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Mit dem Todestrieb fuhrte Sigmund Freud einen seiner umstrittensten Begriffe in die Theorie der Psychoanalyse ein Der Todestrieb oft auch im Plural die Todestriebe bildet den Gegenpol zu den Lebenstrieben Eros Freud selbst betonte dass es sich bei seinen Uberlegungen zum Todestrieb um weitausholende Spekulation handelte Spater wurde dieser Trieb oft auch als Thanatos bezeichnet mit der Gegenuberstellung Eros und Thanatos wobei hier der griechische Todesgott Thanatos als Namensgeber fungierte Inhaltsverzeichnis 1 Allgemein 2 Regression 3 Aggression 4 Krieg und destruktiver Charakter 5 Rezeption 6 Literatur 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseAllgemein BearbeitenDer Titel Jenseits des Lustprinzips der 1920 verfassten Schrift in der Freud seine Uberlegungen zum Todestrieb ausfuhrt deutet Freuds Verstandnis desselben an Er strebt nach Zuruckfuhrung des Lebens in den anorganischen Zustand des Unbelebten der Starre und des Todes So begreift Freud auch den Wiederholungszwang als Ausserung des Todestriebs uberhaupt das Bestreben des Subjekts nach Erhaltung und Stillstand wie es unter anderem im ritualisierten Handeln der Zwangsneurose zum Ausdruck kommt Im anthropologischen Konzept der Psychoanalyse handelt es sich beim Todestrieb um einen dem Lebenstrieb bzw der Libido entgegengesetzten Trieb Wahrend der Eros nach Zusammenhalt und Vereinigung tendiere strebe der Todestrieb nach Auflosung dieser Einheit nach Verstreuung und Auflosung von Bindung Im Normalfall gehen laut Freud Todes und Lebenstrieb jedoch eine Vermischung ein sofern etwa zu einer gesunden sexuellen Beziehung immer auch eine aggressive Beimischung gehore um den Partner zu erobern Die Storung des Gleichgewichts der beiden Tendenzen fuhre zu psychischer Erkrankung Regression BearbeitenDer Wunsch nach Vernichtung des Lebendigen kann sowohl auf das Subjekt selbst als auch auf andere Personen gerichtet sein Im ersten Fall nimmt der Todestrieb die Form der Autoaggression oder der Regression an idealtypisch als Wunsch nach einer Ruckkehr in den Mutterleib also einen pranatalen vorgeburtlichen Zustand Regression kann sich aber auch in der fetischistischen Faszination fur unbelebte Dinge ausdrucken in extremen Fallen bis hin zur Nekrophilie und Koprophilie Freud bringt den Todestrieb schliesslich auch mit dem analen Charakter in Verbindung Aggression BearbeitenRichtet sich der Todestrieb auf andere Menschen aussert er sich in einem Destruktionstrieb dem Wunsch zur Zerstorung und Verletzung Anderer in abgeschwachter Form etwa in der sexuellen Spielart des Sadomasochismus Doch Aggression muss nicht immer zerstorerisch sein oft dient sie gerade der Erhaltung des Lebens dem Tod also entgegengewirkt zum Beispiel im Verteidigungskrieg und generell in Defensivmassnahmen Zudem kann destruktive Triebenergie uber den Umweg der Sublimierung auch in produktive etwa kunstlerische Tatigkeiten umgewandelt werden Krieg und destruktiver Charakter BearbeitenEine besondere Rolle bei der Entwicklung der Konzeption des Todestriebs spielte fur Freud dabei die Erfahrung des Ersten Weltkriegs der ein bis dahin noch nie erlebtes Ausmass an menschlicher Zerstorungslust offenbarte Erich Fromm analysierte in seiner Schrift Anatomie der menschlichen Destruktivitat 1973 unter anderem Adolf Hitler und Heinrich Himmler als destruktive auf pathologische Weise vom Todestrieb beherrschte Charaktere Rezeption BearbeitenFreuds Konzeption eines Todestriebs an der er bis zu seinem Tod festhielt blieb auch unter orthodoxen Vertretern der Psychoanalyse heftig umstritten Viele Analytiker verneinten die Hypothese eines ursprunglichen Todestriebs und versuchten stattdessen Aggression als Reaktion auf Entsagungen und Frustrationen zu verstehen Auch verleite das Todestriebmodell dazu die produktiven Aspekte der Aggression zu ubersehen Dennoch dauerte es uber ein Jahrzehnt bis sich