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Dschadidismus auch Djadidismus oder Jadidismus bezeichnete ursprunglich neue Unterrichtsmethoden in islamischen Schulen medresen Der Ausdruck wurde spater synonym im 19 Jahrhundert mit einer muslimisch nationalistischen Reformbewegung im russischen Reich die sich an westlichen Vorstellungen von Modernitat anlehnte Von Bedeutung war diese Bewegung besonders auf der Krim und in den Gouvernements mit hohem tatarischen Bevolkerungsanteil namlich Kasan Orenburg und Ufa Es handelte sich hierbei um eine autochthone originelle islamische Reformbewegung Deckblatt der Erstausgabe von OyinaInhaltsverzeichnis 1 Etymologie 2 Entwicklung 3 Prinzipien 4 Politische Praxis 4 1 Ab 1917 5 Beurteilung 6 Siehe auch 7 Literatur und Quellen 7 1 EinzelnachweiseEtymologie BearbeitenDer Begriff stammt vom arabischen al uṣul al ǧadida oder persisch torki uṣul i ǧadid was beides neue Methode bedeutet So nannte man zunachst die neuartige phonetische Lehrmethode spater bezeichnete der Begriff die Reformbewegung an sich S 135 Fn 1 1 die eine nationalistische tatarische Ideologie auf Basis des Islam als identitatsstiftendes Merkmal anbot Entwicklung BearbeitenIm Khanat Kasan das aus dem Reich der Goldenen Horde hervorging herrschte eine turkstammige uber eine weitgehend sesshafte islamisierte Bevolkerung Nach der Zerschlagung des Khanats 1552 erfolgten russischerseits anfangs kaum Eingriffe in die gesellschaftliche und kulturelle Struktur der Bevolkerung Erst mit der beginnenden Westorientierung wurde eine Assimilation teilweise durch Zwangskonvertierungen versucht Durch die geforderte Zuwanderung von Ostslawen anderte sich auch die Demographie der Region S 39ff 1 Bis zum Ende des 18 Jahrhunderts waren die Muslime eine wirtschaftlich und politisch benachteiligte Minderheit geworden Tatarisches Schrifttum unterlag einer strengen Zensur Baugenehmigungen fur Moscheen wurden restriktiv erteilt Im 19 Jahrhundert unterhielten die meisten Gemeinden von ihren Mitgliedern uber Spenden finanzierte Grundschulen mektep die mit traditionellen Methoden des Auswendiglernens unter Leitung des ortlichen Imams ein Mindestmass an Lese und Schreibfertigkeiten vermittelten Beginnend in den siebziger Jahren des 19 Jhdts setzte innerhalb des regionalen islamischen Diskurses ein Prozess der Revision der intellektuellen Positionen ein Inhaltlich lasst sich dies verallgemeinernd als die Summe von Historisierung Individualisierung Rationalismus und Hinwendung zu intellektueller Offenheit beschreiben Die wichtigsten Wegbereiter waren der Historiker Schihabetdin Mardschani 1818 1889 der seine eigene Medrese betrieb und Ismail Bej Gasprinskij 1851 1914 ein Krimtatare der das islamische Reformdenken mit der gesellschaftlichen Modernisierung russischen Musters verband Er hatte in seiner Heimat sowohl eine klassisch muslimische als auch eine russisch europaische Erziehung genossen Auch lebte er lange Zeit in Paris und Istanbul 2 Im osmanischen Istanbul lernte er einen fur die damalige Zeit offenen und modernen Islam kennen Gasprinskij fuhrte zunachst in seiner eigenen Grundschule eine auf der phonetischen Lehrmethode basierende effektive Art der Schriftvermittlung ein Er wollte dass sich die muslimische Intelligenz Russlands fur die westliche Wissenschaft Technik und Philologie offne und diese mit einem reformierten von Aberglauben und Ritualismus gereinigten Islam verbande Zugleich sollte die Kulturgemeinschaft der Turkvolker wiederhergestellt