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Als Hollandische Radikalkritik oder Hollandische radikale Kritik auch Hollandische radikale Schule oder Radikale hollandische Schule englisch Dutch radical School bezeichnet man die These einiger niederlandischer Neutestamentler und anderer Akademiker keiner der Paulusbriefe stamme von Paulus von Tarsus alle seien erst im 2 Jahrhundert entstanden Die Vertreter dieser These bildeten seit 1878 eine kleine Minderheit in der Forschung zum Neuen Testament NT Sie gingen uber die Tubinger Schule hinaus die bereits nur noch vier der 13 Paulusbriefe fur sicher authentisch erklart und damit dem damaligen konservativen Konsens widersprochen hatte Einige hollandische Radikalkritiker bestritten auch die historische Existenz des Jesus von Nazaret und vertraten die These eines Jesus Mythos Damit griffen sie das Selbstverstandnis und die Legitimationsbasis der christlichen Kirchen an Die NT Forschung hat diese Thesen seit Albert Schweitzers Geschichte der Leben Jesu Forschung 1913 ausfuhrlich gepruft und zuruckgewiesen Sie misst ihnen keine aktuelle Bedeutung mehr zu 1 Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung 2 Vertreter 2 1 Allard Pierson 1831 1896 2 2 Abraham Dirk Loman 1823 1897 2 3 Willem Christiaan van Manen 1842 1905 2 4 G J P J Bolland 1854 1922 2 5 Gustaaf Adolf van den Bergh van Eysinga 1874 1957 3 Rezeption 4 Werke 5 Literatur 6 EinzelnachweiseEntstehung BearbeitenDie hollandische Radikalkritik baute auf der sogenannten Tendenzkritik der Tubinger Schule auf Als deren fruher Vorlaufer gilt der englische Deist Edward Evanson Er bezweifelte schon 1792 aus tendenzkritischen Erwagungen als erster und lange Zeit einziger Autor die Authentizitat einiger Paulusbriefe darunter die des Romerbriefs Rom 2 Willem Christiaan van Manen 1891 und Gustaaf Adolf van den Bergh van Eysinga 1912 machten sein vergessenes Werk als Vorlaufer ihrer noch radikaleren Position bekannt 3 Ferdinand Christian Baur Grunder der Tubinger Schule hielt nur vier von 13 Paulusbriefen fur authentisch Rom die Korintherbriefe 1 Kor 2 Kor und den Galaterbrief Gal Er begrundete dies ab 1831 mit der von Hegel angeregten Annahme das Urchristentum habe sich durch den theologischen Gegensatz zwischen dem Judenchristentum um Simon Petrus auf der einen und dem Heidenchristentum um Paulus auf der anderen Seite zur Synthese des fruhen Katholizismus entwickelt Darum hielt er nur jene Paulusbriefe fur authentisch die fur ihn heidenchristliche gegen judenchristliche Positionen vertraten Die Angaben der Apostelgeschichte Apg hielt er historisch fur unzuverlassig weil sie die Gegensatze zwischen beiden Richtungen im 2 Jahrhundert fast verschwiegen und auszugleichen versucht habe 4 Albert Schwegler wandte Baurs Grundannahme in seinem Hauptwerk Das Urchristentum 1846 auf die ganze urchristliche Literatur an Auch er wies nur vier der Paulusbriefe dem apostolischen Zeitalter zu Alle Angaben der Apg dazu hielt er fur ahistorisch Jene ihrer Passagen die Paulus als judenfreundlich und Petrus als heidenfreundlich darstellen hielt er fur willkurlich vom Autor erfunden An dieses Urteil knupften Bruno Bauer und die radikale hollandische Schule an 5 Bruno Bauer hatte in Studien zu den vier kanonischen Evangelien 1839 1842 die Kritik von David Friedrich Strauss am historischen Wert auch der Synoptiker verscharft und Jesu Historizitat bestritten Infolgedessen hatte er seine Stellung als Privatdozent fur Theologie verloren 1850 publizierte er eine Studie zum Paulusbild der Apg Wahrend Baur aus deren Widerspruchen zum Gal gefolgert hatte nur eine der beiden Darstellungen die des Gal konne zutreffen folgerte Bauer man musse erwagen dass auch die fur authentisch gehaltenen Paulusbriefe ahistorische Tendenzschriften seien Der Autor der Apg habe die Konflikte zwischen Juden und Heidenchristen nicht fiktiv