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Diffusionismus von lateinisch diffundere ausgiessen verbreiten Theorie der Kulturausbreitung bezeichnet eine Reihe sozial und kulturwissenschaftlicher Theorien zur Erklarung kultureller Entwicklung und Ausbreitung in Zusammenhang mit Ahnlichkeiten zwischen benachbarten und auch weit voneinander entfernt liegenden Kulturen Gesellschaften Eine Grundannahme dieser Forschungsansatze besagt dass kulturelle Neuerungen Innovationen weltweit nur selten erfunden werden und sich anschliessend zu anderen Kulturen ausbreiten Entsprechend werden Gleichheiten und Ahnlichkeiten zwischen verschiedenen Kulturen auf ihren Kontakt zueinander zuruckgefuhrt siehe auch Kulturtransfer und Homologie 1 Eine Skizze des Modells weltweiter von Agypten ausstrahlender kultureller Diffusion nach Grafton Elliot Smith als Beispiel fur den heliozentrischen Diffusionismus im fruhen 20 Jahrhundert Inhaltsverzeichnis 1 Klassischer Diffusionismus 2 Heliozentrischer Diffusionismus 3 Moderner Diffusionismus 4 Gegenpole 5 Kulturelle Diffusion in anderen Wissenschaften 6 Literatur 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseKlassischer Diffusionismus Bearbeiten nbsp Friedrich Ratzel 1844 1904 gilt als Begrunder des fruhen oder klassischen DiffusionismusDer Diffusionismus entwickelte sich Ende des 19 Jahrhunderts als Reaktion auf die Theorien des Evolutionismus der hohergerichteten Gesellschaftsentwicklung und spielte bis in die 1920er Jahre hinein als bedeutender Theoriestrang der Sozial und Kulturanthropologie eine wichtige Rolle in der deutschsprachigen Volkerkunde Ethnologie 2 Im angelsachsischen Sprachraum wurde dieser Theorieansatz als German School bezeichnet 3 Als Begrunder des Diffusionismus gilt der deutsche Zoologe und Geograph Friedrich Ratzel 1844 1904 2 4 Ein Vertreter des klassischen Diffusionismus war der deutsche Volkerkundler Leo Frobenius als Begrunder der Kulturkreislehre erstmals 1898 Sein Schuler Hermann Baumann ging von einer wechselseitigen Beeinflussung der Kulturen gegen Ende des 4 Jahrtausends v Chr im Gebiet zwischen Nil und Indus aus die einen Weltmythos schuf der sich spater in Wellen in verschiedene Regionen verbreitete Weitere Vertreter waren vor allem die sich in den 1920er Jahren entwickelnde Wiener Schule der Volkerkunde mit Wilhelm Schmidt und seinem Schuler Wilhelm Koppers ausserdem die Museumsethnologen Bernhard Ankermann Fritz Graebner William Halse Rivers und Clark Wissler Die Wiener Schule verwendete die grundlegenden Begriffe Urkultur Primarkultur Sekundarkultur wobei die Urkultur als wertvollste angesehen wurde die so genannten Kulturvolker im Vergleich dazu als degeneriert 5 Prominente Vertreter des Diffusionismus im Bereich der Archaologie der sogenannten Kulturhistorischen Archaologie waren Gustaf Kossinna 1858 1931 und Vere Gordon Childe 1892 1957 die versuchten den Ausbreitungsprozess und die Wanderungen der fruhen Indoeuropaer nachzuzeichnen Die Diffusionisten sahen kulturelle Innovationen als relativ seltene Ereignisse an und schatzten die Erfindungskraft des Menschen und den Einfluss von Umweltfaktoren auf kulturelle Techniken als allgemein eher gering ein Die grossen Kulturleistungen schrieben sie einigen wenigen kreativen Volkern zu durchaus stimmig zum Hintergrund des Geniekults dieser Zeit und Vorstellungen von der Uberlegenheit bestimmter Rassen Zur Rekonstruktion der Menschheits und Zivilisationsgeschichte griffen sie auf raumliche Erklarungsmuster zuruck Aus der Verbreitung von