werden Zur Verbreitung des Reformgedankens diente die zweisprachige Zeitschrift Tardzeman Perevodcik 3 Der Ubersetzer 4 in der auch die Hebung des Status von Frauen gefordert wurde Nach der Revolution 1905 erschienen einige kurzlebige Blatter wie Taraqquiy in Taschkent und Khurshid des Uzbeken Munavvar Qori Abdurashidxon oʻgʻli Im letztgenannten erschien dann auch das Grundsatzprogramm 5 des Mullah Mahmudhoʻja Behbudiy 1874 1919 6 der eine muslimische Union Ittifaq ul muslimi errichten wollte 7 Hamza Hakimzoda Niyoziy aus dem Ferghanatal machte durch eine schlagkraftigere Wortwahl auf sich aufmerksam Unter den Kasachen war besonders Achmet Baitursynuly ab 1895 aktiv der dann zunachst als Mitbegrunder der kasachischen Nationalpartei Alasch und bis Ende der 1920er als Kommissar fur kasachische Erziehung grossen Einfluss ausubte In Buchara begann dschadidistisches Gedankengut erst spat durch den Universalgelehrten Achmed Ma zum Kalla 1827 97 8 an Einfluss zu gewinnen 7 Dschadidistische Gruppen blieben auch nach 1905 nur lose organisiert erst 1917 bildeten sich Parteien heraus die in den Folgejahren teils gewaltsam die Schaffung islamischer Republiken erzwingen wollten Prinzipien Bearbeiten nbsp Karikatur uber das Verhaltnis zwischen Dschadidismus Ismail Gasprinski mit Schulbuch und Zeitschrift Terdschuman und traditionalistischem Islam als tatarischer und aserbaidschanischer Kleriker mit Takfir und Scharia Bescheid Titel der satirischen aserbaidschanischen Zeitschrift Molla Nasreddin Nr 17 Tiflis 1908 Zeichner Oskar Schmerling Kritisiert wurde der islamische Traditionalismus der Antworten auf jede Frage sozialer oder kultureller Art aus dem Kanon herleiten wollte was wenn keine historischen Analogien bestanden zur Ruckstandigkeit und Abschottung fuhrte Dschadidistische Reformer setzten auf die individuelle Urteilskraft auch in Hinsicht auf das Verhaltnis von Glauben und rationaler Vernunft Wahrend der Islam auf die kulturelle Sphare beschrankt wurde wurden Modernitat und Rationalismus zu den Grundkriterien des Dschadidismus Dies fuhrte neuen Konzepten im Bereich der Interpretation von Rechtsfragen im Lichte kanonischer Texte idschtihad Lebensnah auf die Modernisierung angewandt interpretierte Gabdulla Bubi z B Gebetsubungen nawaz als gesunde Gymnastik 9 Nach 1890 erschienen dann erste Lehrbucher zum islamischen Recht die zur Vereinheitlichung beitrugen Die dschadidistische Sozialethik betonte soziale Gerechtigkeit und Gleichheit innerhalb der islamischen Gemeinschaft zu der sich der Einzelne aktiv bekennt Die vom Koran vorgeschriebene Wohltatigkeit zakat sollte nicht mehr Bedurftigen direkt sondern wohltatigen Organisationen zugutekommen Gleichzeitig wurde versucht eine muslimische kapitalistische Wirtschaftsethik zu entwickeln Wissen Bildung und die Mobilisierung aller Mitglieder der Gesellschaft einschliesslich der Frauen sollte den Weg zu Technisierung und Entwicklung ebnen helfen In hagiographischen Biographien erfolgreicher Kaufleute selbstloser Gelehrter und Wohltater wurden Heldengestalten des neuen Menschenbildes geschaffen und unters Volk gebracht Seine sozialen Vorstellungen formulierte der Dschadidismus jedoch in islamischer Diktion Ziel war die Wiederherstellung von Macht Reichtum und Wurde der muslimischen Nation durch Aufholen des zivilisatorischen Vorsprungs der Europaer Der Dschadidismus hatte auch einen grossen ethnisch definierten Einfluss auf den Panturkismus der die Einheit der Volker Turans anstrebte 2 Allerdings