harmonisiert sondern drucke eine schon entspannte Situation aus Weil Heidenchristen das Christentum im zweiten Jahrhundert dominierten habe er diesen das judische Erbe erst erklaren mussen und dazu eine Verbindung zum Judentum konstruiert Ein Judenchristentum dass den nichtjudischen Christen die Tora zu halten aufzwingen wollte habe historisch nicht existiert 6 In seiner Studie zum Gal ebenfalls 1850 erganzte er diese Sicht Der Gal sei ebenso wenig wie die ubrigen Hauptbriefe authentisch sondern erst nach der Apg entstanden Er habe deren Bild von den urchristlichen Anfangen korrigieren oder verdrangen sollen und dazu judenfeindliche Passagen aus Rom und 1 2 Kor zusammengestellt 7 In den weiteren Banden seiner Kritik der paulinischen Briefe fuhrte Bauer die Argumente weiter aus wonach alle Paulusbriefe erst im 2 Jahrhundert entstanden seien Bauers exegetische Studien waren Teil seines religionsphilosophischen Programms mit dem er das Christentum zunachst im Sinne Hegels spekulativ deutete ab etwa 1840 aber immer starker angriff um es zu zerstoren Deshalb wurden seine historisch kritischen Einsichten in der deutschsprachigen NT Forschung erst nach 1900 starker gewurdigt etwa von William Wrede und Albert Schweitzer 8 Ab etwa 1880 griffen einige hollandische Neutestamentler Bauers exegetische Thesen zu den Paulusbriefen und zur Apg auf Deutsche Autoren bezeichneten sie spater als radikale hollandische Schule weil sie die bis dahin extremste Skepsis gegen den historischen Wert des NT an einer Universitat vertraten und so die bereits weitgehende historische Kritik der Tubinger Schule moderat erscheinen liessen 9 Van Eysinga etablierte die Bezeichnung hollandische radikale Kritik 1912 mit dem Titel seines Werks daruber 10 Vertreter BearbeitenAllard Pierson 1831 1896 Bearbeiten Allard Pierson war promovierter evangelischer Theologe 1865 hatte er sein Predigeramt niedergelegt ab 1876 trat er mit scharfer Kritik am Christentum und an der akademischen Theologie in den Niederlanden hervor 11 Er veroffentlichte 1878 eine historisch kritische Untersuchung zur Bergpredigt die als Beginn der hollandischen Radikalkritik gilt Darin bezweifelte er erstmals die Authentizitat des Galaterbriefs Die biografischen Angaben zu Paulus darin erschienen ihm als Fiktion eines ultrapaulinischen Christen Besonders fehlende Angaben des Briefautors zum historischen Jesus erschienen Pierson unerklarlich 12 Abraham Dirk Loman 1823 1897 Bearbeiten Abraham Dirk Loman Dozent der Theologischen Fakultat der Universitat von Amsterdam gilt als Nestor der hollandischen Radikalkritik Er erhielt seine ersten Anregungen von Pierson dessen Untersuchung zur Bergpredigt er 1879 kritisch rezensierte Dabei warf er seinem Kollegen methodische Fehler und eine karikierende Darstellung des Galaterbriefes vor 13 Kurze Zeit spater fuhrte Loman die Uberlegungen Piersons jedoch in seinen eigenen Forschungen weiter Ende 1881 hielt er vor der Vrije Gemeente in der Weteringschans in Amsterdam einen umstrittenen Vortrag in dem er die These vertrat dass das fruhe Christentum nichts anderes als eine judisch messianische Bewegung gewesen sei Beim Jesus der Evangelien handele es sich um keine historische Person sondern um die Verkorperung von Ideen und Gedanken die erst fur das 2 Jahrhundert historisch nachweisbar seien 14 Loman deutete ausserdem die These an dass die Paulusbriefe samtlich nicht authentisch seien was er spater in seinen auch international beachteten Quaestiones Paulinae 1882 86 durch die Untersuchung der ausseren Bezeugung wissenschaftlich vertiefte Er stellte in detaillierter historischer Untersuchung fest dass die paulinischen Hauptbriefe sich vor Marcion nicht belegen liessen und selbst Kirchenvater Justin in der Mitte des 2 Jahrhunderts nichts von ihnen wisse oder wissen wolle 15 Durch Lomans Wirken etablierten sich die Positionen der hollandischen