Kulturelementen im Raum erhoffte man sich Ruckschlusse auf die geographischen Bewegungen in der Zeit und so auf die Geschichte der Volker 5 Die Ubertragung kultureller Elemente oder Phanomene geschah nach dieser Theorie durch Volkerwanderungen Handels und Reisekontakte durch Missionierung oder durch die Eroberung durch ein fremdes Volk Oft war der extreme Diffusionismus auch bei manchen Nachfolgern Friedrich Ratzels mit rassistischen oder christlich fundamentalistischen Bedeutungsinhalten verbunden 6 da er zu einer Globalisierung des Eigenen neigte 7 sowie dazu die abendlandische oder spater die US Kultur als Zivilisationsbringer gegenuber den verharrenden aussereuropaischen Gesellschaften zu verabsolutieren siehe auch Eurozentrismus Der amerikanische Anthropologe Roland Burrage Dixon untersuchte die Schriften der fruhen Diffusionisten 1928 in seinem Werk The Building of Culture Er sah Kulturen als ganzheitliche statische Einheiten an die sich nur durch Wanderung verandern eine Position die keine Nachfolger fand Im Gegensatz dazu betrachtete der danische Ethnograph Thomas Thomsen 1870 1941 der Feldforschung bei den Inuit in Gronland und Kanada betrieb Kulturen als Ansammlung von materiellen Elementen und Artefakten die getrennt wandern konnen Jeder Vergleich der Entwicklung von Kulturen musse auf der Analyse ihrer einzelnen Elemente oder der Komplexe solcher Elemente beruhen Eine ahnliche Position nahm Kaj Birket Smith ein der die Verbreitung der zirkumpolaren Kultur der Rentierzuchter untersuchte und sowohl auf Wanderungen als auch auf die Diffusion einzelner teils seit dem Palaolithikum existierender Materialien und Artefakte zuruckfuhrte Bei der Beurteilung der Frage ob es sich bei einem Kulturelement um eine lokale Innovation oder um das Resultat eines Diffusionsprozesses handle griff auch Birket Smith auf geographische Aspekte zuruck 8 Die meisten Vertreter des Diffusionismus setzten keine einzelne Urkultur sondern lediglich eine begrenzte Anzahl von Kultur Zentren voraus Theorien die davon ausgehen dass sich alle kulturellen und technischen Innovationen von einem einzigen Ausgangspunkt herleiten lassen werden auch als Hyperdiffusionismus bezeichnet 9 Kritiker des Diffusionismus wie Adolf Bastian verwiesen auf die grosse Ahnlichkeit der Elementargedanken vieler Volker eine Vorstellung die auf die Archetypen C G Jungs verweist In ihren ursprunglichen Fachgebieten Anthropologie und Ethnologie Archaologie und Kulturgeographie werden diffusionistische Theorien des 19 und fruhen 20 Jahrhunderts nach wie vor kaum anerkannt teilweise auch tabuisiert 10 Heliozentrischer Diffusionismus BearbeitenAls heliozentrischer Diffusionismus werden historische Theorien bezeichnet deren Vertreter das Alte Agypten als Wiege der menschlichen Kultur sahen So habe die agyptische Kultur eine Reihe von Zivilisationen befruchtet die alle die Sonne als Hauptgottheit verehren 11 Vertreter waren beispielsweise der Australier Grafton Elliot Smith 1871 1937 und der Brite William James Perry 1887 1949 Moderner Diffusionismus BearbeitenDem modernen Diffusionismus werden eine Reihe unterschiedlicher Theorien zugeordnet die nicht mehr vorrangig der Ausbreitung dominanter Kulturen durch Eroberung oder Landnahme grosse Bedeutung als Treibkraft kultureller Entwicklung beimessen sondern der Kontaktaufnahme und Interaktion fruher isolierter Kulturen auch uber weite Raume hinweg beispielsweise durch die Uberquerung des Pazifik Ein bekannter Vertreter war der norwegische Forscher Thor Heyerdahl 