innerhalb der Freud Schule offentliche Kritik artikulierte Wilhelm Reich in den 1920er Jahren eines der angesehensten Mitglieder der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung IPV schrieb 1931 einen Artikel in dem er behauptete die Todestriebtheorie widerlegt zu haben 1 Freud fasste nach der Lekture des Manuskripts laut seinem Tagebuch den Entschluss Schritte gegen Reich zu unternehmen 2 Er liess den Artikel zwar passieren bewirkte aber dass Reich 1934 aus der IPV ausgeschlossen wurde 3 Die Debatte uber den Todestrieb wurde innerhalb der Psychoanalyse sehr heftig gefuhrt da sie z T auch ideologische Ebenen beruhrte Kommunistisch und marxistisch orientierte Psychoanalytiker wie Wilhelm Reich oder Otto Fenichel wandten sich entschieden gegen das Postulat eines Todestriebes jenseits des Lustprinzips Auch so wurde kritisiert lasse sich mit einer solchen Theorie Krieg und Volkermord sowie soziale und okonomische Ausbeutung etc durch Ruckfuhrung auf eine biologische Ebene als unabanderlich legitimieren Die kritische Analyse der konkreten Ursachen fur Aggression und Zerstorungswut werde damit hinfallig Fur Reich sind diese Phanomene nicht jenseits sondern innerhalb des Lustprinzips zu verstehen Erst die durch die gesellschaftlichen Institutionen Familie bis Staat vermittelte Unterdruckung und Entfremdung von den libidinosen Grundbedurfnissen forme freiheitsunfahige und die Freiheit hiermit auch die Sexualitat hassende Menschen mit einer sado masochistischen Grundstruktur Die Auseinandersetzung zwischen Sigmund Freud und Wilhelm Reich uber den Todestrieb ist auch der zentrale Ausgangspunkt im Buch Der Urschock unsere Psyche die Kultur und der Tod des italienischen Psychoanalytikers Luigi De Marchi des Verfassers der ersten umfangreichen Monographie uber Leben und Werk von Reich 4 Fur De Marchi ist die Abwehr des Todes der Schlussel zum Verstandnis der gesamten menschlichen Kulturgeschichte Dementsprechend interpretiert er die theoretische Kontroverse zwischen Freud und Reich als Ausweichen vor dem tieferen Problem Reich hat sicherlich Recht Es gibt in der Tat keinen Todestrieb Es gibt keinen unbewussten Wunsch nach Selbstzerstorung wie es Freud so sonderbar wie hartnackig angenommen hat um ein Phanomen wie den Masochismus zu deuten Aber auch Reich ist nicht im Besitz der ganzen Wahrheit Denn wenn es wahr ist dass die Neigung des Menschen sich und anderen furchtbares Leid aufzuerlegen haufig Folge einer vergifteten Gesellschaft ist so ist aber ebenfalls wahr dass es etwas viel Schrecklicheres gibt als den Todestrieb wie ihn Freud angenommen und Reich bestritten hat Es gibt den Tod die Angst vor dem Tod und beim Menschen das Bewusstsein vom Tode kursiv im Original 5 Andere Nachfolger Freuds vor allem aus den Schulen Melanie Kleins und Jacques Lacans verteidigten die Idee des Todestriebs ausdrucklich So schreibt Lacan Wer den Todestrieb aus seiner Lehre weglasst verkennt diese total Lacan Subversion des Subjekts S 177 Lacan weicht jedoch von Freuds Konzeption entscheidend ab wenn er den Todestrieb nicht als einzelnen Trieb versteht sondern als Aspekt der jedem Trieb innewohnt Auch identifiziert er den Todestrieb nicht mit der Ruckkehr zum Anorganischen also einen vorkulturellen Zustand der Natur sondern als Bestandteil von Kultur selbst Der Todestrieb ist fur ihn kein biologischer Begriff sondern gehort der symbolischen Ordnung an vgl Evans Worterbuch der Lacanschen Psychoanalyse S 307 f Im Anschluss an Lacan deutet auch Slavoj Zizek den Todestrieb 6 Der Freudsche Todestrieb hat nicht das geringste mit dem Verlangen nach Selbstvernichtung nach einer Ruckkehr zur anorganischen Abwesenheit jeglicher Lebensspannung zu tun er ist vielmehr genau das Gegenteil des Sterbens ein Name fur das untote ewige Leben selbst fur das schreckliche Schicksal im endlosen Wiederholungskreislauf des Umherwandelns in Schuld und Schmerz gefangen zu sein Das Paradox des Freudschen