Radikalkritik als Mindermeinung die uber die liberale deutsche Bibelkritik der Tubinger Schule hinausgehend auch die Hauptbriefe des Paulus an die Romer Korinther und Galater und damit alle dreizehn Paulusbriefe fur nicht authentisch hielt Die ganze paulinische Literatur des NT ist nach Loman ein Produkt der nach apostolischen Gnosis und kann erst nach einem langen Inkubationsprozess entstanden sein wovon der Beginn kaum vor 70 angesetzt werden kann 16 Aufgrund der Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Forschung pladierte er fur eine symbolische Interpretation der Evangelien Der Verzicht auf einen geschichtlichen Jesus wurde von Loman nicht als Verlust sondern als Gewinn und Befreiung im Hinblick auf den Glauben gewertet 17 Willem Christiaan van Manen 1842 1905 Bearbeiten Van Manen hatte 1865 in seiner Dissertation fur die Authentizitat des 1 Thess argumentiert den 2 Thess jedoch in einer Publikation desselben Jahres als deuteropaulinisch eingestuft Er edierte und kommentierte zahlreiche fruhchristliche Werke wie z B Clemensbriefe und Der Hirte des Hermas Seine theologische Arbeit in dieser Zeit galt auch der Textkritik bei der er die letzten Worte in Apg 10 36 dieser ist aller Herr als spateren Einschub beurteilte 18 Erwin Nestle ubernahm diese Textkritik in die 13 Ausgabe des Novum Testamentum Graece 19 Ende 1884 wurde Van Manen zum Professor an der Reichsuniversitat Groningen berufen Angeregt durch Allard Pierson und Samuel Adrianus Naber die die Paulusbriefe ins zweite Jahrhundert datierten 20 publizierte er 1887 drei Artikel 21 und befasste sich eingehender mit der Untersuchung der vier Hauptbriefe des Paulus Damals teilte er noch die Ansicht der Tubinger Schule uber die Authentizitat von vier Paulusbriefen In weiteren Artikeln begann er aber die Widerspruche des Romerbriefes aufzulisten Einige Stellen wurden auf Judenchristen als Adressaten hinweisen andere auf Heidenchristen Nach Rom 7 12 sei das Gesetz heilig andere Textstellen setzten es dagegen herab 22 Darum war fur ihn die Fruhdatierung und somit Authentizitat dieser Briefe um 50 nicht mehr nachvollziehbar Derart unterschiedliche Stromungen innerhalb einer Briefsammlung wurden eine langere Entwicklung nahelegen In September 1888 rezensierte van Manen die Studie des Schweizer Theologen Rudolf Steck zum Galaterbrief zu dessen Verhaltnis zum Romerbrief und zum Haretiker Marcion um 150 23 Stecks Argumente uberzeugten ihn Er schloss daraus der Galaterbrief sei verfasst worden um Einflusse des Judentums abzuwehren Darum solle er nach 120 datiert werden 24 Im Ergebnis behauptete van Manen als Erster die kurzere marcionitische gehe der langeren katholischen Textfassung voraus die eine Uberarbeitung der Vorlage sei Die gleiche Ansicht vertrat er auch beim Romerbrief Die schwer erklarbaren Widerspruche des sogenannten Paulinismus der Hauptbriefe seien nicht plotzlich erschienen sondern am Ende einer langen Entwicklung 25 Damit erklarte er die Entwicklung des Christentums bis 300 mit der er sich jahrelang befasst hatte Daraus entstand sein dreibandiges Hauptwerk Paulus 26 Im ersten Band zur Apg erklarte er deren Verfasser habe den Inhalt aus verschiedenen Werken entlehnt und erst zwischen 125 und 150 niedergeschrieben 27 Im zweiten und dritten Band argumentierte er fur eine Datierung des Romerbriefs sowie der beiden Korintherbriefe auf ab 100 28 Die Verschiedenheit der Adressaten in Rom 1 5f 11 13 gegenuber Rom 2 17 29 4 1 29 wie auch die sinkende Bedeutung des judischen Gesetzes lege eine lange Entwicklung theologischer Veranderungen von den Jesusjungern an nahe 30 und die Aussagen zur Christenverfolgung verwiesen auf eine Zeit nach Nero 31 Der zweite Band enthalt ausserdem ein Kapitel uber die Entwicklung des Fruhchristentums bis 300 32 Fur van Manen setzte der Paulinismus die Zerstorung Jerusalems im Jahr 70 und die Entstehung