nicht was Sie von meiner Religiositat zu halten hatten O konnt ich so mit Einmal mein Innerstes aufthun von Ihnen Nur so viel Es ist kein lebendiger Laut in Ihrer Seele wozu die meinige nicht auch mit einstimmte Die Mutter hatte voll Freude geantwortet Holderlin reagierte wiederum in dem schon oben zitierten undatierten Brief vom Januar 1799 geradezu uberschwanglich die Mutter habe ihm viele innigglukliche Stunden und Augenblike gemacht Er fahrt fort 6 Dass Sie meine Ausserungen uber Religion mit dieser schonsten aller Freuden aufgenommen haben zeugt mir so ganz von dem Gemuth das nur im Hochsten seine Beruhigung findet Ich glaub es Ihnen wohl theuerste Mutter wie es Ihnen das Andenken an mich erleichtern und erheitern muss wenn Sie die besten Gefuhle einer Menschenseele in mir wissen und sich daran halten konnen in den Zweifeln und Sorgen mit denen sich auch die Besten einander betrachten mussen und je lieber sie sich sind je mehr denn wir kennen ja kaum uns selbst und so bekannt als wir uns selber sind wird uns doch niemals ein anderes Ich behalte mir vor Ihnen bei mehrerer Musse ein vollstandiges Glaubensbekenntniss abzulegen und ich wollte ich durfte uberall meines Herzens Meinung so offen und rein heraussagen als ich bei Ihnen kann Ein vollstandiges Glaubensbekenntniss hat Holderlin der Mutter brieflich nie abgelegt doch ist das Gedicht der Kern eines solchen Die Verse 7 und 8 vergleichen die Grossmutter mit Maria der Mutter die einst den Besten der Menschen den Freund unserer Erde gebahr Die Verse 8 bis 20 implizieren Holderlins Zustimmung zum Glauben der Grossmutter an Jesus Christus als den gottlichen stellvertretend fur die Menschen leidenden Erloser Nach Roland Reuss treten hier erstmals Suren einer neuen Holderlinschen Beschaftigung mit der Christusgestalt zutage eine Auseinandersetzung die in Patmos im Einzigen aber auch in Mnemosyne ihre Kulminationspunkte finden sollte 7 Der Umfang des Gedichts sei mit 34 Versen genau kalkuliert denn seit Eusebius habe als ausgemacht gegolten dass Jesus mit 34 Jahren gekreuzigt worden sei auch werde exakt in der Mitte der 17 Distichen also Vers 17 und 18 der Kreuzigung gedacht Die letzten Verse 21 bis 34 drucken die Gefuhle des Dichters beim Schreiben aus Als Knabe wollte er wirken in offener Welt Er hat manches versucht und sich die Brust lt w gt und gerungen Vers 30 Die Lieben Vers 31 hofft er werden ihn heilen so wie er in der erweiterten Fassung der Ode Die Heimath hofft dass in deren Nahe wie in Banden das Herz mir heile 8 Friedlich und heiter ist dann das Alter 9 auch in der etwa gleichzeitigen Abendphantasie dort mit einem resignierenden Unterton der im Gedicht fur die Grossmutter fehlt das mit einer Bitte um ihren Segen schliesst Rezeption BearbeitenPapst Franziskus der Holderlin zu seinen Lieblingsdichtern zahlt nannte das Gedicht an die Grossmutter in einem Interview von grosser Schonheit auch spirituell sehr schon Es habe ihn geruhrt weil auch er seine Grossmutter sehr geliebt habe Und da stellt Holderlin seine Grossmutter neben Maria die Jesus geboren hat Er ist fur sie der Freund auf Erden der niemanden als Fremden betrachtet hat 10 Literatur BearbeitenFriedrich Holderlin Samtliche Werke Grosse Stuttgarter Ausgabe Herausgegeben von Friedrich Beissner Adolf Beck und Ute Oelmann Kohlhammer Verlag Stuttgart 1946 bis 1985 Friedrich Holderlin Samtliche Werke Historisch kritische Ausgabe in 20 Banden und 3 Supplementen Herausgegeben von D E Sattler Frankfurter Ausgabe Verlag Stroemfeld Roter Stern Frankfurt am Main Basel 1975 2008 Friedrich Holderlin Gedichte Herausgegeben von Jochen Schmidt Deutscher Klassiker Verlag Frankfurt am Main 1992 ISBN 3 618 60810 1 Friedrich Holderlin Samtliche Werke und Briefe Herausgegeben von Michael Knaupp Carl Hanser Verlag Munchen 1992 bis 1993 Einzelnachweise Bearbeiten Stuttgarter Ausgabe Band 6 1 S 305 306 Stuttgarter Ausgabe Band 6 1 S 308 und 314 Stuttgarter Ausgabe Band 1 2 S 594 Stuttgarter Ausgabe Band 1 1 S 20 Stuttgarter Ausgabe Band 6 1 S 297 Stuttgarter Ausgabe Band 6 1 S 309 Roland Reuss Die eigene Rede des andern Holderlins Andenken und Mnemosyne Stroemfeld Roter Stern Basel Frankfurt am Main 1990 ISBN 3 87877 377 3 S 364 Stuttgarter Ausgabe Band 2 1 S 19 Stuttgarter Ausgabe Band 1 1 S 301 Antonio Spadaro Das Interview mit Papst Franziskus Teil 2 In Stimmen der Zeit online November 2013 Abgerufen am 17 September 2014 Werke von Friedrich Holderlin RomanHyperion oder Der Eremit in GriechenlandDramaDer Tod des EmpedoklesLyrikAbbitte Abendphantasie Andenken An die Madonna An die Parzen An Zimmern Brod und Wein Der Abschied Der Archipelagus Der Gang aufs Land An 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