Todestrieb ist folglich dass Freud damit dessen genaues Gegenteil bezeichnet namlich die Art wie die Unsterblichkeit innerhalb der Psychoanalyse erscheint einen unheimlichen Exzess des Lebens einen untoten Drang der uber den biologischen Kreislauf von Leben und Tod von Entstehen und Vergehen hinaus persistiert Die eigentliche Lehre der Psychoanalyse ist dass das menschliche Leben nie einfach nur Leben ist Menschen sind nicht einfach lebendig sie sind besessen von dem seltsamen Trieb das Leben exzessiv zu geniessen und hangen leidenschaftlich an einem Uberschuss der hervorsticht und den normalen Gang der Dinge zum Scheitern bringt In den Arbeiten Catherine Malabous kommt dem Theorem des Todestriebs eine wichtige Rolle dabei zu das Verhaltnis von Neurowissenschaften Psychoanalyse Philosophie und Ideologiekritik vermittels des Begriffs der Plastizitat neu zu denken Der Psychoanalytiker Kurt R Eissler war ebenfalls ein Verteidiger des Todestriebkonzeptes Freuds In seiner Schrift Todestrieb Ambivalenz Narzissmus argumentiert Eissler Der Todestrieb war sozusagen bereits da als die Kanale libidinoser Triebabfuhr sich entwickelten Weil der Lebensvorgang per se dem Todestrieb dient brauchte letzterer keine besonderen Abfuhrwege 7 Literatur BearbeitenSigmund Freud Jenseits des Lustprinzips 1920 in Studienausgabe Band III Psychologie des Unbewussten Fischer Frankfurt am Main 1975 ISBN 3 10 822703 3 S 213 272 Sigmund Freud Das Unbehagen in der Kultur 1930 Jacques Lacan Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten 1960 in Schriften II 3 korrigierte Auflage Quadriga Berlin Weinheim 1991 ISBN 3 88679 901 8 S 165 204 Erich Fromm Anatomie der menschlichen Destruktivitat Originaltitel The Anatomy of Human Destructiveness 1973 ubersetzt von Liselotte und Ernst Mickel Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1977 Erstausgabe DVA Stuttgart 1974 ISBN 3 499 17052 3 Peter Zagermann Eros und Thanatos Psychoanalytische Untersuchungen zu einer Objektbeziehungstheorie der Triebe WBG Darmstadt 1988 ISBN 3 534 03055 9 Dylan Evans Worterbuch der Lacanschen Psychoanalyse Turia und Kant Wien 2002 S 306 308 ISBN 3 85132 190 1 Wilhelm Reich Charakteranalyse Technik und Grundlagen fur studierende und praktizierende Analytiker Selbstverlag s l 1933 erweiterte Ausgabe Kiepenheuer amp Witsch Koln 1970 in beiden Kap Der masochistische Charakter Luigi De Marchi Der Urschock unsere Psyche die Kultur und der Tod Luchterhand Literaturverlag Darmstadt 1988 ISBN 3 630 88027 4 Weblinks BearbeitenLiteratur zum Thema Todestrieb im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Jochen Ehlers Zum Schicksal des Todestriebes in der Psychoanalyse Diplomarbeit Universitat Bremen 1995 Carl Nedelmann Turning a blind eye Ein Auge zudrucken Artikel aus Wissenschaft amp Frieden Heft 1 1986 Einzelnachweise Bearbeiten Wilhelm Reich Der masochistische Charakter Eine sexualokonomische Widerlegung des Todestriebes und des Wiederholungszwanges In Internationale Zeitschrift fur Psychoanalyse Band 18 1932 S 303 351 spater aufgenommen als Kapitel in Reichs Buch Charakteranalyse 1933 erw Fassung 1970 ff Sigmund Freud Kurzeste Chronik Tagebuch 1929 1939 Hrsg v Michael Molnar Frankfurt M Stroemfeld 1996 Eintrag vom 1 Januar 1932 Vgl dazu anonym Reich Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung sowie Karl Fallend Bernd Nitzschke Hrsg Der Fall Wilhelm Reich Suhrkamp Frankfurt am Main 1997 Luigi De Marchi Biografia di un idea Sugar Editore Milano 1970 XVII 568 S frz Ausgabe 1973 Luigi De Marchi Der Urschock unsere Psyche die Kultur und der Tod Luchterhand Literaturverlag Darmstadt 1988 S 16 Slavoj Zizek Parallaxe Frankfurt M Suhrkamp 2006 S 61 Kurt R Eissler Todestrieb Ambivalenz Narzissmus Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main ISBN 3 596 10568 4 S 27 f Normdaten Sachbegriff GND 4060307 6 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Todestrieb amp oldid 236671608