einer liberaleren judischen Bewegung voraus 33 und habe gelernt seinen eigenen Weg weit abseits vom Judentum zu gehen Das Festhalten am judischen Gesetz sei als altmodisch angesehen worden 30 Christen konnten unter der Gnade leben Rom 6 14 Jesus sei fur die paulinischen Christen nicht der Messias der ersten Junger gewesen sondern ein metaphysisches Wesen geworden der Sohn Gottes 34 Von da an sei es moglich gewesen als Christ Erlosung durch Gottes Gnade zu erhalten nicht mehr durch Gesetzesgehorsam 35 Nach van Manens Ansicht stand der Paulinismus in Verbindung mit der Gnosis 36 deren Vertreter die Freiheit vom Gesetz und den Paulus der Briefe hoch verehrten 37 Ein historischer Paulus sei offensichtlich lange vorher gestorben ein jungerer Zeitgenosse des Petrus gewesen und habe wie dieser in den Grenzen des Judentums gelebt Wegen seiner Bekanntheit seien die spater entstandenen Paulusbriefe mit seinem Namen versehen worden In diesen fanden sich auch Fragmente und Uberarbeitungen alterer Texte In den Paulusbriefen kamen die Meinungen verschiedener christlicher Gruppen aus der Zeit des Entstehungsprozesses des Christentums zum Ausdruck Zuletzt sei die neue Gruppe der Katholiken erschienen die zwischen Paulinismus und Judaismus zu vermitteln und die Meinungsdifferenzen zu uberwinden versucht habe G J P J Bolland 1854 1922 Bearbeiten G J P J Bolland philosophischer Autodidakt wurde 1896 an die Universitat Leiden berufen Er befasste sich von 1891 bis zu seinem Tod 1922 mit den Ursprungen des Christentums wobei sein Interesse stark von philosophischen Fragestellungen bestimmt war Die Wurzel des Christentums sieht Bolland bei den hellenistisch gebildeten und gnostisch beeinflussten Diasporajuden von Alexandria im 1 Jahrhundert Diese bildeten moglicherweise nach dem Vorbild der dortigen hermetischen Poimandresgemeinden theosophische Zirkel und waren im Besitz eines ursprunglichen sog Agypterevangeliums Dieses wurde nach Bollands Ansicht zwischen 70 und 100 verfasst ging aber bis auf wenige Fragmente verloren Das Evangelium enthielt in erster Linie die Schilderung eines allegorischen Chrestos der Nutzliche bzw Gute und dessen Erlosungstat die aber nicht mehr judisch nationalistisch sondern als Heilsmysterium gedacht worden sei Vor der Zerstorung des Tempels soll der Sohn des hochsten Gottes als Mensch auf der Erde erschienen sein um vor dem Zerbrechen des Alten Bundes durch sein Opfer einen Neuen Bund mit dem wahren Israel des Geistes zu stiften Sein Leiden Sterben und Wiederauferstehen verburgten das Seelenheil der Glaubigen Dies konnte man nach Bolland auch als Erklarung theosophischer kosmopolitischer Juden fur die Zerstorung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 sehen Nach dem steinernen Tempel muss der Tempel des Geistes kommen Bolland identifiziert dies als die Grundgedanken des kommenden Christentums 38 Die Namen Jesus und Chrestos zeigen nach Bolland deutlich dass es sich dabei um Verkorperungen von Ideen handelt die zum Teil schon bei Philon von Alexandria zu finden seien Jesus Josua der Nachfolger des Mose Der Name bringe das Bewusstsein gnostisch beeinflusster Juden zum Ausdruck im Besitz grosserer gottlicher Weisheit zu sein als das ubrige Israel erst Josua sei der rechte Fuhrer Wahrend nach Bolland Jesus bzw der Chrestos vor dem Jahr 70 als reine Mysteriengottheit verehrt wurde habe er danach erstmals historische Zuge bekommen 38 Der letzte Schritt von der Allegorisierung eines bisher doketisch gedachten Chrestos hin zur Historisierung der Idee des Gott Menschen Jesus erfolgte nach Bolland nach dem endgultigen Bruch mit dem nationalen Judentum seit der Zeit von Bar Kochba ab 135 Dies sei durch den Katholizismus geschehen bei dem es sich um eine Reaktion auf die Gnosis gehandelt haben soll Der Katholizismus habe dann den Vater von Jesus Christus mit dem judischen Schopfergott des Alten