1914 2002 Gemassigt diffusionistische Theorien vertrat der britische marxistische Archaologietheoretiker Vere Gordon Childe 1892 1957 der zunachst den Theorien Gustaf Kossinnas folgte sie dann aber wegen ihrer rassistischen Bedeutungsinhalte kritisierte und der internen Entwicklungsdynamik und Differenzierung der fruhen Gesellschaften eine grossere Bedeutung im Vergleich zu Wanderungen und asymmetrischen Kulturkontakten beimass Entwicklungsstufen der menschlichen Kultur waren fur ihn keine dinglichen Realitaten sondern geistige Sinnzusammenhange oder Ordnungsstrukturen deren Grundlagen zu erfassen seien 12 In Abgrenzung zu linear rassistischen Evolutionstheorien benutzte Childe die Begriffe neolithische Revolution und urbane Revolution 13 Gegenpole BearbeitenIm Gegensatz zum Diffusionismus stehen Theorien der soziokulturellen Evolution des Evolutionismus und der Memetik Verbreitung von Bewusstseinsinhalten Eine mittlere Position zwischen diffusionistischen und evolutionistischen Theorien vertritt das Konzept der Kontaktinnovation an der Grenzlinie zwischen zwei Kulturen das beispielsweise in der Sprachwissenschaft und Archaologie eine Rolle spielt 14 15 So sind bspw alle diffusionstheoretischen Versuche die Entstehung der alten westafrikanischen Konigreiche auf Diffusionsprozesse der Kultur des Reichs von Kusch etwa durch die Verbreitung der Staatsidee durch berittene Kriegereliten fehlgeschlagen wahrend sie John Donnelly Fage und Roland A Oliver mit den fruchtbaren Kontakten zwischen Ackerbauern und Nomaden erklaren 16 Dabei wirken interkulturelle Unterschiede zwar als Hemmnisse der Diffusion der jeweiligen Kulturelelemente befordern aber das Tempo von Erfindungen und Neuerungen an den Grenzlinien zwischen Kulturen und bewirken emergente Eigenschaften spontane Herausbildungen Unklar ist ob und wie solche Diffusionsprozesse ohne sprachliche Verstandigung moglich sind Kulturelle Diffusion in anderen Wissenschaften BearbeitenUnter dem Gesichtspunkt der Verbreitung von Innovationen hat sich die Beschaftigung mit kulturellen Diffusionsprozessen in angrenzenden Fachwissenschaften zu einem selbstverstandlichen Gegenstand der Forschung entwickelt beispielsweise Diffusionstheorien bezuglich sozialer Systeme oder Markte 17 Dazu gehoren vor allem die Agrarokonomie und Agrarsoziologie die Wirtschaftsgeographie Politikwissenschaft Diffusion Erziehungswissenschaft und die Geschichtswissenschaft 18 Mit Ausnahme Letzterer schliesst die Forschung auch die Betrachtung von Gesellschaften unter der Fragestellung ein wie sie dahingehend beeinflusst werden konnen Innovationen vorzunehmen sowie die Vorhersage der Ergebnisse solcher Neuerungen beispielsweise bezuglich Technologietransfer 9 Literatur BearbeitenR Bernbeck Theorien in der Archaologie Francke Tubingen 1997 ISBN 3 8252 1964 X D Jones Kinship and Deep History Exploring Connections between Culture Areas Genes and Language In American Anthropologist Band 105 Nr 3 2003 S 501 514 T Jones K Klar Diffusionism Reconsidered Linguistic and Archaeological Evidence for Prehistoric Polynesian Contact with Southern California In American Antiquity Band 70 Nr 3 2005 S 457 484 Y Kashima Culture as Interpersonal Process In Psychological Sciences University of Melbourne 2011 Y Kashima A Social Psychology of Cultural Dynamics How Cultures are Formed Maintained and Transformed In Social and Personality Psychology Compass Band 2 2008 S 107 120 A Korotayev A Kazankov Regions Based on Social Structure A Reconsideration or Apologia for Diffusionism