fand der Dschadidismus unter den Muslimen Russlands keine ungeteilte Beachtung Den Erneuerern standen die Traditionalisten die Kadimchilar gegenuber Die Umrisse der Definition einer muslimischen Nation als Gruppenidentitat zeichneten sich durch turkstammige Abstammung mit Zugehorigkeit zur entsprechenden Sprach und Kulturgemeinschaft Ruckbesinnung auf die fruhere Staatlichkeit Goldene Horde und Mitgliedschaft in einer konfessionellen Glaubensgemeinschaft dem Islam Politische Praxis BearbeitenIn den unmittelbar nach der Revolution von 1905 entstehenden Freiraumen liess der Dschadidismus endgultig seine Beschrankungen aufs Kulturelle zuruck und wurde fur die bourgeoise tatarische Handlerklasse die seine Haupttrager war zu einer nationalistischen Ideologie des Pan Islamismus oft auch Panturkismus genannt Dabei standen sie oft in engen Verbindungen zu Gleichgesinnten im Osmanischen Reich Die Ideen der Jungturken ubten starken Einfluss aus Vor 1917 bildeten sich in Ermangelung eines geistigen Zentrums und prazisen Programmes kaum organisierte Strukturen heraus die uber kleinere Gruppen welche sich meist um die Herausgeber einschlagiger Zeitschriften scharten hinausgingen Beispielhaft seien hier die Aktivitaten Abdurresid Ibrahims erwahnt der sich fur seine Agitation meist von Istanbul aus auch der Tatarischen Wohlfahrts Gesellschaft bediente Nach 1907 begann die russische Regierung den konservativen Islam zu schutzen djadidistische Bewegungen wurden unterdruckt Zeitschriften verboten Es erfolgte die Grundung von Geheimgesellschaften wie Barakat in Buchara die sich als Handelshaus tarnte um Propagandamaterial schmuggeln zu konnen Ausserdem wurden Studenten die in die Turkei gesandt wurden unterstutzt Die waren von 1910 ab jahrlich etwas uber 10 10 In den russischen Gouvernements konnten nach 1911 vergleichsweise langlebige dschadidistische Zeitschriften erscheinen wie in Samarkand Ayina und Samarqand in Taschkent Sadar i Turkistan In Orenburg erschien 1913 18 Qzaq in der haufig pan asiatisches Gedankengut verbreitet wurde Ab 1917 Bearbeiten Eigene nationalistische Parteien bildeten sich erst nach der Februarrevolution 1917 so in Turkestan die Shuro i slam In den meisten Fallen schlugen sich die Dschadidisten nach der Oktoberrevolution auf die Seite der Weissen Aktiv wurden sie auch im Aufstand der provisorischen Regierung des autonomen Turkestan in Kokand von November 1917 bis Februar 1918 11 In den nachsten Jahren kamen in der Region geschatzte 23 der Bevolkerung durch Krieg angeheizt durch britische Interventionen gesteuert von F E Bailey und Hungersnot um 12 1920 riefen Anhanger des Dschadidismus die kurzlebige Demokratische Republik Aserbaidschan aus Dort wurde der Dschadidismus unter der Losung der Turkisierung Islamisierung und Europaisierung verbreitet 13 Die dschadidistische Bewegung Junge Bucharer russisch Mladobucharzy entstand 1916 im dortigen Khanat und hatte den Sturz des Emirs und eine Demokratisierung zum Ziel Die Bewegung zersplitterte sich 1918 In Taschkent organisierte sich das Zentrale Buro junger Bucharer unter der Leitung von Fajzullah Chodscha Zusammen mit der Kommunistischen Partei Bucharas KPBu formen sie eine Einheitsfront unter Anerkennung des Programms der KP das auf einem Kongress in Baku 14 im September 1920 beschlossen wurde Nach der Vertreibung des Emirs und der Grundung der Volksrepublik Buchara vereinigte sich der linke Flugel der dschadidistischen Gruppe offiziell mit der KPBu im September 1920 Unter