Testaments identifiziert so dass die doketischen Stellen des ursprunglichen Evangeliums umgeformt werden mussten Auch die Gleichsetzung von Chrestos und Christus geschah nach Bolland erst in Rom und war ebenfalls von der Tendenz bestimmt die ursprunglich gnostische Lehre mit der judischen alttestamentlichen Uberlieferung zu versohnen So sei schliesslich der Eindruck entstanden dass die christliche Lehre aus Palastina stamme aber tatsachlich habe sie ihren Ursprung in der Mysterienwelt Alexandriens 38 Gustaaf Adolf van den Bergh van Eysinga 1874 1957 Bearbeiten Van Eysinga studierte ab 1893 an der Universitat Leiden Theologie Er war u a Schuler von Bolland und Van Manen bei dem er 1901 promovierte Seit 1904 war er als Privatdozent an der Rijksuniversiteit Utrecht tatig Von 1936 bis 1944 trat er als Inhaber des Lehrstuhls fur NT an der Universitat von Amsterdam die Nachfolge von Daniel Plooy 1877 1935 an 14 In seinen exegetischen Schriften kritisiert van den Bergh van Eysinga die Position der liberalen Jesusforscher deren Methode er als Abzugsmethode bezeichnete Um die Historizitat des Menschen Jesus von Nazaret zu retten wurden dessen Zuge die sich nicht naturlich erklaren liessen wie z B Jungfrauengeburt Naturwunder Wunderheilungen usw willkurlich eliminiert Das Problem dieser Methode bestehe darin dass sie unreflektiert eine geschichtliche Grundlage der Evangelien voraussetze und deren rein dogmatischen Charakter verkenne Der Jesus der Evangelien sei keine mythisierte Historie sondern historisierter Mythos Die Geschichtlichkeit diene als Staffage und sei kirchliches Dogma aber kein historisches Faktum Nicht der Zimmermannssohn Jesus von Nazaret habe am Anfang der christlichen Geschichte gestanden sondern der Mythos einer vom hochsten Gott auf die Erde gesandten sterbenden und wiederauferstehende Heilandsgestalt Dieser Erlosungsmythos soll in Alexandrien entstanden sein und die Grundlage fur den Inhalt des altesten Evangeliums gebildet haben das noch keine historischen Angaben enthielt Der Historisierungsprozess habe erst Mitte des 2 Jahrhunderts in Rom begonnen Dort sei der gnostische Heiland in einen judischen Messias verwandelt und mit pseudohistorischen Attributen versehen worden Dafur soll vor allem das stadtromische Judenchristentum verantwortlich gewesen sein das zumal durch Einbringung des AT die Grundlinien von dessen Lebensgeschichte von Bethlehem bis Golgata festsetzte AT und stoische Philosophie hatten am Ende jenes Bild des Menschen Jesus geschaffen dessen die Kirche bedurfte um sich gegen die doketische Verfluchtigung der Christusgestalt durch die Gnosis zu wehren Zugleich blieb sie damit fur die Masse der Glaubigen attraktiv die mit einer menschlichen Heilandsgestalt mehr anzufangen wusste als mit einem rein metaphysischen Wesen 39 Van den Bergh van Eysinga war der Auffassung dass es sich beim Christentum von Beginn an um einen Mysterienkult handelte was sich an zahlreichen Mysterienelementen in den Paulusbriefen zeige Tatsache ist dass das Christentum seinen siegreichen Feldzug durch die Welt nicht der Predigt des Rabbis oder Propheten Jesus verdankt auch nicht dem Glauben an einen Messias Jesus sondern einer Heilslehre deren Zentrum und Objekt Christus ist 40 Mit seiner Kritik der Paulusbriefe setzte van den Bergh van Eysinga die Arbeit seines Lehrers W C van Manen und die des Amsterdamer Theologen A D Loman fort Wie diese beiden hollandischen Professoren weist auch van den Bergh van Eysinga auf das Fehlen ausserer Zeugnisse argumenta externa fur die Existenz von Paulusbriefen im 1 Jahrhundert hin Ausserdem fanden diese abgesehen von anderen Quellen die ebenfalls schwiegen weder in der Apg noch beim Vertreter der romischen Kirche Justin Mitte des 2 Jahrhunderts Erwahnung Die biographischen Angaben der Apg uber Paulus stunden mit denen der Briefe in Widerspruch und seien fiktiv Der 