In Current Anthropology Band 41 Nr 4 2000 S 668 690 Martin Rossler Die deutschsprachige Ethnologie bis ca 1960 Ein historischer Abriss In Kolner Arbeitspapiere zur Ethnologie Band 1 Institut fur Volkerkunde Universitat Koln 2007 S 7 19 PDF Download moglich Everett M Rogers Diffusion of Innovations 5 Auflage Free Press New York 2003 ISBN 0 7432 2209 1 original 1962 Weblinks BearbeitenChristine Pellech Migration amp Diffusion Eigene Webseite abgerufen am 23 Juli 2014 englisch Online Journal mit Beitragen aus dem Bereich des modernen Diffusionismus Einzelnachweise Bearbeiten Vergleiche Fritz Stolz Grundzuge der Religionswissenschaft 3 Auflage Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 2001 ISBN 3 8252 1980 1 S 197 198 a b Tamara Neubauer Welche Rolle spielen kulturelle Differenzen in der Sozial amp Kulturanthropologie Studienarbeit zur Vorlesung von Franz Martin Wimmer Interkulturelle Philosophie Einfuhrung Wien Wintersemester 2003 2004 PDF Datei 212 kB 10 Seiten Frank Heidemann Ethnologie Eine Einfuhrung Gottingen 2011 S 56 Vergleiche Friedrich Ratzel Anthropogeographie Grundzuge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte Stuttgart 1882 Friedrich Ratzel Anthropogeographie Teil 2 Die geographische Verbreitung des Menschen Stuttgart 1891 a b Wilhelm Pratscher Robert Schelander Wiener Jahrbuch fur Theologie 2012 V amp R unipress 2012 S 146 Vergleiche James M Blaut The Colonizer s Model of the World Guilford New York 1993 englisch Joachim Matthes Zwischen den Kulturen Schwartz Gottingen 1992 S 7 Kaj Birket Smith Kulturens Veje Kopenhagen 1948 a b Michael Goldstein Gail King Meghan Wright Diffusionism and Acculturation Memento des Originals vom 27 Dezember 2016 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot anthropology ua edu Department of Anthropology University of Alabama 2009 abgerufen am 23 Juli 2014 englisch Victor H Mair Cultural Diffusion Resolution In Science Encyclopedia Net Industries ohne Datum abgerufen am 23 Juli 2014 englisch Antje Majewski Im Mumienland Memento vom 23 November 2011 im Internet Archive Eigene Webseite ohne Datum Fussnote 8 abgerufen am 23 Juli 2014 die Agypter eine Reihe von Zivilisationen befruchtet haben die alle die Sonne als Hauptgottheit verehren Ralf Gleser Zur Idee von Vor und Fruhgeschichte als historischer Wissenschaft In Forschungsmagazin der Universitat des Saarlands Heft 2 2007 S 42 ff Eintrag V Gordon Childe In Encyclopaedia Britannica Abgerufen am 23 Juli 2014 englisch Jacek Fisiak Linguistic Change under Contact Conditions Gruyter Berlin 1995 Assaf Yasur Landau Old Wine in New Vessels Intercultural Contact Innovation and Aegean Canaanite and Philistine Foodways In Journal of the Institute of Archaeology of Tel Aviv University Band 32 Nr 2 September 2005 S 168 191 24 englisch Roland A Oliver John Donnelly Fage A short History of Africa London 1988 S 37 f Everett M Rogers Diffusion of Innovations 5 Auflage Free Press New York 2003 ISBN 0 7432 2209 1 englisch original 1962 Anmerkung Rogers geht davon aus dass die Entscheidung zur Ubernahme von Innovationen nicht primar von ihrer Bekanntheit sondern vor allem von interpersonaler Kommunikation abhangt Allein durch Information konne die Innovation eine Kulturschwelle nicht uberspringen Peter J Hugill Diffusion In David Levinson Melvin Ember Hrsg Encyclopedia of Cultural Anthropology Holt New York 1996 S 343 englisch Normdaten Sachbegriff GND 1245125915 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Diffusionismus amp oldid 232785307