anderem Fajzullah Chodscha und Abdurauf Fitrat wurden Mitglieder der neuen Regierung Ein grosser Teil des rechten Flugels unterstutzte die konterrevolutionare Basmatschi Revolte 15 Nach der Entstehung der Sowjetunion konnte sich eine nationalistisch religiose Ideologie neben der herrschenden kommunistisch totalitaren Weltanschauung nicht behaupten Mit dem beginnenden Zerfall der Sowjetunion schlossen sich erneut tatarische Studenten und Lehrer der Universitat Kasan zum Tatarischen Zentrum zusammen das sich wieder offen zu den Grundsatzen des Dschadidismus bekannte Beurteilung BearbeitenIn der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde Dschadidismus bis ca 1960 abwertend als religioser Reformismus interpretiert Danach wurde er als Ausdruck einer weltweiten Aufklarungsbewegung proswetitelskoje dwischenije betrachtet und dabei die religiose Komponente vernachlassigt Eine Neuinterpretation begann mit den Arbeiten von Jachja G Abdullin und Abrar Gibadullovich Karimullin 1925 2000 Әbrar Gyjbadulla uly Kәrimullin 16 Westliche Studien im Rahmen der Imperialismusforschung beurteilten die Bewegung als Teil ubernationaler Bewegungen Panislamismus teilweise auch als uberregionalen Diskurs von Eliten S 15 7 31 1 Siehe auch BearbeitenBaschkiren Krim Tataren TatarenLiteratur und Quellen BearbeitenDie meiste Literatur zum Thema ist den Umstanden entsprechend in russischer Sprache erschienen A Kanlidere Reform within Islam The Tajid an Jadid Movement among the Kazan Tartars 1809 1917 Istanbul 1997 Christian Noack Muslimischer Nationalismus im Russischen Reich 1861 1917 Stuttgart 2000 ISBN 3 515 07690 5 zgl Diss Koln 1999 Adeeb Khalid The Politics of Muslim Cultural Reform Jadidism in Central Asia Comparative studies on Muslim societies 27 Univ of California Press Berkeley Calif u a 1998 Adeeb Khalid Nationalizing the Revolution in Central Asia The transformation of Jadididism 1917 20 In A State of Nations Oxford 2001 ISBN 0 19 514423 6 S 145 62 Charles Kurzman Modernist Islam 1840 1940 A Sourcebook Oxford 2002 ISBN 0 19 515468 1 Erhard Stolting Eine Weltmacht zerbricht Nationalitaten und Religionen in der UdSSR Frankfurt 1990 Einzelnachweise Bearbeiten a b c Christian Noack Muslimischer Nationalismus im Russischen Reich 1861 1917 Stuttgart 2000 ISBN 3 515 07690 5 a b Erhard Stolting Eine Weltmacht zerbricht Nationalitaten und Religionen in der UdSSR S 148 Register 1883 1915 in Yildiz Nr 4 1989 S 130 144 A Bennigsen Ch Quelqueja Les mouvements nationaux chez les musulmans de Rusie avant 1920 Paris 1964 S 37 42 Nr 6 11 Oktober 1906 zum Buhnenwerk vgl Edward Allworth The Beginnings of the Modern Turkestanian Theater In Slavic Review Vol 23 No 4 Dez 1964 S 676 687 a b Edward Allworth Central Asia 130 years of Russian Dominance 3 Auflage Durham 1994 ISBN 0 8223 1554 8 Kap 6 S 172 f 184 ff Daten unsicher vgl Generalgouvernement Turkestan Schulproblematik Noack S 160 v Mende zitierend Allworth 1994 S 200 Great Soviet Encyclopaedia Vol 8 New York 1977 S 539 Adeeb Khalid Nationalizing the Revolution in Central Asia The transformation of Jadididism 1917 20 In A State of Nations Oxford 2001 ISBN 0 19 514423 6 S 148 Carter Vaughn Findley The Turks in World History S 147 157 analog dem der Muslime der Turkistanischen ASSR Allworth 1994 S 248f Great Soviet Encyclopaedia Vol 16 Mladobukhartsy New York 1977 Leben und Werk Memento vom 21 Marz 2009 im Internet Archive engl Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Dschadidismus amp oldid 208645448