1 Clemensbrief und die Ignatiusbriefe werden wie von der Tubinger Schule als nicht authentisch verworfen Bei den Paulusbriefen soll es sich um pseudepigraphische Schriften aus dem Umfeld des aus der Kirche ausgeschlossenen Haretikers Marcion handeln Das zeige vor allem der marcionitische Text der Briefe der aus den Schriften der Kirchenvater rekonstruiert werden konne Er enthalte in der Regel altere und ursprunglichere Lesarten als die kanonische Version bzw der Textus receptus Paulus ist fur van den Bergh van Eysinga eine Symbolgestalt des Marcionitismus der mit Hilfe pseudepigraphischer Schriften seine Theologie und Lehre in die apostolische Vergangenheit des ersten Jahrhunderts projizierte um sich in den theologischen Kampfen des 2 Jahrhunderts zu behaupten Spater habe sich die erste orthodoxe Kirche das literarische Erbe des Marcionitismus angeeignet und in ihrem Sinne uberarbeitet 41 In der Zeit von 1901 bis 1936 war van den Bergh van Eysinga in der Nederlandse Hervormde Kerk als Gemeindepfarrer tatig Die Bestreitung der Existenz Jesu stand fur ihn nicht im Widerspruch zu seiner Tatigkeit als Kanzelredner Die entscheidenden Inhalte der christlichen Verkundigung konnten nach seiner Auffassung auch ohne die vorausgesetzte Annahme eines historischen Jesus verstandlich gemacht und mit Hilfe einer rein symbolischen Auslegungsmethode erschlossen werden Rezeption BearbeitenDer evangelische Theologe Hermann Detering promovierte 1991 zum Thema hollandische Radikalkritik und vertrat weiterhin deren Thesen in zugespitzter Form Uber van Manen hinausgehend sah Detering die marcionitische kurze Fassung der Paulusbriefsammlung als originar gegenuber der katholischen Langfassung an Bei den Paulusbriefen handele es sich um eine marcionitische Falschung die spater vom Katholizismus durch Textzusatze uberarbeitet und erweitert worden sei Darum mussten innere Widerspruche besonders im Romerbrief nicht theologisch sondern literar bzw textkritisch erklart werden Als Vorlage fur die legendarische Figur des Paulus benannte Detering den von der spateren Kirche als Haretiker bezeichneten Simon Magus 42 Auch Robert M Price ein Hauptvertreter der Jesus Mythos These in den USA halt keinen der NT Texte die Paulus als Autor nennen fur authentisch und beruft sich dazu auch auf die hollandische Radikalkritik Die Gestalt des Paulus sei legendarisch andere Krafte und Personen hatten die Entwicklung der fruhen Kirche bestimmt Die paulinischen Briefe hatten vielfach marcionitischen Hintergrund und gehorten zeitlich in das 2 nachchristliche Jahrhundert 43 Die weitaus meisten Neutestamentler verwerfen die Thesen der hollandischen Radikalkritiker als spekulative unwissenschaftliche Konstrukte Adolf von Harnack deutscher Hauptvertreter der liberalen Theologie schrieb 1887 Wer die Echtheit solcher Briefe wie der paulinischen Korinthierbriefe nicht empfinden kann die paulinischen Briefe hinter Marcion setzt dem ist nicht zu helfen und man kann ihn bei allem Ernst den er aufgewendet hat nicht ernsthaft nehmen 44 Hermann Detering fuhrt diese Sicht auf ein Glaubensdogma und kirchliche Autoritat zuruck 45 Albert Schweitzer befasste sich 1913 in seiner Geschichte der Leben Jesu Forschung in zwei Extrakapiteln mit den Thesen aller die damals Jesu historische Existenz bestritten Er verwarf darin auch die hollandischen Radikalen 46 Werke BearbeitenVorlauferEdward Evanson The Dissonance of the Four Generally Received Evangelists and the Evidence of their respektive Authenticity D Walker Gloucester 1792 Bruno Bauer Die Apostelgeschichte eine Ausgleichung des Paulinismus und des Judenthums innerhalb der christlichen Kirche G Hempel 1850 Bruno Bauer Kritik der paulinischen Briefe Band 1 Der Ursprung des Galaterbriefes 1850 Band 2 Der Ursprung des ersten Korintherbriefes 1851 Band 3 1 Kor Rom Pastoralbr Thessalonicherbr Eph und Kol Philip 1852 VertreterAllard Pierson De bergrede en andere synoptische fragmenten een historisch kritisch onderzoek Van Kampen amp Zoon Amsterdam 1878 Hajo Uden Meyboom Marcion en Paulus in de Clementijnen Theologisch Tijdschrift 25 1891 S 1 46 Abraham Dirk Loman Quaestiones Paulinae Theologische Tijdschrift 1882 1886 Allard Pierson Samuel Adrianus Naber Verisimilia Laceram conditionem Novi Testamenti Van Kampen Amsterdam 1886 Willem Christiaan van Manen Paulus Band I De Handelingen der Aposteln 1890 Band II De Brief an de Romeinen 1891 Deutsch Die Unechtheit des Romerbriefs G Strubigs 1906 Band III De Brieven aan de Korinthiers 1896 Gustaaf Adolf van den Bergh van Eysinga Radical Views about the New Testament Watts London 1912Zeitgenossische RezeptionRudolf Steck Der Galaterbrief nach seiner Echtheit untersucht nebst kritischen Bemerkungen zu den paulinischen Hauptbriefen Bern 1888 Nachdruck Kessinger 2010 ISBN 1167660404 Thomas Whittaker The Origins of Christianity With an Outline of Van Manen s Analysis of the Pauline Literature London 1904 Nachdruck Nabu Press 2013 ISBN 1295292645 Daniel Volter Paulus und seine Briefe Kritische Untersuchungen zu einer neuen Grundlegung der paulinischen Briefliteratur und ihrer Theologie Heitz Strassburg 1905 Albert Schweitzer Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart Georg Olms Tubingen 1911 S 92 109 Nachdruck Hildesheim 2004 ISBN 3487127334 Gustaaf Adolf van den Bergh van Eysinga Die hollandische radikale Kritik des Neuen Testaments Ihre Geschichte und ihre Bedeutung fur die Erkenntnis der Entstehung des Christentums Jena 1912 Harry James Hager The Radical School of Dutch New Testament Criticism Chicago 1935Literatur BearbeitenW Ward Gasque Radical Descendents of the Tubingen School In A History of the Interpretation of the Acts of the Apostles Wipf and Stock 2000 ISBN 1579104495 S 73 95 Eduard Verhoef Die hollandische radikale Kritik In Reimund Bieringer The Corinthian correspondence Peeters 1996 ISBN 90 6831 774 1 S 427 432 Hermann Detering Paulusbriefe ohne Paulus Die Paulusbriefe in der Hollandischen Radikalkritik Peter Lang Frankfurt am Main 1992 ISBN 978 3631447871 Andreas Wechsler Hollander Radikale Abraham D Loman und W C van Manen In Beihefte zur Zeitschrift fur die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der alteren Kirche Ausgabe 62 A Topelmann 1991 ISBN 3110133997 S 113 120 Simon J De Vries Bible and Theology in The Netherlands 1850 1914 Veenman Wageningen 1968 S 52 55Einzelnachweise Bearbeiten Marlene Crusemann Die pseudepigraphen Briefe an die Gemeinde in Thessaloniki Studien zu ihrer Abfassung und zur judisch christlichen Sozialgeschichte W Kohlhammer Stuttgart 2010 ISBN 3170211498 S 170 E Earle Ellis The Making of the New Testament Documents Brill Leiden 2002 ISBN 0391041681 S 440 und Fn 31 Albert Schweitzer Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart 1911 Hildesheim 2004 S 94 f Georg Schwaiger Historische Kritik in der Theologie Beitrage zu ihrer Geschichte Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1980 ISBN 3525874928 S 105 und Fn 24 Eckhard Schnabel Heinz Werner Neudorfer Das Studium des NT 2 Auflage SCM R Brockhaus Wuppertal 2011 ISBN 3417294304 S 224 f W Ward Gasque A History of the Interpretation of the Acts of the Apostles 2000 S 41 43 W Ward Gasque A History of the Interpretation of the Acts of the Apostles 2000 S 74 77 und 86 ff Thomas Johann Bauer Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie Kontextualisierung und Analyse der Briefe an Philemon und an die Galater Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 276 Mohr Siebeck Tubingen 2011 ISBN 3161509773 S 10 Fn 49 Joachim Mehlhausen Vestigia Verbi Aufsatze zur Geschichte der evangelischen Theologie 1999 De Gruyter Nachdruck 2010 ISBN 3110150530 S 188 220 besonders S 188 und S 215 Robert E Van Voorst Jesus Outside the New Testament An Introduction to the Ancient Evidence W B Eerdmans 2000 ISBN 0802843689 S 10 Harald Specht Das Erbe des Heidentums Antike Quellen des christlichen Abendlands Tectum Marburg 2015 S 800 Fn 555 siehe auch Eduard Verhoef Die hollandische radikale Kritik In Reimund Bieringer The Corinthian correspondence Peeters 1996 ISBN 90 6831 774 1 S 427 432 hier S 427 Arie L Molendijk Non binding Talk The Fate of Friedrich Schleiermacher s Concept of Historical Empirical Dogmatics In Brent W Sockness Wilhelm Grab Hrsg Schleiermacher the Study of Religion and the Future of Theology A Transatlantic Dialogue Walter de Gruyter Berlin New York 2010 ISBN 3110216337 S 203 Hermann Detering Paulusbriefe ohne Paulus 1992 S 304 A D Loman Bijdragen enz De synoptische quaestie en de methode harer behandeling naar aanleiding van Dr A Piersons geschrift over de Bergrede In Theologisch Tijdschrift 1879 S 181 a b Hermann Detering Die Paulusbriefe in der Hollandischen Radikalkritik Kontexte Neue Beitrage zur Historischen und Systematischen Theologie Bd 10 1992 A D Loman Quaestiones Paulinae In Theologisch Tijdschrift 1882 86 A D Loman in Theologisch Tijdschrift 1883 S 47 A J Allan Een vergeten hoofdstuk de Radicalen W C van Manen Conjecturaal kritiek toegepast op den tekst van de schriften des Nieuwen Testaments Haarlem 1880 S 238 Erwin Nestle Novum Testamentum Graece Stuttgart 1927 Allard Pierson Samuel Adrianus Naber Verisimilia Laceram conditionem Novi Testamenti exemplis illustrarunt et ab origine repetierunt Amsterdam 1886 W C van Manen Paulus Episcopus in Bibliotheek van moderne theologie en letterkunde 7 1887 S 605 644 Een brief over de Verisimilia In De Nederlandsche Spectator 1887 S 71 f Hoe te oordelen over de methode ter verklaring van Paulinische brieven door de HH Pierson en Naber aanbevolen in de Verisimilia In Bijblad van de Hervorming 13 7 1887 S 49 58 W C van Manen Nieuwtestamentische Letterkunde In De Tijdspiegel 1888 vol III S 403 f Rudolf Steck Der Galaterbrief nach seiner Echtheit untersucht nebst kritischen Bemerkungen zu den paulinischen Hauptbriefen Berlin 1888 W C van Manen De hoofdbrieven van Paulus in De Tijdspiegel 1889 I S 334 f van Manen 1889 S 424 siehe Werkverzeichnis W C van Manen Paulus I Leiden 1890 S 164 W C van Manen Paulus II Leiden 1891 S 303 van Manen 1891 S 24 f a b van Manen 1891 S 126 van Manen 1891 S 170 f van Manen 1891 S 288 296 van Manen 1891 S 292 f van Manen 1891 S 136 van Manen 1891 S 215 van Manen 1891 S 228 295 van Manen 1891 S 295 a b c G J P J Bolland De Evangelische Jozua Eeen poging tot aanwijzing van den oorsprong des Christendoms Leiden 1907 Der Abschnitt folgt im Wesentlichen den Darstellungen des Buches Lebt Jesus oder hat er nur gelebt Fruhchristliche Studien Hrsg von Hermann Detering und Frans Joris Fabri BoD Norderstedt 2011 ISBN 978 3 8391 6701 4 G A van den Berg van Eysinga Het Christendom als Mysteriegodsdienst In Godsdienstwetenschappelijke Studien VII 1950 S 3 22 Ubersetzung Fabri Frans Joris 2006 G A van den Berg van Eysinga Marcion als getuige voor een voorkatholiek christendom In Godsdienstwetenschappelijke Studien XVIII Haarlem 1955 S 5 39 Teil I XIV Haarlem 1956 S 3 28 Teil II Hermann Detering Der Gefalschte Paulus Das Urchristentum im Zwielicht Patmos Wuppertal 1995 ISBN 3 491 77969 3 Robert M Price The Amazing Colossal Apostle The Search for the Historical Paul Signature Books 2012 ISBN 1 56085 216 X Adolf von Harnack Antiqua mater A study of Christian Origins in Theologische Literaturzeitung 1887 Nr 16 Spalte 377f Hermann Detering Falsche Zeugen Ausserchristliche Jesuszeugnisse auf dem Prufstand Alibri 2011 ISBN 978 3 86569 070 8 S 188 f Albert Schweitzer Geschichte der Leben Jesu Forschung 1913 9 Auflage UTB Gottingen 2009 ISBN 3825213021 S 451 499 hier S 453 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Hollandische Radikalkritik amp oldid 224970568